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Her mit einem neuen Schuldenschnitt

Die Kampagne Debt for Climate erinnert an das Londoner Abkommen und fordert eine Entschuldung des Globalen Südens

Von Nico Graack

Als enger Vertrauter von Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichnete Hermann Josef Abs am 27. Februar 1953 das Schuldenabkommen unterzeichnen. Foto: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0

Die Nachkriegszeit hat sich als »Wirtschaftswunder« in den deutschen Diskurs eingebrannt. Aus den Erinnerungen an diese Zeit bezieht das Leuchten der »sozialen Marktwirtschaft« bis heute seine Strahlkraft. Doch ganz so wundersam war dieser kapitalistische Wachstumsschub in Wirklichkeit nicht. Denn er hatte eine Vorbedingung: das Londoner Schuldenabkommen, das in der Diskussion um den westdeutschen Wirtschaftsaufschwung verdrängt wird. 

Am 27. Februar 1953 wurden in der britischen Hauptstadt ein Großteil der Auslandsschulden der Bundesrepublik Deutschlands, des Nachfolgestaates des Dritten Reiches, erlassen und günstige Konditionen für die Rückzahlung des Rests vereinbart. An dieses Ereignis erinnert am 70. Jahrestag ein weltweiter Aktionstag der Kampagne Debt for Climate. (ak 684) Die Erinnerung an ein Ereignis bleibt nur lebendig, wenn Parallelen zur Gegenwart gezogen werden. Folgerichtig fordert die Kampagne einen Schuldenschnitt für die Länder des Globalen Südens, um den Raubbau an (fossilen) Rohstoffen zu verhindern und einen sozial-ökologischen Umbau zu finanzieren.

London: Krieg & Siegen

Nach dem Zweiten Weltkrieg war nicht nur Nazideutschland besiegt, sondern unter den Alliierten hatten sich die USA als unangefochtene Führungsmacht behauptet. Schnell kam es zur Blockkonfrontation mit der Sowjetunion. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges wurde aus dem besiegten Feind im Herzen Europas schnell ein wichtiger Verbündeter. Damit dieser Bündnispartner seinen Verteidigungspflichten nachkommen konnte, musste er unterstützt werden: Aus den USA flossen zahlreiche Hilfszahlungen und Warenlieferungen nach Europa, darunter auch die berühmten Hilfen des Marshall-Plans.

Das allein hätte Westdeutschland aber nicht im gebotenen Tempo für die Blockkonfrontation fit gemacht. Denn ein riesiger Schuldenberg belastete den Haushalt. Dieser stammte noch aus der Weimarer Republik und der Nazi-Zeit, für den die BRD formal die Verantwortung übernommen hatte.

1933 hatten die Nazis weitestgehend die Rückzahlung der Auslandskredite gestoppt, die Zinszahlungen häuften sich an. Das hatte zum einen politische Gründe, denn die vergebenen Kredite waren mit den verhassten Reparationszahlungen für den Ersten Weltkrieg verknüpft. Diese Verknüpfung war ein ideologischer Schachzug der Nazis: Zwar wurde 1924 der Dawes-Plan ausgearbeitet, der die Reparationszahlungen für die von der Inflation geschwächte Weimarer Republik regeln sollte, und in der Folge strömten große Mengen vor allem US-amerikanischen Kapitals ins Deutsche Reich. Diese Kredite wurden jedoch größtenteils nicht für Reparationen verwendet, da der Plan vorsah, dass die Rückzahlung kurzfristiger Kredite Vorrang vor Reparationen haben sollte. So profitierte vor allem die Privatwirtschaft, während die Reparationen nur tröpfchenweise flossen.

Ohne Entschuldung kein Ende des Raubbaus an (fossilen) Rohstoffen und kein ökologischer Umbau.

Als dieser Kapitalstrom infolge der Weltwirtschaftskrise ab 1929 abbrach und Deutschland plötzlich vor der Aufgabe stand, reale Zahlungen ohne ausländische Kredite leisten zu müssen, wurde der Young-Plan ausgearbeitet, der ebenfalls die Aufnahme respektive Vergabe von Krediten vorsah. Mit den frei gewordenen Mitteln aus der Einstellung der Rückzahlung dieser Kredite durch die NS-Regierung wurden dann die Hochrüstung, der Krieg und die systematische Auslöschung von Menschengruppen in den Konzentrationslagern finanziert.

Zusätzlich war die BRD mit den Schulden aus den Krediten des Marshall-Plans belastet – es musste eine Lösung her. Während England und Frankreich eher auf eine vollständige Rückzahlung setzten, strebten die USA auf größtmögliche Zugeständnisse – und setzten sich durch.

Erstens wurden von den insgesamt 32,3 Milliarden DM Schulden 17,8 Milliarden gestrichen. Hinzu kam: Die Zinssätze für die Schulden wurden viel niedriger angesetzt als bei Ausgabe der Kredite. Der Schuldenschnitt lag also weit über den oft kommunizierten 50 Prozent. 

Zweitens wurde die Rückzahlung der Restschuld an die Wirtschaftskraft der BRD gekoppelt. Das Verhältnis von Schuldendienst zu Exporterlösen sollte fünf Prozent nicht überschreiten. Bei einer Verschlechterung der Wirtschaftskraft waren zudem Nachverhandlungen vorgesehen. Und drittens setzten sich die USA noch mit einer weiteren Forderung durch: Die Alliierten beschlossen einen Exportstopp für Güter, die die BRD selbst herstellen konnte, um so den Wiederaufbau einer eigenständigen Industrie zu fördern.

Die Wirkung dieser Maßnahmen war enorm. Das deutsche Kapital erholte sich nicht nur, es wurde zur stärksten Kraft in Europa. Besonders zynisch ist, wer in London für die BRD seine Unterschrift unter das Schuldenabkommen setzte: Hermann Josef Abs. Er saß im Vorstand der Deutschen Bank und im Aufsichtsrat der IG Farben, die wie kaum ein anderes Unternehmen mit Zwangsarbeiter*innen in den Konzentrationslagern Profit gemacht und mit ihrer Tochtergesellschaft Degesch das Zyklon B für die Vernichtungslager hergestellt hatte. Während Abs vor 1945 einer der Hauptakteur*innen bei der Enteignung jüdischen Eigentums war, durfte er als enger Vertrauter von Bundeskanzler Konrad Adenauer die deutsche Delegation in London leiten. Während man also gerne von Entnazifizierung sprach, galt für die Alliierten im Kalten Krieg vor allem, dass man »den Kapitalismus nicht vor Gericht stellen wollte«, um es mit den Worten des Journalisten David de Jong zu sagen – auch dann nicht, wenn er in seiner faschistischen Form gewütet hatte.

Schulden als Kolonialismus

Ein Schuldenschnitt ist also möglich, wenn er politisch gewollt ist. In der »Schuldenkrise« des Globalen Südens zeigt sich heute jedoch das genaue Gegenteil der oben genannten Punkte: Erstens wird ein Schuldenschnitt kategorisch ausgeschlossen. Zweitens müssen Staaten wie der Libanon 80 Prozent ihrer Exporterlöse als Schuldenzahlungen in den Globalen Norden transferieren und sind damit drittens zu einem Dasein als billige Rohstofflieferanten verdammt. Unter diesen Bedingungen kann weder eine eigenständige Wirtschaft noch ein funktionierendes Sozialsystem entstehen. Und das ist keine »Krise«, sondern hat System und Kontinuität. Es sichert den Unternehmen des Globalen Nordens den Zugang zu billigem Öl, Gas und Metallen.

Hier setzt die Kampagne Debt for Climate an: Das Schuldensystem ist die treibende Kraft hinter der Klima- und Umweltzerstörung durch Öl- und Gasfelder und Megaminen. Die betroffenen Länder haben kaum eine andere Möglichkeit, den enormen Schuldendienst zu leisten und die hohen Zinsen zu bedienen, als ihre Ressourcen den Rohstoffkonzernen des Globalen Nordens zu öffnen – die dann im Zweifelsfall mit roher Gewalt gegen den Willen der lokalen, oft indigenen Bevölkerung die Landschaft verwüsten. Die Architekten und Verwalter dieser neuen Form von Kolonialismus – allen voran der Internationale Währungsfonds und die Weltbank – investieren nicht nur selbst direkt in fossile Energieförderung. Sie drängen die Staaten auch, die Förderung auszuweiten, um ihre Schulden bedienen zu können – wie zum Beispiel aktuell im südamerikanischen Suriname, das über reiche Offshore-Ölvorkommen verfügt, die nun von Total, ExxonMobil & Co. ausgebeutet werden dürfen. Wenn wir auf diesem Planeten überleben wollen, müssen wir die Schulden streichen. London zeigt, dass das möglich ist.

Nico Graack

ist freier Autor und Philosoph. Er arbeitet am Institut für Philosophie, Psychoanalyse und Kulturwissenschaften in Berlin und engagiert sich in verschiedenen Klimakontexten.