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Das Ende von Cis 

Warum die analytische Trennung von sexueller Differenz und Cisness nötig ist, um die wahre Funktionsweise patriarchaler Macht zu verstehen

Von Agnes Laffert

Man sieht viele Personen bei einem Protest, sie halten Schilder hoch auf denen steht Trans Right now. Eine Person hat ein Megaphon.
Während Eingriffe, die die Binarität verfestigen – Schönheits-OPs und Gymbros auf Steroiden –, florieren, müssen trans Personen für den Zugang zu medizinischer Versorgung beweisen, wie dringend sie wirklich ein Mann/eine Frau sein wollen. Foto: Alisdare Hickson / via Wikimedia Commons , CC BY-SA 2.0

Cisness is feminism’s counterrevolution.« Mit diesem Satz beginnt Emma Heaneys 2024 erschienene Anthologie »Feminism Against Cisness«Cisness, so Heaney, verleiht der Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit den Schleier der Biologie und verhindert so einen wirksamen Kampf gegen die hierarchische Klassifizierung von Körpern und patriarchale Macht. Zusammen mit den Autor*innen der Anthologie ruft sie auf zu einer Denaturalisierung von Cisness – und leistet damit einen zukunftsweisenden Beitrag zu feministischer Theorie. 

Wenn wir jemanden als cis bezeichnen, meint das: Die Geschlechtsidentität der Person stimmt mit dem Geschlecht überein, das ihr bei der Geburt anhand äußerlich sichtbarer Geschlechtsteile zugewiesen wurde. Vielleicht hat sie noch nie darüber nachgedacht, denn der »normale« Mensch ist cis, im Vergleich zum Transsein braucht Cisness keine Benennung, sie ist der unausgesprochene Status quo. Während trans Historiker*innen oft damit beschäftigt sind zu belegen, dass es trans Personen schon immer gab, um ihren Anliegen historische Legitimation zu verleihen, gibt es so etwas wie eine Suche nach cis-Subjekten in der Geschichte nicht. Doch die Vorstellung, die große Mehrheit der Menschen und ihre Körper hätten jemals einfach so in ein binäres Muster gepasst, verdeckt, dass eine kohärente Weiblichkeit oder Männlichkeit oft mit viel Aufwand hergestellt wird: Von Geburt an trainieren Menschen die Identifikation mit dem einen oder anderen Geschlecht. Verletzte Soldaten bekommen Penisprothesen, Frauen, die wegen Brustkrebsrisiko eine Mastektomie durchführen lassen, wird automatisch angeboten die Brust danach wieder künstlich herzustellen. Eingriffe, die die Binarität verfestigen – Schönheits-OPs und Gymbros auf Steroiden – florieren, während Eingriffe, die sie infrage stellen, panisch als »unnatürlich« gelabelt werden. Trans Personen müssen für Zugang zu medizinischer Versorgung beweisen, wie dringend sie wirklich ein Mann/eine Frau sein wollen, und die Geschlechtsteile von inter Personen wurden lange Zeit zwangsweise an die eine oder die andere Seite »angepasst«. 

Instabil und exklusiv

Cisness ist und war allerdings schon immer instabil und basiert auf Exklusion. Zur Zeit des Nationalsozialismus drückte sich dies wie folgt aus: Während weibliche Homosexualität nicht unter Strafe stand, erregten lesbische Frauen durch das Übertreten geschlechtlicher Grenzen Verdacht. Aus Angst vor der Entartung und Sterilität ihrer »Ethnie« fürchteten Nazi-Ideolog*innen die »Vermännlichung« der »arischen« Frauen. Dass alle nicht-»arischen« Frauen dabei von vornherein aus der Kategorie »Frau« mit ihren Rechten und Pflichten ausgeschlossen waren, reiht sich ein in eine lange Geschichte des »Ungendering«, also des Vorgangs, bei dem rassistisch markierten Personen jegliche Geschlechtlichkeit abgesprochen wird – etwa in der Kolonialgeschichte oder der Geschichte der Sklaverei, in der Schwarze Frauen extremer »männlicher« Arbeit nachgehen mussten und zugleich massenhafter sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. 

Cisness erfordert eine »cleane« Aufteilung von Körpern in Mann und Frau, alles Abweichende – neben rassistischer Exklusion gehören auch Ausschlüsse armer und kranker Menschen dazu – ist grotesk und nicht schützenswert. Doch woher kommt die Nervosität darüber? Was steht auf dem Spiel, wenn das kohärente binäre Geschlechtersystem bedroht ist? 

Die Antwort, so Heaney, liegt im Zusammenspiel zweier ideologischer Konstrukte: Cisness und sexuelle Differenz. Sexuelle Differenz, ein feministisches Konzept mit langer Geschichte, ist der soziale Ausdruck einer vermeintlich biologischen Geschlechterbinarität, sie ist ein ideologisches Konstrukt mit materieller Basis: »Weiblich« ist darin Ausdruck der gesellschaftlichen Wertlosigkeit von reproduktiver Arbeit, also Haus- und Pflegearbeit, aber auch Gebären an sich, die im Gegensatz zu produktiver »männlicher« Arbeit im unbezahlten wie im bezahlten Kontext herabgesetzt wird. Mit der Arbeit werden auch die zugehörigen Eigenschaften abgewertet, und es ergibt sich eine hierarchische Binarität, z.B. aus Passivität vs. Aktivität oder Abhängigkeit vs. Unabhängigkeit. »Frau« ist sozialer Ausdruck dieser materiellen Abwertung und ihre Repräsentation – feminisierende Gewalt geht aber weit über sie hinaus. Die soziale Gewalt der sexuellen Differenz wird durch körperliche und vor allem sexualisierte Gewalt ins Symbolische übersetzt. So wird etwa die Assoziation von Weiblichkeit mit sexuellem Missbrauch historisch produziert, sie ist dabei alles andere als natürlich – eine Vulva ist real, sie ist aber nicht »von Natur aus« verwundbarer oder »empfänglicher« für sexualisierte Gewalt als andere Körper. Genauso wenig besitzt ein Penis an sich, anders als TERFs es gerne behaupten, magische zerstörerische Kräfte. 

Feministische Bündnisse, die für die Fortschritte weniger innerhalb der falschen universellen Binarität kämpfen, stellen keine Bedrohung für die patriarchale Ordnung dar.

Penetrabilität, in Heaneys Worten, ist eine universelle Qualität aller Körper, doch sexuelle Differenz teilt uns ein in solche, deren Penetrabilität sozial lesbar ist und jene, bei denen es nicht so sind (die sozialen Kategorien Frauen vs. Männer). Historische, ideologische Formationen prägen dabei unser Erleben: Eine Frau muss z.B. nicht selbst vergewaltigt worden sein, um durch ihre soziale Identität mit potenzieller Opferschaft assoziiert zu werden. So lässt sich durch die Positionierung von Körpern innerhalb sexueller Differenz (entgegen mancher queertheoretischer Ansätze) durchaus von Geschlecht als nicht rein diskursiver, sondern auch materieller Erfahrung sprechen. Das bedeutet allerdings alles andere als ein essentialistisches Geschlechterverständnis, denn – und das macht »Feminism Against Cisness« zu einer so relevanten Intervention in feministische Theorie – es entscheidet sich nicht, wie selbstverständlich angenommen, durch Cisness, welche Körper auf welcher Seite der Differenz stehen. Die analytische Trennung von sexueller Differenz und Cisness und die Denaturalisierung von Cisness sind nötig, um die wahre Funktionsweise patriarchaler Macht zu verstehen. 

Materiell, aber nicht körperlich

Sexuelle Differenz hat zwar eine materielle Basis in der Hierarchie von Werten, also etwa von Akkumulation über Reproduktion, aber keine körperliche. Erst die Vorstellung von Cisness gibt ihr den Anschein von Natürlichkeit, indem sie eine biologisierende Begründung liefert: Cisness ist die ideologische Annahme, dass die Welt in männliche und weibliche Körper eingeteilt ist und dass das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht die geschlechtliche Erfahrung einer Person in der Welt bestimmt – demnach bedingen unsere Körper automatisch unsere Einordnung in die sexuelle Differenz, in die Binarität von männlich/weiblich und die dazugehörige soziale Funktion und Position. Cisness lässt die Schlussfolgerung von einem Geschlechtsteil eines Babys (meist sogar schon vor der Geburt) auf eine bestimmte soziale Rolle als unhinterfragbaren, natürlichen Fakt erscheinen.

Aber was, wenn das gar nicht so natürlich ist? In der Realität waren Hormone, Chromosomen oder Organe noch nie ausschlaggebend dafür, wer feminisierende Gewalt erfährt, also Gewalt, die die untergeordnete soziale Position von »Weiblichkeit« in der sexuellen Differenz reproduziert und verfestigt. Nicht ein bei der Geburt zugeschriebenes Geschlecht, sondern seine wahrgenommene Machtlosigkeit macht Menschen vulnerabel und zu Objekten von Feminisierung. Es sind längst nicht nur mit »weiblichen« Geschlechtsmerkmalen geborene Personen, die ökonomische und körperliche Unterordnung erfahren – rassifizierte und prekarisierte Menschen jeden Geschlechts, behinderte Menschen, queere Personen, Gefängnisinsass*innen und insbesondere Kinder sind besonders oft patriarchaler Gewalt ausgesetzt. Auch ist es ein Fakt des Lebens von trans Frauen, dass sie überdurchschnittlich viel sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind, während sie gleichzeitig in den Augen vieler »nicht Frau genug« sind, um das Erleben »richtiger« Frauen – kondensiert in sexualisierter Gewalt – zu verstehen. Die Gegenseite erkennt die Gemeinsamkeiten feminisierter Objekte indes sehr wohl: Es ist kein Zufall, dass die Einschränkung von trans Rechten so häufig mit der Einschränkung reproduktiver Rechte einhergeht – die Verwehrung von Autonomie und körperlicher Selbstbestimmung dient der Aufrechterhaltung der Ordnung der sexuellen Differenz. Wenn »Feminist*innen« eine »natürliche«, weibliche Vulnerabilität mobilisieren, um trans Personen Rechte abzusprechen, den Schutz von Frauen (gemeint sind weiße Frauen) und »westlicher« Frauenrechte vorschieben, um imperiale Projekte zu stützen, oder Mutterschaft für Eingriffe in die Selbstbestimmungsrechte von Kindern aktivieren, dann nutzen sie Cisness, um ihre exkludierende Politik zu rechtfertigen. 

Welche Allianzen?

Feminismus gegen Cisness bedeutet dagegen, der sexuellen Differenz ihre biologisierende Legitimation zu entziehen, und ist ein Aufruf zu einer Koalition mit all jenen, die außerhalb gesellschaftlicher Macht stehen. Einen ähnlichen Aufruf machte die feministische Autorin Kathy Cohen, die in ihrem berühmten Text »Punks, Bulldaggers and Welfare Queens« (1997) deutliche Kritik an queerem Aktivismus der 1990er Jahre übte, der anstatt dominante Sexualitätsnormen zu bekämpfen, sich auf eine unterkomplexe Binarität zwischen der eigenen Queerness und dem Feindbild der Heterosexuellen versteifte (z.B. im Manifest »I Hate Straights« von 1990). Aber wer, fragte Cohen, sind diese unterdrückerischen Heteros? Die Ausschlüsse der Heteronorm ähneln denen von Cisness, insofern als sie weit über eine Identitätskategorie hinausgehen. Ihre Heterosexualität schützte weder alleinerziehende Frauen, die als »welfare queens« diffamiert wurden, noch Schwarze Menschen, denen während der Sklaverei keine Heirat erlaubt war, oder geflüchtete Familien, die an Grenzen separiert werden, vor Gewalt. Cohen fragt: »Who … is truly on the outside of heteronormative power – maybe most of us?«  

In der obsessiven Verteidigung biologischer Zweigeschlechtlichkeit steckt die Angst vor Allianzen, die erkennen, dass Cisness rassistische Ausschlüsse und ein ableistisches Klassensystem reproduziert und geteilte Erfahrungen von Feminisierung verdeckt – es ist nicht nötig, körperliche Voraussetzungen zu teilen, um einander zu verstehen. Feministische Bündnisse, die für die Fortschritte Weniger innerhalb der falschen universellen Binarität kämpfen oder ihre Forderungen auf die Ebene von Genderidentität verschieben, stellen keine Bedrohung für die patriarchale Ordnung dar. Stattdessen braucht es einen gemeinsamen Kampf, der die sexuelle Differenz selbst angreift, sodass Care über Akkumulation steht und »the only necessary labors« (Heaney), die Reproduktion des Lebens, die geteilte Aufgabe aller wird.  

Agnes Laffert

liest am liebsten queer- und transfeministische Neuerscheinungen.

Emma Heaney (Hg.): Feminism against Cisness. Duke University Press, Durham 2024. 260 Seiten, 27,95 USD.

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