analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 687 | International

»Die Bürokraten sind die neuen Könige«

Wie sich Krieg und Mobilmachung auf das Leben russischer Arbeiter*innen auswirken – Stimmen aus der Autoindustrie und dem Schiffbau

Von Azamat Ismailov

Eine Werbetafel für ein Auto, dahinter ein Mann, mehrere Busse und mehrere Gebäude
Die mögliche Freistellung der Arbeiter*innen vom Militär ist zu einem mächtigen Disziplinierungsinstrument der Unternehmen geworden. Werbetafel vor dem Verwaltungsgebäude der größten russischen Autofabrik AvtoVAZ in Toljatti. Foto: Mstyslav Chernov / Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Vor dem Krieg wurden in der russischen Großindustrie zwar nicht üppige, aber »weiße« (legale) und verlässliche Löhne gezahlt, was den Arbeiter*innen ein im Großen und Ganzen erträgliches Leben ermöglichte. Sanktionen, unterbrochene Lieferketten und andere wirtschaftliche Folgen des Krieges haben die Industrie jedoch hart getroffen.

Zu den am stärksten betroffenen Sektoren gehört die Autoindustrie. Ihre Abhängigkeit von ausländischem (vor allem westlichem) Kapital, Technologie und Komponenten hat bereits in den ersten Monaten der »Spezialoperation« zu einer tiefen Krise geführt. Nach Rosstat-Daten vom August ist die PKW-Jahresproduktion um 70 Prozent geschrumpft.

Autofabriken, die sich im Besitz transnationaler Konzerne befinden, wurden geschlossen oder die Produktion auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, die Folge für die Arbeiter*innen sind endlose, nur teilweise bezahlte Ausfallzeiten. Tausende Autoarbeiter*innen, die bis vor kurzem noch als relativ wohlhabender Teil der Arbeiter*innenklasse galten, müssen nun den Gürtel enger schnallen.

»Sankt Petersburg hat nach dem 24. Februar sehr gelitten. Die lokale Autoindustrie, die hauptsächlich aus ausländischen Unternehmen besteht, ist fast zerstört. Toyota hat geschlossen, Nissan und Hyundai stehen still. Die Arbeiter bekommen seit Februar nur noch zwei Drittel ihrer Löhne (von etwa 50–60.000 Rubel pro Monat). Alle, mit denen wir gesprochen haben, beklagen sich über die Preise; alle stehen unter dem Druck von Krediten«, sagt Mikhail (Name auf Wunsch geändert), ein Koordinator eines überregionalen gewerkschaftlichen Aktivist*innennetzwerks.

Die bislang versteckte Arbeitslosigkeit könnte bald sichtbar werden. Angesichts des zunehmend blutigen und langwierigen Krieges werden ausländische Konzerne die Autoproduktion nicht wieder aufnehmen.

Wie ist die Lage in anderen Großunternehmen, die auf importierte Komponenten angewiesen sind, zum Beispiel im Schiffbau? »In den ersten drei Monaten nach Februar hat die Geschäftsführung der Petersburger Werften Arbeitsplätze abgebaut, wenn auch in geringem Umfang. Einige internationale Projekte, wie die Produktion von Fischereischiffen für die Norweger auf der Admiralitätswerft, wurden eingestellt. Es stellte sich heraus, dass viele Komponenten und ein Großteil der Ausrüstung importiert werden mussten: Schweißmaschinen, Kabelkanäle, Kabelbündel. Sie sind nicht leicht zu ersetzen«, erklärt Mikhail.

Die hastige Substitution zuvor importierter Teile wirkt sich auf die oft leistungsabhängigen Gehälter der Schiffsbauer aus und macht ihre Arbeit gefährlicher. »Früher hatten wir eine importierte Schweißmaschine, die mit absoluter Präzision arbeitete. Jetzt verwenden wir eine Maschine aus dem Ural, die eine Menge Fehler produziert. (…) Aufträge werden nicht rechtzeitig fertig. Auf der Admiralitätswerft hat kürzlich ein Schiff Feuer gefangen. Unseren Quellen zufolge war brennbarer Klebstoff die Ursache. Zuvor wurde importierter Leim verwendet, der nicht brennbar war«, so ein Gewerkschafter.

Das Rekrutierungsbüro behandelt uns wie Tiere, nennt uns Ramschware, rekrutiert wahllos. Es ist, als ob sie uns für die Schlachtung vorbereiten würden.

Fabrikarbeiter aus St. Petersburg

Staatliche Aufträge, auch militärische, halten den Petersburger Schiffbau über Wasser. »Es gibt einige große Aufträge, zum Beispiel den nuklearen Eisbrecher Jakutien in der Baltischen, die Reparatur von Militärschiffen und einige Fischtrawler bei der Admiral. (…) Wir haben Arbeit, aber kaum Perspektiven. Es gibt keine neuen Aufträge, niemand weiß, was zu tun ist«, beschreibt Mikhail die Stimmung der Arbeiter*innen.

Beschäftigte der Schieneninstandhaltung haben ähnliche Sorgen. Wie in der Luftfahrt hat auch in ihrer Branche das begrenzte Angebot an importierten Ersatzteilen zu sogenanntem technologischen Kannibalismus geführt. »Unsere Dontschak-Diesellokomotiven haben westliche Elektronik. Gleich zu Beginn des Sondereinsatzes schlug das Depot, in dem sie gewartet werden, Alarm: Wir haben nur noch Ersatzteile für zwei oder drei Monate! Einige Lokomotiven werden zerlegt, wir bauen aus zwei Lokomotiven eine funktionstüchtige zusammen«, sagt der Eisenbahner Denis (Name geändert) aus Wolchow, einer Industriestadt in der Region Leningrad. Denis und seine Kolleg*innen befürchten, dass sich die Umleitung des Schienenverkehrs von West nach Ost auf ihren ohnehin schon mageren Verdienst von 20–25.000 Rubel pro Monat auswirken wird.

Die Arbeiter*innen in der Rüstungsindustrie haben diese Probleme nicht, denn aus naheliegenden Gründen haben die Betriebe ihre Produktion gesteigert. »In Omsk hat das staatliche Unternehmen Omsktransmash bis zu 6.000 neue Arbeitsplätze angekündigt, obwohl das Werk vor Februar nicht in bester Verfassung war. In der Reifenfabrik sind 1.000 oder 2.000 Stellen offen. Alle Eingänge zu den Wohnblocks waren mit Stellenanzeigen bedeckt«, erinnert sich Mikhail. In Tatarstan stellen die Rüstungsbetriebe Arbeiter*innen und Ingenieure zu hohen Gehältern ein (80.000 bis 120.000 Rubel im Monat), dazu kommen alle möglichen Vergünstigungen und Freistellungen von der Armee.

Für die Beschäftigten der Rüstungsbetriebe gibt es aber nicht nur das Zuckerbrot, sondern auch die Peitsche: Einem Regierungserlass zufolge können sie gezwungen werden, täglich vier Überstunden zu machen; sie dürfen keinen Urlaub nehmen, wenn das Unternehmen den staatlichen Verteidigungsauftrag nicht erfüllt.

Arbeiter*innen und Krieg

Die meisten Arbeiter*innen, mit denen Posle sprach, glauben der staatlichen Propaganda. Zumindest vor der Ankündigung der Mobilisierung. »Wir führen einen gerechten Krieg«, »Die Nato greift uns an, was können wir tun?«, »Ja, die Ukrainer tun mir leid. Nein, wir wollen sie nicht umbringen. Wir sind keine Faschisten. Wir lieben die Ukrainer. Sie sollten hierher ziehen. Aber wir müssen die Faschisten vernichten«, fasst Mikhail die Meinung der Schiffbauer im Frühjahr zusammen.

»Als die Spezialoperation begann, waren die Leute in unserem Team gespalten. Die Jüngeren sind größtenteils gegen den Krieg – natürlich mit Ausnahme derer, die mit der lokalen Verwaltung und der Partei Einiges Russland zu tun haben. Aber sie haben Angst, zu Kundgebungen zu gehen. Die Älteren unterstützen den Krieg entweder passiv oder äußern sich neutral: ›Das ist Politik, da mische ich mich nicht ein‹, ›Geht mich nichts an‹«, sagt der Eisenbahner Denis.

Laut Alexey (Name geändert), einem Arbeiter im mit 30.000 Beschäftigten größten russischen Automobilwerk, dem AvtoVAZ-Werk in Toljatti, erhielten viele seiner Kolleg*innen seit Kriegsbeginn Nachrichten über den Tod oder die Verwundung von Bekannten, die in der Ukraine kämpften (viele Arbeiter kommen aus denselben strukturschwachen Städten und Dörfern wie die meisten Soldaten). »Wir reden die ganze Zeit über den ›Nicht-Krieg‹. Die meisten käuen die offizielle Propaganda wieder und streuen Geschichten über Verwandte und Freunde ein. Sie sprechen auch über die Toten. Die Verluste haben den Hass auf die Ukrainer nur verstärkt«, erzählt ein VAZ-Mitarbeiter.

Alexey selbst hat sich seit den ersten Tagen der Invasion gegen den Krieg ausgesprochen, aber ist inzwischen desillusioniert. »Ich streite nicht mehr. Manchmal verlasse ich den Aufenthaltsraum, wenn die Kollegen über die neuesten Nachrichten von der Front diskutieren. (…) Ich bin ausgebrannt«, erklärt er.

Bislang haben die meisten Arbeiter*innen (wie auch die Bevölkerung insgesamt) den Krieg, wenn überhaupt, nur passiv unterstützt. Die Versuche der Behörden, Arbeiter als Freiwillige zu rekrutieren, hatten nur bescheidenen Erfolg. »Vor der Mobilisierung gingen sie durch die Werkstätten der Wolchow-Betriebe und warben um Freiwillige: ›Wenn Sie sich freiwillig melden, bleibt Ihr Arbeitsplatz bis zu Ihrer Rückkehr erhalten.‹ Einige fielen darauf rein, aber nur sehr wenige. Die meisten Freiwilligen sind Fanatiker, die wirklich an all das (Anm.: die offizielle Propaganda) glauben. Andere antworten: ›Scheiß drauf‹ oder ›Wenn sie uns offiziell einberufen, gehen wir‹«, sagt Denis.

Wie Arbeiter*innen auf die Mobilisierung reagieren

Seit Putin die »Teilmobilmachung« verkündet hat, ist eine »Geht-mich-nichts-an«-Position kaum noch möglich. Im Gegensatz zu den Angehörigen der Mittelschicht, von denen viele gleich zu Kriegsbeginn das Land verlassen haben, hat die Arbeiter*innenklasse weniger Ausweichmöglichkeiten; ihre Chancen, an der Front zu landen, sind wesentlich größer. Der Erfolg der gesamten Kampagne hängt weitgehend von ihrer Reaktion ab.

Es ist noch zu früh, um über das Ausmaß der Unzufriedenheit mit der Mobilisierung und dem Krieg zu sprechen, aber sie wächst. »Als die Mobilisierung begann, änderte sich die Rhetorik im Team völlig: ›Scheiß drauf, wir brauchen das nicht. Wir wollen nicht!‹ … Mein Freund unterstützte den Krieg anfangs, aber als die Mobilisierung begann, ging er zur Verwaltung – aus Sorge, einberufen zu werden«, berichtet Denis.

Der Telegramkanal Sisyphean Labor, der Interviews mit Arbeiter*innen veröffentlicht, liefert zahlreiche Zeugnisse über die Einstellung zur Mobilisierung in den Betrieben. Ein Ingenieur eines Rüstungsbetriebs berichtet: »Die Fabrikarbeiter sind nicht in der Stimmung zu kämpfen. Sie hören von der Front, dass es an allem fehlt, sie stellen fest, dass sie die gesamte Ausrüstung selbst kaufen müssen, dass die Wehrpflichtigen nicht richtig ausgebildet sind. Keiner von ihnen hat das Land verlassen. Sie sagen: ›Wohin sollen wir gehen? Niemand schert sich einen Dreck um Leute wie uns.‹«

Titelseite des Sonderhefts. Titel: Ukraine-Krieg. Unterzeile: Russlands Invasion und die Debatte um Imperialismus und Internationalismus

Neu erschienen ak Sonderheft zum Ukraine-Krieg

Wie verändert Russlands Angriff auf die Ukraine die internationale Politik und das linke Verständnis von Imperialismus und Internationalismus?

»Unser Polier sagte: ›Das Rekrutierungsbüro behandelt uns wie Tiere, nennt uns Ramschware, rekrutiert jeden wahllos. Es ist, als ob sie uns für die Schlachtung vorbereiten würden.‹ Die Leute sind nervös, wie gespannte Federn«, erzählt ein Maschinenbediener in einer St. Petersburger Fabrik.

Viele nehmen jedoch alles fatalistisch hin und scheinen das Ausmaß der Gefahr nicht zu begreifen. »Fast alle, mit denen wir gesprochen haben, sagten: ›Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, gehe ich.‹ Wenn man erklärt, dass es andere Möglichkeiten gibt (Anm.: wegzugehen oder sich zu verstecken), sind nur sehr wenige bereit dazu … Viele sehen das Risiko zu sterben nicht, sie glauben es wegen der Propaganda nicht. Die meisten haben in der Armee gedient, viele haben gute Erinnerungen an diese Zeit. Einige wollen ihre Frauen verlassen. Erstaunlicherweise haben die meisten keine Angst vor dem Tod, sondern vor dem Verlust ihrer Qualifikationen, ihrer Arbeitsplätze und ihres Geldes«, fasst Mikhail die Stimmung der Schiffbauer zusammen.

Kampf um die Freistellung

Zwischen den Unternehmen und Industrien ist ein Wettbewerb um die Befreiung vom Wehrdienst entstanden – und buchstäblich auch in jedem Betrieb. Die damit einhergehende Vetternwirtschaft und Korruption erhitzt die Gemüter, ebenso die Willkür der Einberufungsstellen und das bürokratische Durcheinander.

»Nur eine Handvoll Arbeiter der Baltischen Werke sagt: ›Ja, ich bin bereit, in den Krieg zu ziehen.‹ Alle anderen hoffen auf Freistellung und fürchten, sie nicht zu bekommen … Gleichzeitig sehen die Leute, dass die Freistellungen nicht an diejenigen gehen, die sie verdienen, sondern an die Brüder, Söhne und Freunde der Bosse. Die Leute beginnen, sich zu fragen, warum sie anstelle von jemandem kämpfen sollen, der sich wegduckt, nur weil er der Bruder des Vorarbeiters ist«, erklärt ein Gewerkschafter.

Aber auch die Befreiung vom aktiven Dienst ist kein verlässlicher Schutz vor dem Chaos der Mobilisierung. »Zuerst hieß es, die Eisenbahner würden nicht einberufen oder nur durch einen Sondererlass oder wenn die Kämpfe sich der Region nähern, in der wir arbeiten. Trotzdem wurden einige Ingenieure eingezogen«, sagt Denis.

»Nach Beginn der Mobilisierung sagten die Fabrikmanager, dass wir alle freigestellt werden würden. Trotzdem werden Leute abgeholt (wir wissen von Fällen bei Omsktransmash und dem Baltischen Werk). Die Leute erhalten die Bescheide zu Hause. In der Fabrik wird ihnen gesagt: ›Keine Angst. Geh zum Einberufungsbüro, sprich mit ihnen.‹ Sie gehen hin und werden sofort eingezogen. Etwa 30 Leute wurden aus dem Baltischen Werk einberufen und sind nicht zurückgekehrt«, erklärt Mikhail. »Niemand weiß, wer rechtlich befreit ist. Es wird geheim gehalten. Wir wissen nur, dass die Ausnahmen nicht für alle unsere Arbeitsplätze und Berufe gelten«, beklagt sich ein Arbeiter einer Rüstungsfabrik im Telegramkanal Sisyphean Labor.

Unter diesen Bedingungen wird die Freistellung zu einem mächtigen Instrument zur Förderung der Loyalität und zur Bestrafung derjenigen, die als Störenfriede gelten, sowie zur Versklavung der Arbeiter im Allgemeinen.

Einem Regierungserlass zufolge sollen die Listen der für eine Freistellung infrage kommenden Beschäftigten von der Unternehmensleitung auf der Grundlage »ihrer besonderen Rolle bei der Erfüllung des staatlichen Verteidigungsauftrags« (den die Bosse willkürlich beurteilen) erstellt werden. Wer mit den Arbeitsbedingungen nicht einverstanden ist oder eine Gewerkschaft gründen will, kann also nicht nur entlassen, sondern auch zum Militär eingezogen werden.

»Die Bürokraten sind die neuen Könige. Sie sprechen Todesurteile über jene aus, die sie nicht mögen. Ein Festmahl der Kannibalen. Eine Unterschrift, die dich in der Fabrik hält, hat jetzt einen nie dagewesenen Preis… Wir sind zu Leibeigenen geworden«, kommentiert ein Angestellter eines Rüstungsunternehmens.

Azamat Ismailov

ist Journalist, unter anderem für das russische Exilmedium Posle. Er schreibt unter Pseudonym.

Der Artikel erschien am 19. Oktober beim exilrussischen linken Onlinemagazin Posle (posle.media). Er ist der erste einer mehrteiligen Reihe über Arbeitsrechte im Krieg. Für den Nachdruck in ak wurde er gekürzt.

Übersetzung: Jan Ole Arps

Unterstütz unsere Arbeit mit einem Abo

Yes, du hast bis zum Ende gelesen! Wenn dir das öfter passiert, dann ist vielleicht ein Abo was für dich? Wir finanzieren unsere Arbeit nahezu komplett durch Abos – so stellen wir sicher, dass wir unabhängig bleiben. Mit einem ak-Jahresabo (ab 58 Euro, Sozialpreis 38 Euro) liest du jeden Monat auf 36 Seiten das wichtigste aus linker Debatte und Praxis weltweit. Probeabo gibt es natürlich auch.