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|ak 692 | Diskussion

Der Krieg, die Linke und wir

Warum das Parteiergreifen für eines der kriegsführenden Lager in der Ukraine ein Irrweg ist

Von AG Internationalismus der IL

Man sieht eine demonstrierende Menschenmenge in Schwarz Weiß.
Die Hochzeiten der Antikriegsbewegung sind vorbei: Demonstration 1982 in Bonn gegen den Nato-Doppelbeschluss. Foto: Mummelgrummel / Wikipedia, CC BY-SA 4.0

Die Logik des Krieges ist ein Schwarzes Loch. Die Idee der Nation ist sein Prinzip, seine Gravitation. Alles, was sich nicht umstandslos auf der »richtigen Seite« der Kriegsparteien einreihen lässt, wird von dieser Schwerkraft an sich gezogen und verschluckt. (1) Zwischenräume gibt es nicht. Die Logik des Krieges braucht die Nation als Grundlage ihres Seins. Sie dehnt sie gleichzeitig in ihren verschiedenen Dimensionen aus und radikalisiert sie: als historischer Mythos und als existenzielle (Not-)Gemeinschaft. Sie mobilisiert die reaktionärsten Fraktionen des Kapitals, des Staatsapparates und der Zivilgesellschaft für Aufrüstung und nationale Wirtschaftsinteressen.

Wenn sich Teile der ukrainischen Linken dazu entschlossen haben, sich in den Selbstverteidigungskampf der ukrainischen Nation einzugliedern, dann konstituieren sie sich dadurch als Teil eben dieser ukrainischen Nation und verunmöglichen gleichzeitig andere Kämpfe um Befreiung, mit anderen Worten: Sie heben den Klassenkampf in der Form der Nation auf. Aus dem Gravitationszentrum des Schwarzen Lochs dringt nichts mehr nach außen, die Linke droht eine Gefangene im Ereignishorizont des Schwarzen Lochs zu werden.

Parteiverbote, Verbote von kritischen Medien, der Abbau von Arbeiternehmer*innenrechten und die Zwangsrekrutierung der männlichen Bevölkerung zwischen 18 und 60 Jahren werden von der ukrainischen Regierung mit dem Kriegszustand und seinen Notwendigkeiten begründet, dem sich Teile der ukrainischen Linken unterworfen haben. Die hilflose Bitte von Vitalyi Dudin, dem Vorsitzenden von Sotsyalnyi Rukh (Soziale Bewegung) per Brief an den ukrainischen Präsidenten Selenskyi gerichtet, doch bitte gegen die Arbeitsmarktreform Einspruch zu erheben, die eben jener doch selbst initiiert hatte, ist ein Beispiel für die unwiderstehliche Schwerkraft des Schwarzen Lochs.

Krieg und Faschismus

Teile der ukrainischen Linken begründen ihren Schritt der Unterordnung unter die Nation mit dem Argument, es würde ihre Kampfbedingungen in der Zukunft verbessern. Zweifellos wollen weite Teile der Bevölkerung und erst recht die emanzipativen Strömungen in ihr nicht in einer russischen Besatzungszone leben oder gar Teil von Neurussland werden. Wer könnte das nicht nachvollziehen?

Aber die verzweifelte Hoffnung, aus dem Ende des Kriegs als gestärkte oder gar irgendwie gleichberechtigte Kraft hervorzugehen, scheint uns eine zutiefst unrealistische Einschätzung zu sein. Die Kampfbedingungen der Linken verschlechtern sich durch das Fortführen des Krieges. Das enge und sich gegenseitig bedingende Verhältnis von Krieg und Faschismus zeigt sich auch in diesem Konflikt; und das nicht nur an dem aggressiven Angriffskrieg des russischen Regimes, sondern auch daran, dass auf beiden Seiten Naziverbände kämpfen, sondern auch und vor allem an den innenpolitischen Konsequenzen auf beiden Seiten.

Auch auf Seiten der Ukraine können wir die Tendenz beobachten, dass ein nationalistischer Geschichtsrevisionismus und seine Narrative immer robuster auftreten, die Form der Staatsdoktrin annehmen und mit dem Nazikollaborateur Stepan Bandera als dem ukrainischen Volkshelden ihren pointiertesten Ausdruck finden. Wir befürchten, dass die Rückwirkungen dieser Prozesse der Faschisierung auf die Subjektivitäten beider Seiten fatale Folgen zeitigen, eine gepanzerte, nationale, gegen jeden politischen Pluralismus gerichtete Volksgemeinschaft zurücklassen werden und Perspektiven der linken Opposition und gar Emanzipation auf lange Zeit versperren.

Wir teilen deshalb die Einschätzung, dass ein Parteiergreifen für eines der kriegsführenden Lager ein fataler Irrweg ist. Eine emanzipatorische globale Linke muss sich dem Lagerdenken widersetzen, um nicht in den Gravitationsraum des Schwarzen Lochs zu gelangen. Deshalb ist die Frage, die wir uns stellen müssen: Wie können wir Formen der Solidarität und der aktiven Beihilfe entwickeln, die erstens quer zu dieser Lagerdichotomie liegen und die zweitens diejenigen Menschen zum Ausgangspunkt der Überlegungen und Anstrengungen nimmt, die unter dem Kriegsregime leiden und unter ihm sterben: die ausgebombte Zivilbevölkerung, die in Kellern und den U-Bahnschächten Schutz suchen muss ebenso wie diejenigen jungen Männer, die sich aus Angst, Rekrutierungstrupps der ukrainischen Armee in die Arme zu laufen, nicht mehr aus ihren Wohnungen trauen.

Waffenstillstand jetzt oder Rückzug der russischen Armee?

Neben dieser Perspektive, der zu den Kriegslagern querliegenden Solidarität und Beihilfe stellt sich zweitens die Frage danach, was eine progressive Forderung im Russland-Ukraine-Krieg sein kann: Ist es, wie die Autor*innen vom Russian Socialist Movement vor Kurzem auf dem iL-Debattenblog geschrieben haben, »heuchlerisch«, wenn ein Friedensappell nicht den kompletten Rückzug aus dem ukrainischen Territorium fordert, sondern zu einem Waffenstillstand aufruft?

Aus der Perspektive der russischen Genoss*innen ist die Argumentation nachvollziehbar. Wenn Deutschland ein anderes Land überfallen würde, würden wir natürlich auch alle den sofortigen, bedingungslosen Rückzug fordern, in der Hoffnung, dass die Heimatfront gegen den Aggressor kippt und so ein Ende des Krieges näher rückt. Aber wir sind nicht in Russland und unser direkter Einfluss auf das russische Regime ist gleich null. Trotzdem unterstützen wir den Einsatz der russischen Genoss*innen für einen breiten Protest gegen den Krieg und das Ende des Putin-Regimes.

Aber unser Einsatz hier in Deutschland muss ein anderer sein, weil wir eine andere Rolle und Perspektive haben als die innerrussische Opposition gegen Putin. Wir müssen uns die Frage stellen, was eine Alternative zu einem langandauernden Abnutzungs- und Stellungskrieg ist. Unserer Ansicht nach kann das nur die Forderung und der entsprechende Druck auf die deutsche Regierung sein, sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln für einen sofortigen Waffenstillstand einzusetzen und in einem zweiten Schritt den Konflikt einzufrieren, z.B. durch die Unterstützung der entsprechenden Initiativen aus Brasilien oder China. Dass ein Waffenstillstand und das Einfrieren des Konflikts nicht gleichbedeutend mit Frieden sind, ist uns klar. Aber es wäre ein wichtiger Schritt, der das große Sterben beenden würde. Vielleicht würde er nicht lange halten, wie die Kritiker*innen des Vorschlags behaupten. Wir wissen es nicht. Aber wenn nur die begründete Möglichkeit besteht, dass das Sterben beendet wird, müssen wir es versuchen.

Das ist aus unserer Sicht die fortschrittliche Alternative dazu, weiterzukämpfen und zu sterben, bis eine Partei endgültig gewonnen hat. Das ist keine realistische Perspektive für ein baldiges Ende des Krieges. Über die wahren Ausmaße des Sterbens, so zumindest unsere Vermutung, wird noch viel Entsetzen herrschen, falls einmal annähernd realistische Zahlen der Todesopfer auch auf ukrainischer Seite veröffentlicht werden sollten. Nicht ohne Grund werden sie von der ukrainischen Regierung geheimgehalten. Auch wenn russische Genoss*innen diese Ansicht nicht teilen, plädieren wir dafür, dem großen Sterben so schnell wie möglich ein Ende zu setzen. Andersherum müssen sich Positionen, die Waffenlieferungen befürworten, die konkrete und ehrliche Frage beantworten, wann die Forderungen denn erfüllt sind? Wie viele und welche Waffen braucht es für einen Sieg über Russland, und wie viele Menschenleben sind die mit dem »Sieg« erhofften »Verbesserungen der Kampfbedingungen« für die Linke wert?

Die Ursachen des Konflikts verstehen können

Drittens müssen wir die Anstrengung unternehmen, die Ursachen des Konflikts besser zu verstehen. Eine Perspektive von Teilen der Linken, die den Krieg am 24. Februar 2022 beginnen lässt und ihn auf die Irrationalität und den Vernichtungswahn der Person Putin reduziert, müssen wir energisch widersprechen. Sie vergisst die banale Einsicht, dass im vorherrschenden kapitalistischen Weltsystem der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. Auch kann eine Perspektive, die die Pathologie Putins als Kriegsgrund anführt, sich konsequenterweise gar nicht zu materiellen Ursachen und der zentralen Frage durcharbeiten, ob dieser Krieg vermeidbar gewesen wäre. Das jahrzehntelange imperialistische Tauziehen um die Ukraine – zunächst mit Banken, jetzt mit Panzern – aus den Erklärungen und Analysen des Krieges herauslösen zu wollen, bleibt uns unerklärlich.

Die Verweigerung gegenüber einer umfassenden moralischen Mobilmachung des öffentlichen Diskurses, an dem sich auch Teile der Linken beteiligen, gehört zu der Verweigerung des Lagerdenkens. Wenn allein schon die grundlegende kritische Frage angegriffen wird, welche Rolle denn die Nato in der Entwicklung des Konflikts gespielt hat, und diese als Pro-Putin-Parteinahme verunglimpft wird, werden die Spielräume des kritischen Denkens offensichtlich kleiner. Was einmal als Methode des historischen Materialismus bekannt war, wird freiwillig an der Eingangsgarderobe des Nato-Lagers abgegeben.

Der Krieg zerreibt jegliche emanzipatorischen Nischen und Perspektiven. Je länger er dauert, desto gründlicher vollzieht er diese Aufgabe. Er muss so schnell wie möglich beendet werden.

Dieser schmerzhafte Prozess der theoretischen Selbstentwaffnung der Linken beraubt sie des kritischen Instrumentariums, die historischen Bedingungen zu analysieren, die eben zu diesem Krieg geführt haben. Und neben einer ganzen Reihe von Faktoren muss in einer solchen Analyse natürlich auch die Rolle der Nato kritisch betrachtet und benannt werden. In diesem Kontext sei nur ganz kurz auf Robert F. Kennan, Außenpolitikexperte und Vertreter der Realistischen Schule in den Internationalen Beziehungen hingewiesen, der schon 1997 in der New York Times die Nato-Ostexpansion als »fateful error« beschrieben hat, der zu einer Stärkung der nationalistischen, anti-westlichen und militärischen Tendenzen in Russland führen sowie negative Effekte auf die Entwicklung der russischen Demokratie haben werde.

Die kommenden Kriege

Die Ursachenanalyse ist von zentraler Bedeutung, weil sie zugleich eine Analyse unserer eigenen strategischen Versäumnisse und Unfähigkeiten der Vergangenheit ist. Positiv gewendet: Nur sie kann zum Ausgangspunkt einer neuen Strategieentwicklung werden und eine Richtung vorgeben, wie die kommenden kriegerischen Auseinandersetzungen, auf die sich das zunehmend chaotisierende Weltsystem ohne Zweifel zubewegt, in Zukunft verhindert werden können. Dazu gehört auch ein konsequenter Widerstand gegen die sich zunehmend panzernden Kriegsregime und die Entwicklung einer Perspektive, die vielleicht am besten als die Neuerfindung einer globalen Friedenspolitik bezeichnet werden kann und die die Reproduktion der imperialen Lebensweise im globalen Norden als einer der wesentlichen Triebkräfte der aggressiv-imperialistischen und extraktivistischen Regime kritisiert und angreift.

Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine, schreibt der spanische Autor Raúl Sánchez Cedillo. Dem müssen wir leider zustimmen. Wir sehen die in der neueren Geschichte einmaligen Aufrüstungsprogramme, auch in Deutschland, und wissen: Diese Waffen werden produziert für die kommenden und bereits geäußerten Machtansprüche, für die Sicherung der Rohstofftransfers in den globalen Norden, zur Sicherung der EU-Außengrenzen, zur Bekämpfung der interimperialistischen Konkurrenz, kurz: für die kommenden Kriege. Die Herausforderungen für eine globale friedenspolitisch ausgerichtete und mit der Klimagerechtigkeitsbewegung zusammenagierende

Linke sind gewaltig. Der nächste große Konflikt ist schon in Sichtweite und erreicht immer neue Eskalationsstufen: Der westliche Block ringt mit China um die globale Vorherrschaft.

Ersatzhandlungen der Linken

Vor dem Hintergrund dieser monströsen Aufgabe können wir es nur als bitter bezeichnen, dass eine aktuelle Antikriegspraxis der deutschen Linken quasi nicht existiert. Sie entwickelt weder ein eigenes nachvollziehbares Deutungs- noch ein massenkompatibles Aktionsangebot. Sie versucht auch nicht den Sprung ins Handgemenge, wie er möglich gewesen wäre bei der Friedenskundgebung am 25. Februar in Berlin. Diese war nicht unproblematisch, wie allein die Organisatorinnen und einige Passagen aus dem Aufruf zeigen. Dennoch erscheint uns das Beschimpfen von der Seitenauslinie aus dieser von der Zusammensetzung her sich nicht wesentlich von jedem x-beliebigen Ostermarsch unterscheidenden Veranstaltung bei gleichzeitiger Verweigerung jedes eigenen Deutungs- und Aktionsangebots als die schlechteste aller möglichen Verhaltensweisen einer sich selbst als emanzipatorisch verstehenden Linken zu sein.

Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten

Unsere These ist, dass der Krieg selbst jegliche emanzipatorischen Nischen und Perspektiven zerreibt. Und je länger er dauert, desto gründlicher vollzieht er diese Aufgabe. Daraus ziehen wir den Schluss, dass er so schnell wie möglich beendet werden muss und die Linke sich genau dafür stark machen und in diesem Sinne intervenieren sollte. Das gilt umso mehr, wenn wir uns noch mal klar machen, dass die »Zeitenwende« gerade erst begonnen hat. Die Kriegsmaschinen werden modernisiert und aufgestockt und die imperialistischen Politiken aggressiver artikuliert und ideologisch als wertegeleitete oder gar feministische Außenpolitik verpackt.

Es braucht eine diesen Herausforderungen gewachsene Antikriegsbewegung. Und die kann es nur geben, wenn die Linke den Mut und die Kraft aufbringt, in die existierenden Initiativen und Kampagnen einzugreifen, sie mitzugestalten und dadurch praktisch zu kritisieren. Zu dieser praktischen Kritik gehört an erster Stelle rechte Raumnahme zu verhindern, ob diskursiv oder auf der Straße. Das ist nichts Neues. Wir kennen das von großen Sozialprotesten und anderen politischen Dynamiken, in die breite Teile der Bevölkerung eingebunden sind.

Der effektivste Weg, rechte Agitation und Instrumentalisierung von Friedensinitiativen zu verhindern, ist es eben, Rechte zu verdrängen und gleichzeitig Analysen anzubieten, die für ihre Narrative nicht anschlussfähig sind. Wir müssen unsere eigenen Inhalte deutlich sichtbar und für breite Bevölkerungsteile nachvollziehbar in die Gemengelage hineinsetzen. Eine Kampagne für die Unterstützung von Deserteur*innen wäre ein Beispiel hierfür.

Die Frage eines Schuldenschnitts für die Ukraine und wie die kommenden EU-Spardiktate auch in Deutschland angegriffen werden können, müssen in den Fokus der gesamten Linken rücken.

Aber eine Unterstützung der ukrainischen Genoss*innen muss für die deutsche Linke, wenn sie es erst meint, auch darin bestehen, künftige Initiativen für den gerechten Wiederaufbau zu unterstützen. Es ist relativ leicht absehbar, dass nach dem Krieg das Austeritätsregime, unter dem die ukrainische Bevölkerung schon lange zu leiden hat, weiter intensiviert wird und soziale Kämpfe gegen das Spardiktat, das auf die Waffenhilfe und auf die Kredite von EU und IWF folgen werden, von zentraler Bedeutung für die Zukunft der Bevölkerung und auch der ukrainischen Linken sein werden.

Wir befürchten – wie gesagt –, dass ein sich abzeichnender langandauernder Krieg die sozialen und politischen Grundlagen für diese Kämpfe verschlechtert. Wir sehen zugleich, dass die Diskussionen in der ukrainischen Linken und in den Solidaritätsnetzwerken an Fahrt aufnehmen. Die Frage eines Schuldenschnitts und wie die kommenden EU-Spardiktate auch in Deutschland angegriffen werden können, müssen – wieder – in den Fokus der gesamten Linken rücken. Das sind keine neuen Fragen. Eine politische transnationale Praxis gegen Austeritätsregime der EU an ihrer Peripherie haben von 2011 bis 2015 weite Teile der Linken beschäftigt. Diese Fäden gilt es wieder aufzunehmen.

Unsere Vision ist das Wiedererstarkung einer linken Friedensbewegung in Verbindung mit einer Unterstützung der kommenden Anti-Austeritätskämpfe in der Ukraine. Aber genauso wie der Krieg endet diese linke Perspektive nicht dort.

AG Internationalismus der IL

Die Mitglieder der bundesweiten AG Internationalismus der Interventionistischen Linken arbeiten zu Kurdistan und Rheinmetall entwaffnen.

Anmerkung:

1) Die Metapher stammt aus »Der Krieg endet nicht in der Ukraine« von Raúl Sánchez Cedillo.