»Die Täter sind verantwortlich, ihr Handeln zu beenden«
Die Interventionistische Linke hat einen internen Leitfaden zum Umgang mit sexualisierter Gewalt veröffentlicht
Interview: Carina Book
Im Interview erklären die Aktivistinnen Laura und Simone, was sich hinter dem Leitfaden verbirgt und welche Erfahrungen sie damit gemacht haben.
Ihr habt einen Leitfaden zum Umgang mit sexualisierter Gewalt öffentlich gemacht. Wie ist es dazu gekommen, dass ihr diesen Leitfaden entwickelt habt?
Simone: Es gab leider konkrete Vorfälle, die in IL-Gruppen stattgefunden haben. Wir waren mit dem Umgang damit nicht zufrieden. Wir haben dann gemerkt, dass wir Konzepte brauchen, um auf solche Vorfälle vorbereitet zu sein und irgendwie mit sexistischer Gewalt umgehen zu können.
Laura: Sexualisierte Gewalt und Übergriffe finden immer überall statt. Ich glaube, es ist wichtig, so einen Leitfaden zu haben, den man zwar nicht immer komplett Schritt für Schritt anwenden kann. Aber ein Austausch über Erfahrungen und Hilfestellungen scheint uns für alle wichtig zu sein.
Wenn man den Leitfaden liest, bekommt man den Eindruck, dass er leiderprobt ist. Wie sind eure Erfahrungen mit diesem Leitfaden?
Simone: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es wahnsinnig wichtig ist, dass Menschen zum Beispiel in linken Gruppen dauerhaft und institutionalisiert ansprechbar sind für das Thema sexistische Gewalt. Wir nennen das Ansprechgruppe. Nach unserer Erfahrung fällt es Betroffenen dadurch leichter, eine Gewalterfahrung zu thematisieren. Fälle, die sonst wahrscheinlich im Verborgenen geblieben wären, werden eher ausgesprochen.
Laura: Der erste Schritt als Ansprechgruppe ist zu klären, was die Bedürfnisse der betroffenen Person sind und was sie akut braucht. Falls sie zum Beispiel Schutz braucht, versuchen wir einen Schutzraum herzustellen. Das kann auch heißen, den Täter erstmal ohne weitere Diskussion auszuschließen. Es ist aber auch klar, dass nur das passiert, was die Betroffene möchte. Es kann also sein, dass erstmal gar nichts weiter unternommen wird. Die Anwendung des Leitfadens ist kein Automatismus. Wenn wir aber nach dem Leitfaden vorgehen, richten wir verschiedene Gruppen ein: die Unterstützer*innengruppe und die Kontaktgruppe, die in Kontakt mit dem Täter tritt. Sie bezieht auch das Umfeld des Täters in ihre Arbeit ein. Bei der Kontaktgruppe ist es besonders wichtig, dass sie in ständiger Absprache mit der Unterstützer*innengruppe ist. Es muss klar sein, dass die Kontaktgruppe solidarisch mit der betroffenen Person handelt.
Laura und Simone
sind in der InterventionistischenLinken in Hamburg organisiert.Sie hoffen, dass die Veröffentlichung des Leitfadens zum Umgang mit sexualisierter Gewalt zur Diskussion anregt.
Simone: Schwierig ist, dass es trotzdem nur ein Leitfaden ist und Menschen ihn umsetzen müssen. Es erspart nicht die Auseinandersetzung mit dem Thema, die jeder einzelne Genosse und jede einzelne Genossin führen muss.
Ihr betont, dass die Bedürfnisse der Betroffenen im Vordergrund stehen. Zum Beispiel schreibt ihr an einer Stelle, dass ein Übergriff niemals ohne Einwilligung der Betroffenen offengelegt werden darf. Kommt man da nicht in ein moralisches Dilemma? Was wäre denn, wenn weitere Übergriffe passieren?
Simone: Wir haben darüber viel diskutiert. Zum einen wäre es eine Verantwortungszuweisung an die falsche Person. Die Täter sind verantwortlich, ihr Handeln zu beenden. Es kann nicht sein, dass eine Betroffene zum Handeln genötigt wird, um andere zu schützen. Es ist die Aufgabe des Täters und nicht der Betroffenen. Das ist dieselbe Argumentation, wenn Betroffenen gesagt wird: Du musst Anzeige erstatten. Was aber bei dieser Aufforderung nicht beachtet wird, ist, was passiert, wenn ein Vorfall öffentlich gemacht wird. Denn Betroffene von sexistischer Gewalt werden nach wie vor von der Gesellschaft und auch in der linken Szene dafür bestraft, dass sie öffentlich machen, was sie erlebt haben. Es gibt jede Menge Mythen und Vorwürfe, die Betroffene zu hören bekommen. »Das ist ja übertrieben«, oder: »Das stimmt nicht«, »falsche Kleidung angehabt«, »zu viel getrunken«, »selber Schuld« und so weiter. Solche Vorwürfe verstärken bei Betroffenen Gefühle von Scham, Schuld und Isolation, mit denen sie ohnehin nach erlebter Gewalt zu kämpfen haben. Das erschwert die Verarbeitung des Erlebten massiv.
Es ist also Aufgabe des Täters, sein Verhalten zu ändern. An anderer Stelle schreibt ihr, dass ihr auch Täterarbeit macht. Was heißt das?
Laura: Wir glauben, dass es in unserer politischen Verantwortung liegt, dass wir auch auf den Täter zugehen. Denn wenn der Täter einfach nur ausgeschlossen wird, verändert sich nichts. Täter von sexualisierter Gewalt sind auch nicht irgendwelche »Unbekannten«, sondern sie sind oder waren unter Umständen mit uns befreundet. Deswegen ist es auch wichtig, in die Reflexion mit dem Täter zu gehen. Dabei kommt es natürlich auf die Bereitwilligkeit des Täters an, in den Prozess mit einzusteigen.
Im Spanner-Fall beim Festival Monis Rache wurde ja auch von Täterarbeit und »transformative justice« gesprochen. Das scheint ziemlich krachend gescheitert zu sein. Was waren da die Fallstricke?
Laura: Das Problem beim Vorfall bei Monis Rache ist, dass es potenziell tausende Betroffene gibt und das Konzept der transformative justice davon ausgeht, im Sinne der betroffenen Personen zu handeln. Erst dann wird der Reflexionsprozess beim Täter angeregt. Nur so kann er einsehen, was er getan hat. Das Problem in diesem Fall ist, dass anfänglich überhaupt nicht auf die Betroffenen zugegangen worden ist. Klar ist es schwierig herauszufinden, was die Bedürfnisse von potenziell tausenden Betroffenen sind, aber wenn man nicht mal danach fragt, kann man es auch nicht herausfinden. Es war falsch, zuerst mit dem Täter in Kontakt zu treten. Die Gefahr in der Arbeit mit Tätern ist auch immer, die Parteilichkeit mit den Betroffenen zu verlieren. In diesem Fall war es wohl so, dass die Kontaktgruppe aus seinem engen sozialen Umfeld kam und der Täter die Möglichkeit hatte, Beweise zu vernichten. Das ist einfach fatal. Das ist keine parteiliche Arbeit auf Seiten der Betroffenen.