analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 684 | Ökologie

Das Knie vom Nacken des Globalen Südens nehmen

Klima- und soziale Kämpfe könnten mit der Forderung nach einem Schuldenerlass zusammengebracht werden. Das ist das Ziel der Kampagne Debt for Climate

Von Nico Graack

Freundlich lächelnd »Opferzonen« kreieren: Die damalige IWF-Chefin Lagarde sichert 2018 dem damaligen Präsidenten Argentiniens Macri einen Rekordkredit zu. Foto: Casa Rosada/Wikimedia, CC BY 2.5 AR

Schon der südamerikanische Schriftsteller Eduardo Galeano beschrieb in seinem bahnbrechenden Buch »Die offenen Adern Lateinamerikas« von 1971 Schulden als eines der Hauptinstrumente in der Ausbeutung des heute sogenannten Globalen Südens. Seither bluten diese offenen Venen brutaler aus denn je: Mit den Strukturanpassungsprogrammen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) stieg die städtische Armutsrate allein in Südamerika von Anfang der 1980er bis Ende der 1990er Jahre um 50 Prozent, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der afrikanischen Staaten sank im Durchschnitt um etwa zehn Prozent und die Anzahl von Menschen, die mit unter fünf Dollar pro Tag leben müssen, stieg um eine Milliarde (1). Die Kredite von IWF und Weltbank zwangen die Staaten zu starken Kürzungen staatlicher Leistungen und Investitionen, zu einem Ausverkauf staatlichen Eigentums sowie zur Öffnung ihrer Märkte für das Kapital aus den USA und Europa, insbesondere in der Förderung von fossilen Brennstoffen und Metallen. 

Nun greifen Klimaaktivist*innen eine Forderung auf, die erstmals in den 1980er Jahren in den als »IMF riots« bekannt gewordenen Protestwellen im Globalen Süden erhoben und von der Anti-Globalisierungsbewegung der 1990er und 2000er Jahre aufgegriffen wurde: den Schuldenerlass für den Globalen Süden. Angefacht u.a. durch heftige soziale Proteste in Argentinien gegen die Politik, die aus dem größten IWF-Kredit aller Zeiten resultiert, fanden sich Aktivist*innen aus über 24 Ländern unter dem Namen »Debt for Climate« (debtforclimate.org) zusammen. Mit dem Schuldenerlass haben wir – der Autor ist Teil dieser Kampagne – einen mächtigen Hebel gefunden, an dem soziale Bewegungen und Klimabewegungen gemeinsam ansetzen können: Schulden sind eines der Hauptinstrumente im Abschöpfen von Werten aus dem Globalen Süden – und sie sind damit einer der Haupttreiber der Naturzerstörung. 

Ausbeutung ohne Putsch

Die kontinuierliche Ausbeutung des Globalen Südens, die seit der Kolonialzeit die Industrialisierung und Vormachtstellung Europas und später der USA ermöglichte, schien sich in den 1950er bis 1970er Jahren nicht ohne Weiteres fortsetzen zu lassen. Die zu neuem Selbstbewusstsein gelangten ehemaligen Kolonien setzten unter demokratisch gewählten Regierungen Maßnahmen durch, die die Abhängigkeit vom westlichen Kapital untergruben: Schutzzölle, Mindestlöhne, Enteignungen westlicher Konzerne, Kooperationen untereinander zum Erhalt von Rohstoffpreisen – das erste und einzige Mal seit der Kolonialzeit schrumpfte die Ungleichheit zwischen Nord und Süd. 1973 wurde von der UN-Generalversammlung die »New International Economic Order« beschlossen. Sie hatte das Ziel, viele dieser Entwicklungen zu verstetigen, auszubauen und vor westlichen Interventionen zu schützen. 

Ein Trend jedoch wirkte dem entgegen: Insbesondere die USA unterstützten Putsche und setzten Militärdiktaturen ein, die dem von Friedrich von Hayek und Milton Friedman ausgetüftelten Neoliberalismus folgten und dem westlichen Kapital wieder freien Zugriff gewährten. Das bekannteste und radikalste Beispiel ist sicherlich der Putsch in Chile 1973. 

Ohne einen Schuldenerlass kann es keinen Stopp der zerstörerischen Rohstoffproduktion im Globalen Süden geben.

Dieses Instrument des (Neo-)Kolonialismus hat nicht ausgedient, doch fungiert es heute zumeist als Drohung. Als viel eleganter – und letztlich lukrativer – hat sich im Zuge der Ölkrise 1973 ein anderes Instrument erwiesen: Schulden. Damals überspülten riesige Mengen Geld den US-Finanzmarkt. Die sogenannten Petrodollars hatten sich dank des hohen Ölpreises in den erdölexportierenden Staaten (OPEC) angehäuft und konnten in den eigenen Volkswirtschaften nicht mehr sinnvoll investiert werden. Doch auch in den USA (oder Europa) bot die wirtschaftliche Lage nicht allzu viel Investitionsmöglichkeiten. Da kam die Idee auf, Kredite an den Globalen Süden auszugeben. Die Banker*innen – auf Provisionsbasis bezahlt – überschlugen sich mit dem Abschließen riskanter Kredite.

Das Geschäftsfeld wurde mithilfe des IWF und der Weltbank zu einer der sichersten Anlagen überhaupt ausgebaut: Zahlungsunfähigkeit und Risiko für die Gläubiger gibt es nicht mehr. Im Zuge der Strukturanpassungsprogramme müssen die Schuldner erstens einen immer größeren Anteil ihrer Ausgaben in das Bedienen der Kredite und in teils horrende Zinsen und Zinseszinsen umleiten. Das geht zulasten von Sozialsystemen und Investitionen in die Produktion, die sie unabhängig von Importen aus dem Westen oder gar zu mehr als bloßen Rohstofflieferanten machen würden. 

Zweitens mussten sich die Staaten des Südens für westliches Kapital öffnen; die Fortschritte der unmittelbaren Post-Kolonialzeit wurden zu großen Teilen wieder abgewickelt, mit den eingangs erwähnten verheerenden sozialen Folgen. Das Ganze war nicht nur nicht mehr auf gewaltsame Putsche angewiesen, deren ideologische Legitimation – der Kampf gegen den Kommunismus im Kalten Krieg – zumeist ausgedient hatte, sondern konnte zudem noch als »Entwicklung« verkauft werden.

Dazu kommt: IWF, Weltbank und die Welthandelsorganisation (WTO) sind in der Hand der G7-Staaten, der sieben führenden Industrienationen. Schon die G7-Versammlung selbst wurde maßgeblich als Antwort auf die Bewegungen wirtschaftlicher Unabhängigkeit im Globalen Süden der 1950er bis 70er Jahre entwickelt. Die Stimmanteile werden anhand wirtschaftlicher Stärke vergeben. Obwohl sie ca. 85 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren, haben Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen nur ca. 40 Prozent der Stimmenanteile. Selbst wenn sich der gesamte Globale Süden gemeinsam organisieren würde, könnten sie auf der formalen Ebene keine IWF oder Weltbank-Entscheidung stoppen.

Natur den Schulden opfern

Sich für westliches Kapital öffnen bedeutet zumeist, Rohstoffe zu exportieren: Öl und Gas, Gold, Kupfer, Lithium etc. – die soziale Zerstörung des Globalen Südens geht Hand in Hand mit der Zerstörung der Natur. Beispiel Argentinien: Dort dienen die hohen Schulden immer wieder als ideologische Begründung und ökonomischer Druck, um die extrem schädliche Frackingförderung von Gas gegen jeden Protest der lokalen – oft indigenen – Bevölkerung durchzudrücken. Andrés Blanco von der Frente de Izquierda (»Linke Front«) sagt dazu: »Für den Fonds [IWF] ist die Provinz Neuquén eine Opferzone für die Beschaffung von Dollars«. 

Den vorläufigen Höhepunkt der Bildung von »Opferzonen« bildet in Argentinien der Macri-Kredit: 2018 gewährte der IWF der damaligen Regierung unter dem rechtsliberalen Mauricio Macri den höchsten jemals genehmigten Kredit über ca. 50 Milliarden US-Dollar. Das verstieß nicht nur gegen Argentiniens Gesetze, da Macri die Entscheidung ohne das Parlament traf, sondern auch gegen die internen Richtlinien des IWF, denn Argentinien leidet unter starker Kapitalflucht. Und eben jene Kapitalflucht einflussreicher Freund*innen Macris wurde dann auch damit finanziert – während gleichzeitig Banken in Argentinien, die aus Angst vor einer neuen linken Regierung angedroht hatten, das Land zu verlassen, mit Geschenken besänftigt wurden, die Frackingförderung von Gas weiter vorangetrieben wurde und die Reallöhne während Macris Regentschaft im Schnitt um 20 Prozent fielen

Die aktuelle Regierung hat im März einen Deal mit dem IWF über die Rückzahlung ausgehandelt. Dieser heizte die anhaltenden Proteste gegen die Sparpolitik der Kreditbedienung weiter an. Der IWF hat zwar keine direkten Sparmaßnahmen verordnet, wird aber in regelmäßigen Abständen über die Staatsfinanzen wachen und hat die Inflationsbekämpfung zum Hauptziel erklärt. Laut einer Analyse des Lateinamerikanischen Zentrums für strategische Analysen (CLAE) verschärft sich damit ein Trend, den die Schuldenpolitik immer schon bedeutete: Das Geld kann nicht anders als durch die Exportindustrie für Rohstoffe beschafft werden, Geld für Investitionen in eine unabhängige Wirtschaft oder gar für eine ausreichende Sozialpolitik in einem Land, in dem 40 Prozent unter der Armutsgrenze leben, ist damit von vornherein ausgeschlossen

Insbesondere die Minen und Fracking-Gasfelder verseuchen weiträumig das Grundwasser, vertreiben brutal die einheimische Bevölkerung und heizen den Klimawandel an. Alleine die Schiefergasfelder Argentiniens würden bei vollständiger Ausbeutung 15 Prozent des globalen Kohlenstoffbudgets für das 1,5°-Ziel verbrauchen. Und das ist nur ein Beispiel. So wird der Senegal von der Weltbank zum Ausbau der Öl- und Gasförderung genötigt, während es mit der Rückzahlung seiner Schulden – etwa 70 Prozent des BIP – kämpft. Das Gleiche gilt für Mosambik. Dieser Fall zeigt noch einen anderen Teufelskreis: Die Auswirkungen des Klimawandels – befeuert durch die Schuldenpolitik – führen zur Aufnahme von mehr Schulden. 2019 musste das Land zur Bewältigung der Schäden durch einen Zyklon einen Kredit von IWF über 118 Millionen Dollar aufnehmen

Wer schuldet eigentlich wem etwas? 

Der Blick auf das Thema Verschuldung durch die Klimabrille bietet eine weitere Perspektivverschiebung: Ein Schuldenerlass ist eine Möglichkeit für den Globalen Norden, seine Klimaschuld zu bezahlen. Historisch sind die Staaten des Globalen Nordens für mindestens drei Mal so viel Emissionen verantwortlich wie die Staaten des Globalen Südens – und da ist von Umweltverschmutzung, Vertreibungen und Ermordungen noch keine Rede. 

Deshalb hat die neue Vernetzung Debt for Climate einen strategischen Punkt getroffen: Die Forderung nach einem Schuldenerlass verbindet soziale und antikoloniale Kämpfe sowie den Klimakampf miteinander. Ohne einen Schuldenerlass kann es keinen Stopp der zerstörerischen Rohstoffproduktion im Globalen Süden geben. Denn genau für deren Erhalt und Ausbau ist das Schuldensystem konzipiert. Und ohne einen Schuldenerlass kann es keinen wirksamen Kampf gegen Armut geben, weil das Schuldensystem Länder zu Rohstofflieferanten degradiert und somit weiter Armut produziert. Dieses System ist die heute dominante Form des Kolonialismus. 

Ein erster Mobilisierungserfolg bezeugt diesen Treffer: Bis zur ersten großen Aktion zum diesjährigen G7-Gipfel im bayerischen Schloss Elmau Ende Juni hatten sich Aktivist*innen und Arbeiter*innen aus 24 Ländern zusammengeschlossen. Insbesondere im Globalen Süden, wie in Argentinien, versammelten sich Gewerkschaften, soziale Bewegungen und Klimabewegungen gemeinsam. Hieran gilt es anzuknüpfen, als nächstes bei den Mobilisierungen für die Klimakonferenz COP27 in Ägypten im November. Auf diese Weise könnte aus den Mobilisierungen irgendwann einmal der Sargnagel für den Kolonialismus und das fossile System entstehen. In den Worten des vermutlich unter Beteiligung von Frankreich ermordeten Revolutionärs Thomas Sankara, der im Begriff war, eine afrikaweite Zahlungsverweigerung zu organisieren: »Schulden sind Neokolonialismus. (…) Die Schulden können nicht zurückbezahlt werden. Wenn wir nicht bezahlen, werden die Gläubiger nicht sterben. Das ist klar. Aber wenn wir zahlen, werden wir sterben. Das ist auch klar.«

Nico Graack

ist freier Autor und Philosoph. Er engagiert sich gegen die sozial-ökologische Marktkatastrophe.

Anmerkung:

1) Siehe insbesondere das Kapitel »Debt and the economics of planned misery« von Jason Hickel: The Divide: A Brief Guide to Global Inequality and its Solutions, London 2017. Dieses Buch ist eine kaum zu überschätzende Ressource in der Analyse der Ausbeutung des Globalen Südens. Wo nicht anders angegeben, beziehen sich meine Rekonstruktionen und Daten auf dieses Werk.