Die zwei Seelen des Organizing
Linke und die Erneuerung der Gewerkschaften – eine Antwort auf Slave Cubela
Von Florian Wilde und Fanny Zeise
In ak 677 hat Slave Cubela einen Text mit »Überlegungen zur Situation von Organizing in Deutschland« vorgelegt, in dem er die Organizing-Szene auffordert, »politisch deutlicher als bislang Farbe zu bekennen« und sich für ein »post-sozialdemokratisches Organizing« ausspricht. Auch wenn wir manche Beobachtung des Autors teilen: Seine strategischen Vorschläge erscheinen uns oft unkonkret und hilflos, und insoweit sie auf eine Abkehr von der Arbeit in Massenorganisationen hinauslaufen sollten, auch gefährlich. Wir wollen dagegen die Perspektive stark machen, als Linke in den Gewerkschaften um ihre Erneuerung zu kämpfen.
Dass auch in der gesellschaftlichen Linken eine Debatte über gewerkschaftliches Organizing und die Perspektiven einer innergewerkschaftlichen Durchsetzung linker und offensiver Strategien an Fahrt aufnimmt, ist sehr zu begrüßen, weil unbedingt notwendig: Denn die Organisationen der Arbeiter*innenbewegung sind geschwächt und befinden sich in einer historischen Krise. Vor diesem Hintergrund erscheint uns als zentrale Aufgabe linker Politik unserer Zeit, die Macht der arbeitenden Klasse wieder aufbauen. Ein wichtiges Instrument ist dabei Organizing.
Mit den Begriff Organizing kamen vor ca. 15 Jahren Ansätze eines strukturierten und offensiven Herangehens an Gewerkschaftsarbeit über die US-Gewerkschaften nach Deutschland. Es erwies sich allerdings nicht als einfacher Heilsbringer – schon allein, weil unter dem Begriff viele verschiedene Konzepte und Methoden mit unterschiedlichen politischen Implikationen firmieren. Tatsächlich angewandte Methoden und konkrete Umsetzung standen in engem Zusammenhang mit den jeweiligen innergewerkschaftlichen Kräfteverhältnissen, den unterschiedlichen Rahmenbedingungen verschiedener Branchen und der vorherrschenden Gewerkschaftsstrategie. Linke Gewerkschaftsarbeit muss daher auch über Organizing hinaus auf eine umfassende Erneuerung der Gewerkschaften abzielen.
Gewerkschaften sind mehr als Sozialdemokratie
Um Gewerkschaften erneuern, verändern und damit stärken zu können, ist ein differenzierter Blick auf sie wichtig. Wer sie, wie Slave Cubela, monolithisch mit dem Begriff Sozialdemokratie bezeichnet, übersieht schnell Entwicklungen und Bruchlinien der jüngeren Vergangenheit.
Durch die Implosion des Ostblocks, den Siegeszug des Neoliberalismus und die Globalisierung wurden die Arbeiter*innenbewegung und ihre Gewerkschaften auch in den alten industriellen Zentren fundamental geschwächt: Die Mitgliederzahlen brachen ein, betriebliche Mitbestimmung und Tarifbindung erodierten und in der Folge stagnierten die Löhne oder sanken sogar real. In dieser gewerkschaftlichen Defensivsituation entwickelte sich die früher von vielen kleinen und größeren Konflikten durchbrochene und getragene »Sozialpartnerschaft« mit den Unternehmen hin zu einer Strategie des Co-Managements von Betriebsräten und Gewerkschaften, sofern die Zusammenarbeit seitens der Arbeitgeber nicht gleich vollständig aufgekündigt wurde.
Der Rechtsschwenk der SPD und ihre Komplizenschaft mit dem Neoliberalismus (Agenda 2010 etc.) beförderte diese Prozesse, führte jedoch auch zur Entstehung der Linkspartei, in der sich linke Sozialdemokrat*innen, Sozialist*innen und Kommunist*innen gemeinsam mit vielen Gewerkschaftesaktiven organisieren. Sie ist unter anderem aus der Abwendung von Teilen der Gewerkschaften von der SPD hervorgegangen und bietet linken Gewerkschafter*innen neue Räume für Debatten und alternative politische Orientierung. Slave Cubela übersieht diese Brüche und die sich aus ihnen ergebenden Spielräume, wenn er Linkspartei, SPD und Gewerkschaften gleichermaßen quasi als »eine reaktionäre Masse« (Lassalle) deutet und sie alle unter »Sozialdemokratie« subsumiert. Zugleich verwischt er damit auch die vielfältigen innergewerkschaftlichen Auffassungen und Auseinandersetzungen um die gesellschafts- aber vor allem gewerkschaftspolitische Ausrichtung ihrer Organisationen.
Trotz der politischen Entmachtung der Gewerkschaften, der Deregulierung des Arbeitsmarktes und des Erstarkens der Arbeitgeber verharrten die Gewerkschaften lange in Gefolgschaft der SPD. Jedoch führte die bedrohliche, von Niederlagen und Mitgliederschwund gezeichnete Situation auch zu den ersten Organizing-Experimenten und vitalisierte in diesem Kontext die Diskussionen um neue Strategien und eine umfassende gewerkschaftliche Erneuerung.
Die Spielräume nutzen
Organizing-Projekte können, wie von Cubela dargestellt, einfach nur dazu dienen, die Mitgliederverluste auszugleichen, ohne dabei die für den Verlust mitverantwortliche Gewerkschaftsstrategie anzutasten und mögen in diesem Sinne als »Sandsäcke gegen den Neoliberalismus«, wie er schreibt, fungieren. Allerdings: In Anbetracht der Schwäche und Defensive der Gewerkschaften wären funktionierende Sandsäcke und eine Stärkung der Organisationsmacht durch neue Mitgliedergewinne bereits ein großer Erfolg und ein erster Schritt zum Wiederaufbau der Macht der arbeitenden Klasse, den wir daher auch als Linke mitgehen sollten.
Aber Organizing enthält immer auch das Potenzial für mehr und ist daher aus der Perspektive sozialpartnerschaftlich dominierter Gewerkschaftsvorstände ein durchaus zweischneidiges Schwert: Da es beim Organisieren am Konflikt ansetzt, enthält es immer Momente der Selbstermächtigung und des Machtaufbaus von Beschäftigten. Es kann damit sowohl bloßer Sandsack, als auch ein Sprungbrett hin zu einer neuen Offensive sein, die auf gestärkter betrieblicher Verankerung fußt, und damit zu einer Veränderung und Erneuerung der Gewerkschaften beitragen.
Eben wegen dieser doppelten Potenziale waren der Einsatz von Organizing an sich wie auch seine jeweiligen Methoden lange Zeit hart umkämpft. Heute ist – angesichts einer Vielzahl von Organizing-Projekten – vornehmlich seine konkrete Ausgestaltung strittig. Wie offensiv darf der begleitete Konflikt sein? Verharrt Organizing in Stellvertreterpolitik oder können nachhaltige, emanzipatorische und demokratische Prozesse dadurch angestoßen werden? Ist Organizing ein Werkzeugkasten, um auf innovative Weise weiße Flecken und prekäre Bereiche zu erschließen, während im strategisch bedeutsamen »Kerngeschäft« weiterhin auf Moderation statt auf Konflikt gesetzt wird? Dabei wird deutlich: Der Anspruch, mit Organizing die konkrete Praxis der Gewerkschaften in Betrieb oder Büro grundlegend zu verändern, lässt sich nur einlösen, wenn sich die Gesamtorganisation ebenfalls ändert und sich von Co-Management und Stellvertretung löst. Darum ist Organizing von gewerkschaftlicher Erneuerung auch nicht zu trennen.
Organizing enthält immer auch das Potenzial für mehr und ist daher aus der Perspektive sozialpartnerschaftlich dominierter Gewerkschaftsvorstände ein zweischneidiges Schwert.
Um die aus der Zeit gefallene und zunehmend ins Leere laufende sozialpartnerschaftliche Strategie politisch herauszufordern, braucht es über das Organizing hinaus perspektivisch den Aufbau einer neuen, linken, offensiven Strömung in den Gewerkschaften. Debatten über erfolgreiche, offensive, emanzipatorische, politische und internationalistische Ansätze der Gewerkschaftsarbeit haben längst begonnen, nicht zuletzt durch die Diskussionen um Organizing selbst. Sie können auch deshalb stattfinden, weil sich linke Gewerkschaftsaktive in den Gewerkschaften und Betrieben sowie in Zeitschriften und auf Veranstaltungen dazu austauschen, vernetzen und voneinander lernen – auch, weil Linkspartei und Rosa-Luxemburg-Stiftung neue Räume für diesen Austausch geschaffen haben.
In stärkerem Maße als bisher gilt es dabei, sich ernsthaft der Analyse von Gewerkschaften zu widmen und an bestehende linke Debatten anzuknüpfen. Angesichts des schon von Karl Marx beschriebenen Doppelcharakters der Gewerkschaften, die sowohl als Gegen- als auch als Ordnungsmacht fungieren, wäre es ebenso falsch, sich enttäuscht von ihnen abzuwenden, wie ihre aktuelle strategische Ausrichtung als unveränderbar anzusehen. Dass Spielräume vorhanden sind und teilweise auch von linken Gewerkschaftsaktiven erfolgreich genutzt werden konnten, zeigen u.a. die Auseinandersetzungen um die Durchsetzung von Personalbemessung im Krankenhaus per Tarifvertrag, um die Sozialtarifverträge in der IG Metall und die Bemühungen um eine Übernahme von Organizing-Methoden in die gewerkschaftliche Regelarbeit. Hier konnten Veränderungen erreicht werden, die auch über den einzelnen Konflikt hinaus bereits zu einer Erneuerung von Gewerkschaftspraxis und -strategie beigetragen haben.
Abkehr von Gewerkschaften ist Selbstaufgabe
So erfreulich und inspirierend die von Cubela als Beispiele eines »post-sozialdemokratischen Organizing« angeführten Workers Center und Polikliniken auch sein mögen: Wenn wir den Neoliberalismus schlagen und (öko-)sozialistischen Strategien eine gesellschaftliche Relevanz verschaffen wollen, müssen Linke politisch um die vielen Millionen, die in den Gewerkschaften organisiert sind, kämpfen. Denn die notwendigen, großen Veränderungen einer sozial-ökologischen Transformation werden nur durchsetzbar sein, wenn sie gewerkschaftliche Mehrheiten finden und dadurch auch gesellschaftlich legitimiert werden können. Angesichts elementarer Bedrohungen wie dem Klimawandel, dem Erstarken der Rechten und Verarmung zunehmender Teile der Bevölkerung würde eine Abkehr von den Gewerkschaften auf eine linke Selbstaufgabe hinauslaufen.
Anstatt die Gewerkschaften einfach in Bausch und Bogen als Sozialdemokratie abzutun oder sich Organizing-Nischen außerhalb von ihnen zu suchen, sollten linke Organizer*innen und Gewerkschafter*innen sich vernetzen und in den bestehenden Gewerkschaften um sie und für sie kämpfen. Mit einer solchen Perspektive wird Organizing nicht einfach nur den Status quo durch Mitgliedergewinne zementieren, sondern zu einer echten Erneuerung und Stärkung der Gewerkschaften mit dem Ziel einer emanzipatorischen Veränderung der Gesellschaft beitragen können.