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|ak 655 | Feminismus

Das Recht auf Selbstbestimmung ist in Gefahr

Drei Aktivistinnen des Bündnisses Feminism Unlimited *Kassel über ihren Kampf gegen reaktionäre Abtreibungsgegner*innen

Interview: İnci Arslan

Am 16. November rief ein lokales Bündnis in Kassel zu Protesten gegen Abtreibungsgegner*innen auf. Diese treffen sich halbjährlich in der nordhessischen Stadt zur Vernetzung ihrer bundesweiten Aktivitäten. Dabei reiste auch Prominenz aus der sogenannten Lebensschutzbewegung an. Knapp 200 Personen nahmen an der Gegenkundgebung teil, darunter Norma, Noemi und Lore, die im Gespräch mit ak erklären, wie und weshalb sie gegen Abtreibungsgegner*innen kämpfen.

Ihr seid am 16. November auf die Straße gegangen, um gegen Abtreibungsgegner*innen zu protestieren. Was war der Anlass, und wer rief dazu auf?

Norma: Bis zu zweimal im Jahr veranstaltet ein Netzwerk mit dem Namen Treffen Christlicher Lebenrechts-Gruppen, TCLG, das sogenannte Lebensrecht-Forum in Kassel. Das Motto des Novembertreffens lautete: Mut zum Kind – trotz Zukunftsangst. Zentral geht es um die Bekämpfung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch und die Verbreitung konservativer Geschlechter- und Familienbilder.

Noemi: Aufgerufen zu Gegenprotesten hatte ein breites Bündnis aus Einzelpersonen, Gruppen und Initiativen. Angestoßen wurden die Aktionen von uns als Feminism Unlimited *Kassel, FU*K. Wir haben damit an ähnliche Proteste angeknüpft, die es bereits 2016 gab. Bislang haben wir uns vor allem in der Solidaritätsarbeit für Nora Szasz und Natascha Niklaus engagiert. Das sind die beiden Gynäkologinnen aus Kassel, die von Yannic Hendricks auf Grundlage des Paragraphen 219a angezeigt und danach angeklagt wurden.

Norma, Noemi und Lore

sind aktiv bei Feminism Unlimited *Kassel. Die Gruppe hat sich Ende 2017 gegründet als nach Kristina Hänel aus Gießen auch Nora Szasz und Natascha Nicklaus aus Kassel eine Anzeige erhielten. Die Ärztinnen führen Schwangerschaftsabbrüche durch und listen diese medizinische Leistung auf ihrer Webseite auf – dies wird insbesondere von Abtreibungsgegner*innen, aber auch von Gerichten, auf Grundlage des §219a des StGB als »Werbung« für Schwangerschaftsabbrüche gesehen und ist somit strafbar. FU*K haben daher 2017 und 2018 verschiedene Diskussions- und Infoveranstaltungen sowie eine Demo in Solidarität mit den beiden Gynäkologinnen und den weltweiten Kämpfen um reproduktive Gerechtigkeit organisiert.

Könnt ihr genauer erklären, wer das Treffen Christlicher Lebenrechtsgruppen ist und welche Agenda das Netzwerk verfolgt?

Lore: Das TCLG ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Stuttgart, der aus einem seit 1986 bestehenden informellen Vernetzungstreffen hervorging. Das Netzwerk setzt sich gegen das Recht auf Abtreibung ein. Ab der Zeugung beginnt für diese Leute menschliches Leben, zu dessen Schutz sie sich verpflichtet fühlen. Und das heißt dann eben, dass körperliche Selbstbestimmung von Schwangeren keine Rolle spielt. Als Referenten waren am 16. November Personen aus dem Vorstand des Weißen Kreuzes geladen.

Was ist das?

Norma: Das ist ein christlich-seelsorgerischer Verein, der zum Beispiel 2014 für Aufmerksamkeit sorgte, als Referenten eingeladen worden waren, die sich für die Therapie von Homosexualität aussprechen und sie anbieten. Auch der Gynäkologe Dr. Michael Kiworr hielt einen Vortrag. Er gehört zu den prominenten Abtreibungsgegnern in Deutschland und verbreitet publizistisch, durch Vorträge und Reden, etwa auf dem Marsch für das Leben in Berlin, seine reaktionäre Propaganda. Trotz Fehlen von entsprechenden Forschungsergebnissen, behauptet er, dass Schwangerschaftsabbrüche Traumatisierungen verursachten. Gemein ist allen Rednern, dass sie sich nicht um das Leben und den Selbstbestimmungsanspruch von Schwangeren oder Gebärenden scheren.

Abtreibungsgegnern scheint es immer besser zu gelingen, ihre Botschaften positiv zu verpacken, sich progressive Erscheinungsbilder zu geben. Wie lässt sich dieser sanften Rhetorik vom angeblichen Lebensschutz begegnen?

Lore: Die Strukturen und Vernetzungen müssen offengelegt werden. Ihre Auftritte und ihr vertretenes Weltbild müssen Widerspruch erfahren und einer Kritik unterzogen werden. Dazu gilt es, emanzipatorische Errungenschaften der Vergangenheit aufzuzeigen und zu verteidigen. Auch die antifeministischen, autoritären Konsequenzen einer Politik im Geiste der Abtreibungsgegner müssen in den Vordergrund rücken.

Was meint ihr damit?

Noemi: Wir gehören zu einer Generation, die mit derbedingten Straffreiheit von Abtreibungen großgeworden ist. In Europa und Deutschland gibt es heute jedoch viele Regionen, in denen es für ungewollt Schwangere fast unmöglich ist, einen Abbruch durchzuführen. Das Recht auf Selbstbestimmung ist in Gefahr.

Es gibt viele Gründe, Angst vor der Zukunft zu haben, aber eben gerade deswegen, weil wir in einer patriarchalen Gesellschaft leben, in der fundamentalistische Gruppen immer größeren Einfluss gewinnen. 

Norma

Norma: Es gibt viele Gründe, Angst vor der Zukunft zu haben, aber eben gerade deswegen, weil wir in einer patriarchalen Gesellschaft leben, in der fundamentalistische Gruppen immer größeren Einfluss gewinnen. Sie marschieren mindestens einmal im Jahr in Berlin und anderen Städten und haben gute Verbindungen zu CDU- und AfD-Abgeordneten. Rechte, extrem rechte und nationalautoritäre Kräfte werden weltweit stärker, so dass die Gefahr besteht, dass von vergangenen Generationen erkämpfte Rechte zurückgenommen werden.

Noemi: Zudem haben wir auch aus materiellen Gründen Angst vor der Zukunft. Sie entsteht durch Lohnarbeitszwang, prekäre Beschäftigungen und unzureichende Infrastruktur für Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung und Pflege. Immer mehr gesellschaftlich gestützte Strukturen werden durch Privatisierung oder Kürzungen eingestampft. Ein aktuelles Beispiel aus der nordhessischen Region ist das Vorgehen der Gesundheit Nordhessen Holding, die aus Profitgründen eine Klinik in Wolfhagen schließen und ihre Seniorenwohnanlage in Kassel neu ausrichten will. Was sicherlich nicht Antwort auf diese Ängste ist, sind Gebärzwang und Austragungspflicht. Die Aussicht darauf, unfreiwillig ein Kind austragen und großziehen zu müssen, oder sich einem illegalen Hinterhofabbruch zu unterziehen, ist das Gegenteil von angstfreier Existenz. Wer sich dem Zwang zur Geburt ausgesetzt sieht, steht unter einem höherem Risiko arm zu bleiben, in missbräuchlichen Beziehungen gefangen zu sein, Gewalt durch den Partner zu erfahren.

Was sind stattdessen eure Forderungen?

Lore: Das Recht auf Abtreibung muss endlich vollumfänglich und kostenlos durchgesetzt werden. Der Paragraf 218 muss aus dem Strafgesetzbuch verschwinden. Abtreibung ist ein Menschenrecht, keine Straftat. Ungewollte Schwangerschaften wird es immer geben. Es geht um ein selbstbestimmtes Leben, in der Gegenwart. Wir müssen füreinander sorgen, das ist eine Grundbedingung menschlicher Existenz. Es geht darum, solidarische Strukturen zu schaffen, vielfältige Familien- und Lebensformen anzuerkennen, damit Menschen – wenn sie das denn wollen! – sich zutrauen, Kinder zu bekommen und großzuziehen.

Wie lief denn die Aktion am 16. November?

Norma: Zunächst haben wir uns direkt am Ort des Treffens der Abtreibungsgegner versammelt, dem »Friedenshof«. Wir haben den ankommenden Teilnehmern einen lautstarken Empfang bereitet, um sie nicht ungestört und abgeschirmt zu ihrer Reaktionärsversammlung gelangen zu lassen. Es gab Redebeiträge, die beispielsweise die prekäre Situation in Sachen medizinischer Versorgung für trans und inter Personen beleuchtet haben, die auch Konsequenz einer nach wie vor bestehenden Normierungswut im Gesundheitswesen ist. Nora Szasz, die angeklagte Gynäkologin aus Kassel, hat über die Anfeindungen gesprochen, denen sie sich auch von ihren Kollegen kommend ausgesetzt sieht, weil sie Schwangerschaftsabbrüche in ihrer Praxis durchführt. An der anschließenden Demonstration zur Abschlusskundgebung in die Innenstadt nahmen 200 Personen teil, die lautstark die Forderung nach dem Recht auf körperliche Selbstbestimmung auf die Straße trugen und klarmachten, dass sich die Fundis weder in Kassel noch anderswo unwidersprochen treffen dürfen. 

İnci Arslan

ist Autorin und Aktivistin aus Berlin.