Das ist keine linke Regierung
Warum Nicolás Maduro vor allem die Bourgeoisie Venezuelas repräsentiert und was der Chavismus damit zu tun hat, berichten Simón Rodríguez und Atenea Jiménez
Interview: Michael Karrer
In Venezuela gehen dieser Tage die Auseinandersetzungen um die umstrittenen Präsidentschaftswahlen vom 28. Juli weiter. Amtsinhaber Nicolás Maduro wurde vom Nationalen Wahlrat zum Sieger erklärt. Obwohl die Wahlen von Unregelmäßigkeiten geprägt waren (ak 706), hat der Oberste Gerichtshof die Ergebnisse bestätigt. In den Tagen nach der Wahl kam es in vielen Teilen des Landes zu Protesten, bei denen 25 Menschen getötet und zahlreiche verletzt wurden. Über 2.000 Personen, darunter 100 Minderjährige, sollen dabei festgenommen worden sein. Angesichts dieser Ereignisse wächst die Wut in der Bevölkerung, die seit Jahren unter einer ökonomischen Katastrophe leidet. So kam es auch in marginalisierten Stadtteilen wie Petare und Catia in Caracas, die lange Zeit als Hochburgen des Chavismus galten, zu beachtlichen Mobilisierungen. Immer mehr Linke, darunter auch (ehemalige) Unterstützer*innen des Bolivarianismus, schließen sich zu neuen Koalitionen gegen die Regierung zusammen. Das Gespräch mit den venezolanischen Aktivist*innen Atenea Jiménez und Simón Rodríguez fand am 30. August statt.
In den vergangenen Tagen wurden Stellungnahmen (1) mit einer dezidiert linken Perspektive veröffentlicht, in denen das Vorgehen der Regierung als Staatsterrorismus und diktatorisch bezeichnet wird. Hat die Linke in Venezuela endgültig mit der Regierung Maduro gebrochen?
Simón Rodríguez: Diese Regierung repräsentiert einen Teil der venezolanischen Bourgeoisie, sowohl aus dem Militär mit seinen mafiösen Geschäften im Bergbau und Warenschmuggel als auch aus den aufstrebenden Unternehmer*innenschichten. Diese haben seit zwei Jahrzehnten große Vermögen durch Devisenarbitrage angehäuft. Das ist die Regierung, die das Volk (2) unterdrückt, weil dieses seine demokratischen Rechte verteidigt. Und die zugleich für die größte wirtschaftliche Konterrevolution verantwortlich ist, die es je in Lateinamerika gab. 80 Prozent der venezolanischen Wirtschaft wurden zerstört, ohne dass es einen Krieg oder eine Naturkatastrophe gegeben hat. Und das begann lange vor den Ölsanktionen von 2019. Aber es ist wichtig, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, an dem das Regime diktatorische Züge angenommen hat. 2015 war die letzte Wahl, die unter mehr oder weniger demokratischen Bedingungen stattfand. Damals verlor die Regierung 2/3 der Mandate in der Nationalversammlung. Das war eine Protestwahl, genau wie heute, gegen eine korrupte Regierung von Milliardären, die sich als Sozialist*innen tarnen. Nach dieser Wahlniederlage hat die Regierung die venezolanische Versammlung entmachtet, und seither haben wir eine De-facto-Regierung, die verfassungsmäßige Garantien außer Kraft gesetzt hat. Dazu kommen Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen und der Paramilitarismus. Es ist also richtig, von Staatsterrorismus zu sprechen.
Atenea Jiménez
ist Soziologin und Gründerin des kommunitären Netzwerks Red Nacional de Comuner@s in Venezuela sowie der bäuerlichen Universität Universidad Campesina de Venezuela Argimiro Gabaldón. Derzeit ist sie in einer Vernetzung (noch ohne Namen) aktiv, die eine große Bandbreite linker Strömungen in Venezuela vereint und deren zentrales Anliegen die Verteidigung der Verfassung ist. In diesem Rahmen sollen in Zukunft auch internationale Solidaritätskomitees organisiert werden.
Simón Rodríguez
ist Mitbegründer des Partido Socialismo y Libertad (PSL) in Venezuela, einer marxistischen Partei trotzkistischer Prägung, die zwischen 2012 und 2015 an Wahlen teilnahm. Der PSL spielte eine wichtige Rolle bei der Gründung der Nationalen Arbeiterunion UNETE und ist führende Opposition in der Vereinigten Föderation der Ölarbeiter FUTPV. Simón Rodríguez ist außerdem Buchautor und Redakteur bei Venezuelanvoices.org.
Atenea Jiménez: Wenn ich die politische Situation im Nachhinein betrachte, stimme ich zu, dass es 2015 einen Bruch gab. Aber diejenigen von uns, die in Basisbewegungen (movimientos popular) oder auch in der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) aktiv waren, dachten lange noch, dass es sich um Probleme handelt, die gelöst werden können, ohne das autoritäre Abdriften zu erwarten, das wir heute haben. Für die Bewegung der Comunas (3) erfolgte der wichtigste Bruch im Jahr 2017, als wir inmitten einer politischen Krise zur verfassungsgebenden Nationalversammlung einberufen wurden. Wir entschieden damals, uns mit einer kritischen Position, die wir als „unbändigen Chavismo“ bezeichneten, in diesen Prozess einzubringen, um den Aufbau einer Gegenmacht voranzubringen.
Wir stellten unsere Liste mit den Kandidat*innen auf. Aber genau wie heute waren laut offiziellem Ergebnis alle Wahlsieger*innen vom PSUV oder ihm nahestehend. Danach wurde in einigen Comunas darüber debattiert, an den nächsten Wahlen nicht mehr teilzunehmen und klar zu sagen: Wir wurden von unserer eigenen Regierung beraubt. Ich muss allerdings sagen, dass es viele Comunas gibt, die immer noch davon überzeugt sind, dass die bestehenden Strukturen für sie funktionieren.
Chávez versuchte durchaus, Beteiligung zu ermöglichen, aber von Anfang an gab es so etwas wie einen internen Klassenkampf.
Atenea Jiménez
Seinerzeit schlossen sich viele linke Aktivist*innen dem »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« von Hugo Chávez an und sahen in den Kommunalen Räten eine Plattform für ihre eigene politische Agenda. Wie blickt ihr heute auf das Verhältnis von Basisorganisierung und Staatlichkeit?
Atenea Jiménez: Ich komme ursprünglich aus der Studierendenbewegung, die sich gegen den Neoliberalismus in der Vierten Republik (vor 1999, Anm. ak) einsetzte. Die Nachbarschafts-, Kultur- und Umweltbewegungen kämpften auf der Straße für die Verteidigung der Demokratie, für kostenlose Bildung und eine öffentliche Gesundheitsversorgung. Als Chávez die Bühne betrat, sahen fast alle dieser Bewegungen in seinem Projekt eine Chance für eine große Koalition. Obwohl er anfangs weder behauptete, links zu sein noch Sozialist, brach sein nationalistisches Programm mit den bestehenden degradierten und korrupten Verhältnissen.
Chávez versuchte durchaus, Beteiligung zu ermöglichen, aber von Anfang an gab es so etwas wie einen internen Klassenkampf. Chávez wurde von Teilen des Bürgertums, der Mittelschicht, der Bäuer*innen und der bereiten Volksschichten begleitet. Es war ein Karneval der politischen und ideologischen Positionen. In dieser ersten Phase konnten wir beträchtliche Fortschritte erzielen, was die Wiedererlangung sozialer und politischer Rechte betrifft. Aber die Widersprüche, die von Beginn an da waren, haben sich weiter verschärft. So sehr, dass die kommunitären Bewegungen mehr Reibungen mit Sektoren innerhalb des Chavismus hatten als mit den rechten Kräften im Land.
Maduro fing dann an, autoritäre und durch die Partei kontrollierte Strukturen auf lokaler Ebene zu schaffen, bei denen eine Art von ehrenamtlichen Funktionär*innen gegen demokratisch gewählte Vertreter*innen vorgingen. Jedes Mal, wenn wir den Ausbau direktdemokratischer Elemente oder etwa eigener Produktionseinheiten auf kommunaler Ebene vorantreiben wollten, wurden wir ausgebremst. Das hat nicht nur zur Schwächung der Bewegung geführt, sondern der Gesellschaft als solcher, denn Bewegungen sind ein organischer Ausdruck der Gesellschaft. Die Tatsache, dass die Linke diesmal keinen aussichtsreichen Kandidaten hatte, ist das Ergebnis einer Politik, die darauf abzielt, alles auszuschalten, was eine Konkurrenz für Maduro darstellen könnte.
Simón Rodríguez: Der PSUV wurde von Chavez mit der Absicht gegründet, einen korporativen Apparat zu schaffen, der den Prozessen der Selbstorganisation, die die venezolanische Bevölkerung seit den 1980er Jahren vorantrieb, ein Ende setzen würde. Der venezolanische revolutionäre Prozess wurde nicht vom Chavismo initiiert. Der Chavismo hat ihn kooptiert, unterdrückt und schließlich zerstört. Chávez selbst sagte, dass seine Partei die Gewerkschaftsautonomie nicht dulden werde, da sie ein konterrevolutionäres Gift der Vierten Republik sei. Mit anderen Worten: Er schuf eine militärisch-korporative Partei mit einem totalen Verbot autonomer Organisierung, ohne öffentliche programmatische Debatten, in der alle politischen Auseinandersetzungen zu Palastintrigen werden. In der Folge kam es immer wieder zu parteiinternen Säuberungen, wie die Verhaftung von Dutzenden von PSUV-Funktionär*innen zeigt.
Als Teil dieser Disziplinierung der Bewegungen wurden Kommunale Räte und Arbeiter*innenräte geschaffen, und obwohl viele Menschen sie als ihr Organisationsinstrument betrachteten, waren sie für die Regierung immer ein Mittel zur Kontrolle. Es gab also diesen Widerspruch: Menschen, die die Möglichkeit sahen, diese Mechanismen für sich nutzen zu können, und eine Regierung, die zunehmend versuchte, jeden Prozess der Selbstorganisation zu torpedieren.
Spielt die Linke in den aktuellen Protesten überhaupt eine Rolle?
Simón Rodríguez: Die Regierung hat das demokratische Leben nicht nur auf der Ebene der Wahlen und der großen Parteien, sondern auch auf der der Basisorganisationen zerstört, so dass die Möglichkeiten für Linke sehr begrenzt sind. Derzeit ist nicht möglich, öffentlich zu politischen Aktivitäten aufzurufen, ohne sich der Verfolgung auszusetzen. Hinzu kommt, dass es keine Vereinigungsfreiheit gibt: In der Ölindustrie, wo die unabhängige Linke traditionell stark ist, gibt es seit 2009 keine Gewerkschaftswahlen mehr, und dasselbe gilt für die Stahlindustrie, wo die letzten Wahlen 2011 stattfanden.
Zugleich haben wir es heute mit einer Vielfalt linker Strömungen zu tun, die sich gegen Maduro stellen. Einige berufen sich dabei weiterhin auf Chávez, andere nicht. Ich bin der Meinung, dass Chávez in gewissem Maße die Bedingungen für die derzeitige Katastrophe vorbereitet hat, sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht.
Atenea Jiménez: Ich denke, dass ein großer Teil der Menschen, die am 28. Juli gegen Maduro gestimmt haben, auch gegen eine Art, linke Politik zu machen, gestimmt haben. Deshalb befinden wir uns in einem Prozess der Selbstkritik. Die venezolanische Bevölkerung in ihren verschiedenen Ausprägungen war immer der Linken voraus, aber natürlich auch der Rechten. Die Linke muss das begleiten, was die Mehrheit bereits begonnen hat. Das Volk ist ohne uns auf die Straße gegangen, es sitzt im Gefängnis und lebt mit der alltäglichen Gewalt.
Ihr lebt beide derzeit im Ausland, seid aber weiterhin Teil linker Organisationen in Venezuela. Wie können sich linke Kräfte auf internationaler Ebene einbringen?
Simón Rodríguez: Sie sollten Solidarität mit den Tausenden von Menschen zeigen, die derzeit politische Gefangene in Venezuela sind, einfach weil sie ihre demokratischen Rechte verteidigt und den Wahlbetrug des Diktators Maduro abgelehnt haben. Sie sollten verstehen, dass das, was wir in Venezuela haben, keine linke Regierung ist. Nirgendwo auf der Welt würde eine Linke einen Mindestlohn von 4 Dollar pro Monat oder die Kriminalisierung von Menschen aus der LGBT-Community gutheißen. Sie würde sich auch nicht für eine Regierung mit einem ultrakonservativen, religiösen Diskurs einsetzen, oder dafür, die Gesellschaft zu militarisieren und in Nachbarländer einzumarschieren, wie es Maduro in Guyana vorschlägt.
Es ist sehr wichtig, dass der linke Aktivismus in Europa und anderen Ländern aufhört, Slogans und abgenutzten Pseudo-Antiimperialismus zu wiederholen, um ein völlig reaktionäres Regime zu rechtfertigen.
Anmerkungen
1) Gemeint sind die Aufrufe »¡Basta de represión! ¡Libertad a los presos por protestar!« und »Las Izquierdas le dicen al mundo: ‚En Venezuela la gente sabe lo que pasó‘« (beide abrufbar auf aporrea.org).
2) Der Begriff »Volk«, span. pueblo, wird in Venezuela tendenziell als Klassenbegriff verwendet, der die Zugehörigkeit zu einer sozioökonomisch definierten Bevölkerungsgruppe bedeutet, ohne dass damit die im Deutschen möglichen völkisch-rassistischen Konnotationen verbunden sind.
3) Die Bewegung der Comunas geht auf eine lange Erfahrung der Selbsorganisation und –regierung auf lokaler Ebene zurück (etwa in den Nachbarschaftsvereinigungen ab den 80er Jahren), wurde ab 2005 in Form von Kommunalen Räten und ab 2007 in umfassenderen Kommunen durch entsprechende Gesetzgebungen formalisiert und zunehmend in den Staatsapparat integriert.