Probieren statt lamentieren
Warum die Kritik am »elitären Bewegungsaktivismus« der Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen wohlfeil und oft einfach destruktiv ist
Von Sebastian Bähr und Marie Müller
Es gehört mittlerweile fast schon zum politischen Alltag, dass Linke anderen Linken vorwerfen, die Arbeiter*innenklasse zu ignorieren, zu verachten oder gegen ihre Interessen zu handeln. Das zeigt einerseits, dass diese sagenumwobene Zielgruppe wieder mehr Bedeutung hat. Immerhin. Andererseits werden besagte Vorwürfe oft nur als Geraune oder in Form vager Andeutungen ausgesprochen. Meist scheint es den Kritiker*innen dabei nicht um eine reale Verbesserung der eigenen Politik zu gehen. Die adressierten »Verräter*innen« werden dann in einer besonders beliebten Variante mal als »Linksliberale«, »Postautonome«, »Wokies«, »Selbstgerechte«, »akademische Bewegungsaktivist*innen« oder »Genderverrückte« markiert, die Bezeichnungen schwanken. Ihnen wird unterstellt, Arbeiter*innen und Abgehängte zu vergraulen beziehungsweise von linker Politik fernzuhalten.
Die konservative Presse freut’s, die kritisierten Aktiven ärgern sich, für die real existierenden Arbeiter*innen ist absolut nichts gewonnen. Und was nun genau anders gemacht werden soll, bleibt als wesentliche Frage für die gesellschaftliche Linke unbeantwortet. Statt gemeinsam zu probieren, auszuwerten und dann neu und besser zu probieren, wird viel spekuliert und diffamiert.
In der Linkspartei ist dieser destruktive Stil schon länger anzutreffen, nun ist die Debatte auch bei der Berliner Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen (DWE) angekommen. Die Bewegung für den Volksentscheid ist nicht an eine Partei gebunden, viele tatkräftige Aktivist*innen kommen jedoch aus der Linkspartei und der Interventionistischen Linken. Wie schon Jonas Becker, Mitglied des Koordinierungskreises von DWE, im Freitag schrieb, hat dies nichts mit einer »Verschwörung« oder geheimen Unterwanderung zu tun, sondern schlicht damit, dass sich in beiden Organisationen viel Expertise und Ressourcen bündeln. Die Kampagne selbst ist dennoch strömungsübergreifend, etwa 2.000 Aktive mit unterschiedlichsten Hintergründen sammeln sich hier.
Die »Moralapostel« haben vieles richtig gemacht
DWE dürfte damit gesellschaftlich heterogener und politisch offener sein als die meisten linken Gruppen der Stadt. Und doch konnten wir weder alle informellen Hierarchien abschaffen, noch bilden die Aktiven den Querschnitt der Berliner Mieter*innen ab: Ärmere Menschen, Mieter*innen ohne hohe Bildungsabschlüsse, Vollzeit-Berufstätige, Anwohner*innen in Außenbezirken, Ältere und Berliner*innen mit Einwanderungsgeschichte sind trotz kluger Organizing-Strategien in den Strukturen bislang unterrepräsentiert – wie in fast allen Bewegungen.
Versuche, daran etwas zu ändern, gab es – sie sind zum Teil auch in den Ursprüngen der Kampagne verankert, die aus einer Vernetzung von Mieter*innen mehrerer Deutsche-Wohnen-Immobilien entstand. Die anfänglichen Organisierungen von Mieter*inneninitiativen verfolgten bereits den Anspruch, verschiedene Welten zusammenzuführen. Im Verlauf der Kampagne gründete sich außerdem eine Arbeitsgruppe für Mieter*innen, die nicht Deutsch als Muttersprache sprechen, auch mit dem Ziel, eine Zusammenarbeit mit migrantischen Verbänden voranzubringen. Ehrenamtliche erstellten Flyer und Plakate in unterschiedlichsten Sprachen. Dass es hier noch Luft nach oben gibt, würden wohl die wenigsten DWE-Aktiven bestreiten.
Zuletzt wurden dennoch Teile der Kampagne dafür kritisiert, falsche Schwerpunkte zu setzen oder überhaupt kein ernsthaftes Interesse an einer Organisierung mit Ausgebeuteten zu haben. Das ehemalige Mitglied im Koordinierungskreis von DWE, Marcus Staiger, begründete seinen Austritt mit einem »Milieu« von »Moralaposteln und Rechthaber*innen« in der Kampagne: »DWE wurde immer akademischer und die Positionen dogmatischer.« Man traue sich nicht mehr, frei zu sprechen, und fühle sich bei Treffen, die geprägt seien von »Zustimmungs-Gewedel«, Pronomenrunden und künstlicher Sprache, unwohl. Bereits zuvor hatte es aus dem Umfeld der Kampagne im Zusammenhang mit dem Konflikt um den Vorwurf eines sexuellen Übergriffs ähnliche Kritik gegeben, vor allem gegen die IL gerichtet.
Weitaus differenzierter (und konkreter) als Marcus Staiger geht Jacobin-Chefredakteurin Ines Schwerdtner, die ebenfalls bei DWE aktiv ist, in einem längeren Artikel auf die Schwächen der Kampagne ein. Sie sieht unter anderem einen möglichen Fehler im Sammeln der »politischen Unterschriften« für den Volksentscheid. Hierbei handelt es sich um Unterschriften nicht stimmberechtigter Berliner*innen – meist Menschen, die ebenfalls und oft seit Jahrzehnten in Berlin zur Miete leben, aber wegen nicht deutscher Staatsangehörigkeit vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Ihre Unterschriften, schätzungsweise ein Drittel der gesammelten 360.000, waren offiziell ungültig, die Kampagne sammelte sie trotzdem und skandalisierte den Ausschuss eines großen Anteils der Berliner Mieter*innen vom Wahlrecht. »Im Versuch, alles richtig machen zu wollen, drohte man sich selbst zu überfordern«, schreibt Schwerdtner dazu.
Ein pauschales Abwatschen von ganzen Milieus, Altersgruppen oder Organisationen gibt erst mal wenig Hilfestellung für eine konkrete Verbesserung der politischen Praxis.
Was ist nun mit diesen Kritiken anzufangen? Ein pauschales Abwatschen von ganzen Milieus, Altersgruppen oder Organisationen gibt erst mal wenig Hilfestellung für eine konkrete Verbesserung der eigenen Praxis. Vielmehr wird eine differenzierte Analyse, die neben Schwächen auch Fortschritte, Widersprüche und Chancen wahrnimmt, blockiert. Die Grundhaltung macht zudem skeptisch: Ist das Problem wirklich, dass wir zu viele von jenen Aktiven haben? Oder nicht doch eher zu wenig von den anderen? Müssen die einen weg, damit die anderen kommen – oder gibt es da vielleicht Alternativen?
Die DWE-Praxis lehrt eigentlich, dass vieles möglich ist. Zahlreiche Linke mit Universitätshintergrund haben im Rahmen von DWE – einige vielleicht zum ersten Mal – das Gespräch mit Menschen außerhalb ihrer gewohnten Kreise gesucht und sich für die Arbeit im öffentlichen Handgemenge gegenseitig Wissen vermittelt und Mut gemacht. Im Gespräch zeigten so manche Aktive, dass sie doch ganz gut Inhalte runterbrechen und gleichzeitig auf Augenhöhe mit Anwohner*innen diskutieren können. Dass sie die Menschen mit ihrem widersprüchlichem Alltagsdenken nicht nur ausgehalten, sondern eben in der Regel auch ernst genommen haben. Auch wenn viele Gespräche eher kurz und oberflächlich waren – die Angesprochenen waren keine Diskursschablonen mehr.
Was zudem nicht vergessen werden darf: Die Beschäftigung mit dem Thema »politische Unterschriften« war die Folge realer Erfahrungen in der Kampagne. Menschen ohne Stimmberechtigung hatten nachgefragt, wie wir mit ihren Unterschriften umgehen, hier hatte es eine kollektive Antwort benötigt. Wir wissen von keinem Fall, wo die hierfür aufgewendete Energie andere Projekte verhindert hatte. Auch ist uns nicht bekannt, dass Unterschriften mit dem Verweis auf das antirassistische Engagement der Kampagne nicht gegeben worden wären. Die Entscheidung hat vielmehr wohl auch Leute zum mitmachen ermutigt, die sonst nicht dabei gewesen wären, aber ebenso vom Mietenproblem betroffen sind. Wer weiß, ob die notwendigen Unterschriften ohne das Engagement dieser Berliner*innen zustande gekommen wären.
Wir sind noch nicht genug
Gleichzeitig wurde deutlich, dass es nur bedingt gelang, neue aktive Mitstreiter*innen zu finden, die nicht weiß und jung waren und mutmaßlich einen universitären Bildungshintergrund hatten. Zwar zeigten immer wieder auch ältere, migrantische oder geringverdienende Menschen ihre Sympathie für uns, doch in die Chatgruppen der Kiezteams und Arbeitsgruppen kamen sie nur selten. Anstatt sich über diesen Umstand nun selbst zu zerfleischen, sollte man lieber die Kampagne nutzen, um daran etwas zu ändern. Die Strukturen und die Bereitschaft der Mehrheit sind dafür da.
DWE hat eine professionelle Arbeitsweise und mittlerweile zahlreiche Daten und Erfahrungen, auf deren Grundlage man aufbauen kann. Es gibt Wahlpotenzialanalysen, Auswertungen von Haustürgesprächen sowie Workshops zur Vermittlung von Fähigkeiten, die es braucht, damit wir mehr werden. Bisher wurde dieses Wissen nicht nur, aber vor allem genutzt, um Menschen als Wähler*innen des Volksentscheids zu gewinnen; das lag in den vorgegebenen zeitlichen Notwendigkeiten begründet. Jetzt ist die Situation eine andere. In der aktuellen Phase der Auseinandersetzung um den Volksentscheid existiert Spielraum zum Ausprobieren Warum also nicht gemeinsam Gelerntes nutzen, um bestimmte Zielgruppen stärker in die Kiezteams einzubinden?
In die richtige Richtung weisen Aktionen wie die Kundgebungen bei Fußballspielen, Fahrradtouren oder Stände in Außenbezirken. Wichtig wären ebenso noch mehr Präsenz in Betrieben, zugängliche Treffen an zugänglichen Orten, einen Ausbau des Sprecher*innenpools, der die Diversität der Berliner Mieter*innen widerspiegelt, Arbeitsweisen, die auch langfristig Unterstützer*innen mit wenig Zeit oder Vorerfahrung ein Mitmachen auf Augenhöhe ermöglichen. Viele dieser Ideen sind nicht neu, einiges wird bereits gemacht. Statt endlos über das vermeintliche Wesen der Arbeiter*innenklasse zu spekulieren, sollte man einfach versuchen, sie in all ihrer Vielfalt für uns zu gewinnen.
Es ist offensichtlich, dass die große Mehrheit im Senat den Volksentscheid durch endlose Prüfungen aussitzen will. Die Kampagne steht vor der schwierigen Aufgabe, den Druck zur Umsetzung zu erhöhen und sich gleichzeitig dabei noch zu vergrößern, anstatt zu zerfallen und passiv zu werden. Eine Initiative, die wirklich die Mieter*innenschaft widerspiegelt, hätte eine unglaubliche Schlagkraft. Was die real existierende Arbeiter*innenklasse ganz sicher abschrecken würde, wäre ein Versanden des Volksentscheids. Siege begeistern dagegen und schaffen Vertrauen und Zuversicht.