Mit Leidenschaft und Ausdauer
Über einige Parallelen von Deutsche Wohnen & Co enteignen und den Entlastungskämpfen in den Berliner Krankenhäusern
Von Kalle Kunkel
Im Juni 2015 war es so weit. Nach zweieinhalb Jahren Hinhalte- und Verzögerungstaktiken des Arbeitgebers traten die Beschäftigten an der Berliner Charité das erste Mal für Personalstandards in einem deutschen Krankenhaus in den Streik. Das Datum ist in mehrerer Hinsicht historisch. Es brach sich in diesem Streik die Wut über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte der Missachtung insbesondere der Pflegekräfte, bahn. Die Gewerkschaft ver.di erklärte mit dem Streikeintritt, dass sie nicht länger bereit ist, auf die leeren Versprechen der Politik für die Krankenhausbeschäftigten zu warten – in diesem Sinne war es ein politischer Streik. Dem zehntägigen Ausstand folgten weitere zehn Monate Verhandlungen, bis schließlich am 1. Mai 2016 der erste Tarifvertrag zur Personalbemessung abgeschlossen wurde. Die Tarifkommission (TK) der Charité beschloss seinerzeit, den Tarifvertrag anzunehmen, obwohl ihr bewusst war, dass er Schwächen hatte.
Warum hatte sie sich trotzdem dafür entschieden? Die Auseinandersetzung hatte nicht nur eine betriebliche Bedeutung, sondern eine bundesweite Ausstrahlungskraft. Mit dem Streik hatte ver.di an der Charité bewiesen, dass es – auch juristisch – möglich ist, für mehr Personal zu streiken. Für die TK und die ver.di-Betriebsgruppe war dabei klar, dass diese Auseinandersetzung Teil eines größeren Kampfes ist. Der Tarifvertrag stellte einen Angriff auf das gesamte Finanzierungssystem der Krankenhäuser dar – und anders herum: Das Finanzierungssystem verhinderte systematisch, dass ein solcher Tarifvertrag durch ein einzelnes Krankenhaus umgesetzt werden könnte, ohne dass es in finanzielle Schieflage gerät. Der Kampf konnte nur gewonnen werden, wenn er sich verbreitert.
Das Kalkül ging auf. Mehr und mehr zogen Belegschaften in die Auseinandersetzung – inspiriert von dem Kampf in Berlin. Und auch die Wechselwirkung mit der Politik ging auf. Unter dem Druck der Proteste und gegen massive Widerstände vonseiten der Krankenkassen wurde die Pflege zumindest in großen Teilen im Jahr 2018 aus der eisernen Umklammerung des Finanzierungssystems der Fallpauschalen herausgelöst. Dies erst ermöglichte wirklich verbesserte Tarifabschlüsse. Nach der Ankündigung dieses partiellen Paradigmenwechsels folgten die Abschlüsse in weiteren Unikliniken wie Dominosteine.
Schließlich kehrte die Auseinandersetzung an ihren Ursprung zurück. Im Jahr 2021 verbanden sich die Belegschaften des größten Uniklinikums Europas und des größten öffentlichen Krankenhauskonzerns Deutschlands Vivantes zu einer enormen Kraft: Die Berliner Krankenhausbewegung setzte neue Maßstäbe für die Tiefe der Organisierung, die Konsequenz in der Konfliktführung und die Breite der gesellschaftlichen Mobilisierung. Von der Tribüne des Traditionsclubs Union Berlin erklärten über 1.000 Teamdelegierte und Unterstützer*innen ihre Streikbereitschaft und traten kurz vor den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und den Bundestagswahlen in den Ausstand. Sie erkämpften den bisher besten Entlastungstarifvertrag.
Auf den Straßen traf die Krankenhausbewegung auf eine zweite Bewegung, die von Berlin aus ein Zeichen der Hoffnung senden sollte. Deutsche Wohnen & Co enteignen (DWE) war auf dem Endspurt des Kampfes für die Vergesellschaftung der großen profitorientierten Wohnungskonzerne, als sich die Bewegungen miteinander verbanden. Mit fast 60 Prozent der gültigen Stimmen erreichte der Volksentscheid einen fulminanten Sieg, der jedoch im Kleingedruckten einige Gemeinsamkeiten mit dem ersten Sieg an der Charité von 2015 aufweist.
Wie auch 2015 an der Charité wird der Sieg von DWE 2021 so voraussichtlich nur die Ouvertüre zu den Auseinandersetzungen sein, die noch zu führen sein werden. Denn DWE hatte sich im Frühjahr 2018 aus guten Gründen dafür entschieden, nicht mit einem verbindlichen Gesetzesvolksentscheid an den Start zu gehen, sondern lediglich mit einem sogenannten Beschlussvolksentscheid, der für den Senat nur eine politische, nicht aber eine juristische Verpflichtung mit sich bringt. Hintergrund war die Erfahrung vorangegangener Volksentscheide, bei denen der Entscheid wegen juristischer Fehler angreifbar gewesen war. Bestand diese Gefahr schon bei einem »normalen« Gesetz, war die Gefahr bei einem Gesetz, das den verborgenen Schatz den Grundgesetzes – den Vergesellschaftungsartikel 15 – heben will, omnipräsent.
Wie auch 2015 an der Charité wird der Sieg von DWE 2021 voraussichtlich nur die Ouvertüre zu den Auseinandersetzungen sein, die noch zu führen sein werden.
Beinahe alles bei der Anwendung dieses Artikels ist Neuland. Als Rechtssatz, der die Infragestellung der Eigentumsverhältnisse gewissermaßen verfassungsrechtlich latent hält, ist er gleichzeitig unmittelbar politisch. Allein die Forderung sorgte seit ihrer ersten Formulierung 2018 für eine Verschiebung der Debatten. Zu Recht beschweren sich Vertreter*innen der besitzenden Klassen, dass mit einem Mal das Recht auf Eigentum als ehernes Gesetz der bürgerlichen Gesellschaft infrage gestellt wird. Juristisch ist eine offene Diskussion entbrannt. Thematisch und geografisch greift die Kampagne zudem aus. Die Eigentumsfrage ist damit zurück auf der politischen Agenda.
Gesellschaftliche Dynamik in Gang setzen
Wie auch in den Krankenhausauseinandersetzungen zeigt sich, dass die Bewegungen nicht nur an ihrem konkreten Ergebnis gemessen werden können, sondern auch daran, was sie an gesellschaftlichen Dynamiken in Gang setzen. Diese sind mit dem häufig bemühten Begriff der »Diskursverschiebung« nur unzureichend erfasst. Es geht um die konkrete Veränderung von politischen Handlungsorientierungen sowie die Veränderung von Rahmenbedingungen für die Kämpfe – und auch möglichen Erfolgen darin. Als im Fall der Krankenhausbewegung der Konflikt nach sechs Jahren wieder an seinen Ursprung zurückkehrte, hatte der Konflikt selbst die Bedingungen für den erneuten Kampf vollständig verändert.
Was dies anlog für DWE bedeuten wird, werden die nächsten Monaten zeigen. Dabei ist die Kampagne auch eine Operation am offenen Herzen der Staatstheorie. Ganz Abgeklärte wissen schon lange, dass die juristischen Auseinandersetzungen zum Scheitern verurteilt sind, weil das herrschende Recht das Recht der Herrschenden ist. Es wird sich in den nächsten Monaten aber erst ganz konkret zeigen, welches Potenzial die Rede von der relativen Autonomie von Staat und Recht hat und wie sehr ein Verfassungsartikel aus einer völlig anderen Zeit als Hebel für Veränderung genutzt werden kann. Sicher ist, dass dies nur möglich sein wird, wenn diese Auseinandersetzungen als politische Konflikte geführt werden.
DWE betritt mit der neuen/alten Konstellation im Senat eine neue Phase. Die rot-grün-rote Koalition hat mit der Verständigung auf eine Kommission zur Vergesellschaftung den politischen Konflikt vertagt. Sie zeigt damit auch die Grenzen der direktdemokratischen Einflussnahme auf, wenn sich an den Kräfteverhältnissen und deren Ausdruck im Staat nicht grundsätzlich etwas verändert. Die Debatte darum, ob es für einen umfassenden Sieg lediglich notwendig gewesen wäre, einen juristisch verbindlichen Gesetzesvolksentscheid einzureichen, geht am Kern des Problems vorbei. Eine Vergesellschaftung ist etwas anderes als das Verbot, zum Beispiel einen ehemaligen Flughafen zu bebauen. Sie könnte von einer unwilligen Verwaltung auch dann torpediert werden, wenn ein Gesetz vorläge. Vor allem aber ignoriert dieses Lamento, dass es notwendig war, die Debatte überhaupt erst einmal aufzubrechen, damit auch nur die Chance besteht, dass ein solches Gesetz juristisch Bestand hätte.
Es ist notwendig, sich einzugestehen, dass auch ein Volksentscheid nur ein Ersatz für das ist, was in der Diskussion um Arbeiter*innenmacht als Primärmacht oder Fähigkeit zur Unterbrechung bezeichnet wird: Hätte die Stadtbewegung gerade die Stärke, massenhaft Mietstreiks oder erfolgreiche Besetzungen zu organisieren, würden sich die Fragen rund um den Umgang mit den staatlichen Apparaten ganz anders stellen. In Ermangelung dieser Macht war der Volksentscheid ein mächtiges Instrument, um zugleich Kräfteverhältnisse zu verschieben und Formen aufzubauen, die weitere Schritte denkbar machen. Noch nie gab es in der jüngeren stadtpolitischen Bewegung eine Organisierung, die in beinahe allen Berliner Bezirken eine mehr oder weniger handlungsfähige Struktur hatte.
Vom Bewegungs- zum Stellungskrieg
Ein solches Verständnis über die Stärken und Schwächen von DWE hilft für die Positionsbestimmung. In den Worten des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci geht DWE gerade von einer Phase des Bewegungskriegs in den Stellungskrieg über. Wir sollten vorsichtig sein mit militärischem Vokabular. Es lädt ein zur Dehumanisierung der politischen Gegner sowie einem instrumentellen und zynischen Umgang miteinander. Trotzdem können die beiden Begriffe hilfreich sein: Der Widerstand, auf den DWE jetzt in der Koalition trifft, zeigt, dass auch ein punktueller Sieg innerhalb eines ungünstigen Kräfteverhältnisses nicht von Dauer sein kann. Mit dem Volksentscheid konnten wir eine Stellung erobern. Die Immobilienlobby hat aber immer noch einen privilegierten Zugang zu gesellschaftlichen Machtzentren. Deshalb muss DWE jetzt daran arbeiten, dass sich das Kräfteverhältnis auch dauerhaft so verändert, dass die Hörigkeit gegenüber der Immobilienlobby politisch nicht mehr tragbar ist.
In diesem Sinne muss DWE sich jetzt für die nächsten Monate aufstellen. Die Vertagung des politischen Konflikts durch die Koalitionsparteien ist eine Realität, mit der wir umgehen müssen. Unabhängig davon, ob DWE sich an an der Kommission beteiligt oder nicht, wird es unsere Aufgabe sein, deutlich zu machen, dass hier nicht neutrale Sachfragen ausgehandelt werden. Auf dem Schauplatz der Kommission muss DWE entsprechend deutlich machen, dass der Kern der vorgetragenen juristischen »Bedenken« der Unwille ist, sich mit dem Immobilienkapital anzulegen. Der Umstand, dass diese Scharade unter einer nominellen Mitte-Links-Regierung ausgetragen wird, bietet dabei Chancen und Risiken zugleich.
Das Risiko besteht in der Einbindung der linken Kräfte und von DWE selbst in dieses Schattentheater. Zugleich können wir in dieser Konstellation dafür sorgen, dass Verzögerungen und Taktierereien immer wieder zu Konflikten innerhalb der Koalition führen werden. Das hält das Thema im Fokus der öffentlichen Auseinandersetzung. Diese Phase bietet dazu auch die Möglichkeit, die Strukturen von DWE zu festigen und zu verstetigen. Die Kiezteams können mit verschiedenen Formen experimentieren, um sich weiter in der Stadtgesellschaft zu verankern. Schließlich hat die Vertagung des politischen Konflikts jedoch ein Ablaufdatum, das wohl den Übergang in eine dynamischere Phase markiert. Spätestens im März 2023 soll die Kommission ihren Bericht vorlegen. Es ist jetzt schon absehbar, dass dieser kaum auf ein einheitliches Votum hinauslaufen wird. DWE muss in diesem Moment strategisch handlungsfähig sein.
Für die gesellschaftliche Linke stellen sich aus den parallelen Erfahrungen in den Krankenhauskämpfen und DWE Fragen: Solange keine disruptiven gesellschaftlichen Veränderungen absehbar sind, ist es wahrscheinlich, dass wir immer wieder Kämpfe erleben werden, die mit Leidenschaft und Energie geführt werden und die zu einer Verschiebung in den Kräfteverhältnissen führen – aber ohne klare Siege enden. Die neoliberale Konterrevolution hat bis zu ihrem Durchbruch sehr stark mit dieser Form gearbeitet. Für eine linke Politik lässt sich dieses Modell jedoch nicht einfach übertragen, weil Leidenschaften und Hoffnungen immer wieder auch zu Enttäuschungen führen werden. Gleichzeitig gilt es jedoch, jede Verschiebung und jeden Teilerfolg als solche zu benennen, sie zu feiern, zu sichern und zu verbreiten und aus ihnen Energie zu ziehen.
Es gab Besserwisser*innen, die DWE in diesem Sinne schon früh vorgeworfen haben, langfristig lediglich zu demobilisieren, weil die Enttäuschung vorprogrammiert sei. Mit dieser Haltung hat man die Perspektive gesellschaftlicher Veränderung aufgegeben. Trotzdem zeigt die Erfahrung bei DWE, dass linke Organisierungen vor dem schwierigen Spagat stehen, Leidenschaft für grundsätzliche Veränderungen zu befeuern und zugleich einen Sinn für die notwendige Ausdauer zu vermitteln. »Optimismus des Willens und Pessimismus des Verstandes« hat Gramsci diese Haltung auf den Punkt gebracht.