analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 696 | Diskussion

De-Globalisierung von oben? 

Mit der »De-Risking«-Strategie versucht sich der Westen ökonomisch unabhängiger von China zu machen – linke Kritik braucht neue Ansätze

Von Samuel Decker

Bild eines Fabrikgebäudes mit breiten Fensterfronten und dunklen Kacheln. In rot die Aufschrift "tsmc"
Lediglich bei der Herstellung von Mikrochips bleibt China auf westliche Importe angewiesen: Mikrochip-Fabrik von TSMC in der Industriestadt Taichung an der Westküste von Taiwan. Foto: Briáxis F. Mendes / Wikimedia , CC BY-SA 4.0

De-Risking« ist ein geflügelter Begriff. In der neuen China-Strategie der Bundesregierung heißt es: »Die Bundesregierung arbeitet auf ein De-Risking der Wirtschaftsbeziehungen zu China hin.« Populär gemacht hatte den Ausdruck EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrer China-Rede am 31. März dieses Jahres. Die Beziehung zu China sei eine der »kompliziertesten und wichtigsten der Welt«, aktuell aber sehr unausgewogen, so von der Leyen. Sie würde »zunehmend von Verzerrungen beeinflusst, die durch Chinas staatskapitalistisches System verursacht werden«. Und dann: »Die Gestaltung dieser Beziehung … ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was ich als De-Risking durch Diplomatie … bezeichnen würde.«

Der »De-Risking«-Begriff wurde sogleich vom Weißen Haus aufgegriffen und fand sich auch im Kommunique der G7-Staaten im Mai. Er ersetzt das böse Wort »De-Coupling«, also Abkopplung. »De-Risking: ja, De-Coupling: nein. Diese Formel gilt ausdrücklich auch für China«, sagte Kanzler Olaf Scholz etwa bei Regierungskonsultationen mit Ministern aus China. »De-Risking« ist eine EU-typische smarte Wortschöpfung, die den in den letzten Jahren vor allem von den USA vorangetriebenen und von der EU zunächst zwar nur zaghaft, dann aber immer deutlicher unterstützten Wirtschaftskrieg mit China kaschieren soll. 

Die gezielte ökonomische Isolation Chinas insbesondere im Hochtechnologiebereich ist Ausdruck der immer stärker werdenden Bemühungen der USA und des Westens, den ökonomischen Aufstieg Chinas zu bremsen. Während die Strategien der Bush- oder der Obama-Administration, die über die »Kontrolle des Ölhahns« oder die militärische Einkreisung Chinas im Westpazifik (»Pivot to Asia«) vor allem einer außenpolitischen und militärischen Logik folgten, begann spätestens unter Donald Trump ein systematischer Wirtschaftskrieg. (1) Seit 2018 überzog die Trump-Regierung China mit Sanktionen und Strafzöllen. Diese Sanktionen konzentrieren sich vor allem auf chinesische Technologieunternehmen wie Huawei, ZTE, Tencent und Bytedance. (2) Die Biden-Regierung setzt diese Politik fort und entwickelte neue Ansätze der Industriepolitik, wie sie bereits im »Innovation and Competition Act« von 2021 zum Ausdruck kommen. Parallel dazu hat die Europäische Union seit 2019 ihre Beziehungen zum »Systemrivalen« China neu ausgerichtet. Mit dem «Inflation Reduction Act« und den »CHIPS and Science Act« in den USA erreichte die neue Industriepolitik und technologische Abkopplung Chinas im Jahr 2022 eine neue Stufe; die EU zog in der ersten Jahreshälfte 2023 mit dem »Green Deal Industrial Plan« und einem eigenen »Chip Act« nach. 

Kipppunkt in der Geopolitik 

Die Volksrepublik China reagiert wenig beeindruckt ihrerseits mit Strafzöllen. Die strategische Förderung inländischer Zulieferstrukturen und endogener Technologieentwicklung ist spätestens seit dem »Made in China 2025«-Plan von 2015 fester Bestandteil der chinesischen Entwicklungsstrategie. Bereits seit der globalen Finanzkrise ab 2007 lassen sich zunehmende Bestrebungen Chinas beobachten, die Wertschöpfungskette emporzusteigen, den Binnenmarkt zu stärken und das einseitige Exportmodell aufzubrechen. Eigentlich haben wir es also nicht mit einer neuen Entwicklung zu tun – der entscheidende Punkt ist jedoch, dass der »Kipppunkt«, an dem Chinas ökonomische Macht diejenige der USA und anderer westlicher Länder überschreitet, nun gekommen ist. Unter den 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt waren im Jahr 2020 124 chinesische Unternehmen, 121 aus den USA und 96 aus der EU – zur Jahrtausendwende waren es lediglich elf chinesische Unternehmen, und 2010 waren es 61 gewesen. Bereits 2019 hat China die USA als größte Exportnation überholt und ist zum weltweit zweitgrößten Investor aufgestiegen. 2018 hat China die USA und die EU auch beim Welt-Bruttoinlandsprodukt überholt. Der jeweilige Anteil Chinas lag 2021 bei etwa 20 Prozent, derjenige der EU und der USA bei jeweils bei etwa 14 Prozent.

Der ökonomische und militärische Konflikt mit China wird bald alle anderen Fragen überlagern.

Von der »Werkbank der Welt« hat sich China zur hyperwettbewerbsfähigen Wirtschaftsmacht entwickelt. Chinesische Unternehmen liegen in diversen Schlüsselbereichen wie der 5G-Mobilfunktechnologie, Künstlicher Intelligenz, Cloud-Computing und Big Data gleichauf; bei der Entwicklung von Hochgeschwindigkeitszügen, Photovoltaikanlagen, Windkraftanlagen, E-Batterien und anderen Umwelttechnologien haben chinesische Firmen die Nase vorn. Lediglich bei der Herstellung von Mikrochips bleibt China auf westliche, insbesondere US-amerikanische Importe angewiesen. Die Politik des »De-Risking«, die letztlich eine Politik der strategischen Abkopplung der chinesischen Ökonomie darstellt, setzt in genau diesem Bereich an – der Wirtschaftskrieg ist vor allem auch ein »Chip-Krieg«.

Bedeutet diese Abkopplung eine kapitalistische De-Globalisierung? Allgemein lässt sich bisher von einer Verschiebung und Diversifizierung der globalen Wertschöpfungsketten sprechen. Die Internationalisierung des chinesischen Kapitals etwa schreitet ungebremst voran, nur sind Zielländer der Investitionen vermehrt Länder des Globalen Südens. Auch wenn in den USA gerade unter dem Schlagwort »Reshoring« zwar rege über Rückbauprozesse diskutiert wird, ist bisher allenfalls ein »Stocken der Internationalisierung oder eine Verschiebung transnationaler Produktionsnetzwerke« zu beobachten. (3) 

Allerdings ist zu bedenken, dass diese Prozesse erst an ihrem Anfang stehen. Ist der »geopolitische Kipppunkt« einmal erreicht, können die Dinge schnell ins Rutschen geraten. Der Ukraine-Krieg wirkt dabei als Katalysator. Die kritischen Chinawissenschaftler*innen Stefan Schmalz, Helena Gräf, Philipp Köncke und Lea Schneidemesser bezeichnen daher eine »stärkere Fragmentierung der Weltwirtschaft, bei der regionale Blöcke – zum Beispiel ein westlich-japanisches Konglomerat versus einen chinesisch-russischen Block – mit jeweils eng verflochtenen Wirtschaftskreisläufen und technologischen Innovationszentren« als ein »reales Entwicklungsszenario«. Wir stehen sehr wahrscheinlich tatsächlich am Beginn einer »kapitalistischen De-Globalisierung« – wobei das Verhältnis zwischen Kontinuität und Bruch in dieser neuen Phase des globalen Kapitalismus schwer vorherzusehen ist. Die Internationalisierung des Kapitals und imperialistische Wirtschaftsstrategien werden sich fortsetzen, jedoch nicht unter der unilateralen Vorherrschaft einer Supermacht. Stefan Schmalz und Co sprechen daher auch von einer »umkämpften Globalisierung«. 

Linke Globalisierungskritik – war da mal was? 

Was bedeuten die beginnende De-Globalisierung von oben und die neue Blockkonfrontation für die gesellschaftliche Linke? Allgemein scheinen Fragen der internationalen Geopolitik gegenüber sozial- oder klimapolitischen Fragen nicht hoch im Kurs zu sein. Doch wie die militärische Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland in der Ukraine und die mit ihm einhergehenden Verschiebungen des gesellschaftlichen Klimas und des politischen Koordinatensystems bereits erahnen lassen, wird der ökonomische und militärische Konflikt mit China alle anderen Fragestellungen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten überlagern. Die neue Blockkonfrontation hat massive Auswirkungen auf unsere Lebens- und Produktionsbedingungen. Im Energie, Agrar- oder Technologiesektor sind massive Engpässe, Preissteigerungen und möglicherweise qualitative Verschlechterungen zu erwarten. Schon jetzt bringt das Kapital eine »Agenda 2030« ins Spiel, um die verschlechterten Wettbewerbsbedingungen der Unternehmen durch eine »Verbesserung des Investitionsklimas« abzufedern. Die derzeitige Haushaltspolitik der Ampelregierung gibt die Richtung vor: Steuergeschenke fürs Kapital, Sozialkürzungen für die Lohnabhängigen.

Einen linken Ansatz, der diese unheilige Allianz aus Subventionspolitik im Interesse des Kapitals und neuer Sparpolitik zurückweist und ihr eine internationalistische Perspektive der Kooperation, Abrüstung und post-kapitalistischen Transformation einbettet, sucht man vergebens. Es rächt sich, was sich bereits seit Ausbruch der globalen Finanzkrise bemerkbar gemacht hat: Die gesellschaftliche Linke hat konkrete Konzepte politischer Intervention, revolutionärer ökonomischer Realpolitik und machtbasierter (auch auf den Staat bezogener) Strategien zu lange vernachlässigt. Der Schatten des Leitspruchs der globalisierungskritischen Bewegung: »Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen« (John Holloway) ragt bis in die Gegenwart. Fehlten in der Finanzkrise radikale ökonomische Alternativen gegen die Bankenrettung, in der Eurokrise gegen die Erpressungspolitik der Troika, in der Corona-Krise gegen den Lockdown-Light für die Wirtschaft und den Pharma-Kapitalismus, so mangelt es heute an Konzepten gegen die kapitalistisch verengte Industriepolitik und die allgemeine imperialistische Geopolitisierung der Wirtschaftspolitik. 

Ambivalente Industriepolitik 

Dabei ist die neue Industriepolitik selbst ambivalent zu beurteilen. Der Konflikt des Westens mit China ist insbesondere als ein Konflikt verschiedener Kapitalismus-Modelle zu verstehen, in welchem der Westen paradoxerweise Elemente des staatskapitalistischen Modells Chinas übernimmt, um dieses zugleich zu bekämpfen. Dreh- und Angelpunkt einer linken Antwort auf die neue Blockkonfrontation wie auch auf die Klimakatastrophe stellt die Auseinandersetzung um den neuen Staatsinterventionismus dar und damit auch um die Bewertung des chinesischen Entwicklungsmodells. Während Ingar Solty, Referent der Rosa-Luxemburg-Stiftung, den chinesischen Staatsinterventionismus als »objektiv progressiv« beschreibt, weist Philipp Könke in ak 693 einen positiven Bezug auf das chinesische politökonomische Modell zurück. So oder so – in einer sozialistischen Strategie müsste die Vertiefung ökonomischer Planung im Kapitalismus mit der kombinierten Entwicklung post-kapitalistischer Formen von Planung Hand in Hand gehen.

Die »neue Planungsdebatte«, die vor dem Hintergrund eskalierender Geopolitik und Klimakatastrophe konkrete Schritte benennt, um Preise und Investitionen zu kontrollieren und zu lenken, Unternehmen und Sektoren zu vergesellschaften und umzubauen und den Horizont einer demokratisch koordinierten Ökonomie aufzuspannen, stellt daher den angemessenen Ausgangspunkt für eine linke Antwort auf die neue Blockkonfrontation dar. Sie müsste eingebettet sein in eine internationalistische Perspektive des »klima- und industriepolitischen Multilateralismus und Technologietransfers« (Ingar Solty). Das von links artikulierte Konzept der De-Globalisierung, das bereits vor über 20 Jahren in die globalisierungskritische Debatte eingebracht wurde, hat seine Halbwertszeit derweil jedoch überschritten. Ähnlich wie beim Degrowth-Konzept ist es wenig überzeugend, im Zeitalter kapitalismus-inhärenter De-Globalisierung bzw. -inhärentem Degrowth noch am Alternativkonzept festzuhalten, dass als negatives Abziehbild des unilateralen globalen Kapitalismus zur Zeit seiner unangefochtenen Hegemonie entworfen wurde. Stattdessen müssten Konzepte der De-Globalisierung oder des Degrowth konkretisiert und radikalisiert werden, indem sie mit konkreten Ansätzen makroökonomischer Transformation und Planung verknüpft werden.

Samuel Decker

ist kritischer Ökonom und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Netzwerk Plurale Ökonomik.

Anmerkungen:

1) Ingar Solty: Die neue Blockkonfrontation. Hochtechnologie. (De-)Globalisierung. Geopolitik. ISW Report 133/134.

2) Stefan Schmalz u.a.: Umkämpfte Globalisierung: Amerikanische und europäische Reaktionen auf Chinas Aufstieg im Hochtechnologiebereich, in: Berliner Journal für Soziologie, Vol. 32, Issue 3, S. 427–454.

3) Florian Butollo und Cornelia Staritz: Deglobalisierung, Rekonfiguration oder Business as Usual? COVID-19 und die Grenzen der Rückverlagerung globalisierter Produktion, in: Berliner Journal für Soziologie, Vol. 32, Issue 3, S. 393–425.