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|ak 662 | Soziale Kämpfe

Das Ende des Anstands

Migrantifa-Gruppen entstehen als Antwort auf die deutsche Ignoranz

Von Temye Tesfu

Was ist Antifaschismus? Nicht weniger als eine Überlebensfrage für alle, deren Existenz durch rechten Terror bedroht ist. Die Gefahr ist nicht abstrakt. Sie ist akut. Dem Gros der Kundgebungen fällt trotzdem nichts besseres ein, als Rechtsstaat und Menschenrechte zu predigen und zu beteuern, dass man gegen den Hass sei. Aha. Und? Rassismus hat seinen Ursprung nicht in moralischem Unvermögen, sondern in materiellem Nicht-Vermögen: Er muss prekarisieren. Derweil ist Integration ein schlechter Scherz mit derselben Pointe wie das kapitalistische Aufstiegsversprechen. Ein paar lässt man mitspielen (und nennt es Repräsentation) – aber niemals alle. Das ist die erste Enttäuschung.

Doch man benimmt sich, findet sich ab. Auch damit, als hautverdächtig zu gelten, gedemütigt zu werden von Polizei und Behörden. Wenn der Staat und seine Institutionen dennoch nicht willens sind, wenigstens die körperliche Unversehrtheit zu schützen, ist das die zweite Enttäuschung.

Nach dem Anschlag vom 19. Februar, nach dem Mord an George Floyd, sahen die Polit-Talks nach wie vor aus wie Skatvereinstreffen. So sie ihn nicht gleich als Nebensache abtat, pflegte leider auch die deutsche Linke die längste Zeit einen Antirassismus nach Maischberger-Manier: als weißes Selbstgespräch. Den Menschen, über die sie da sprach, hat sie kein politisches Zuhause bieten können. Die dritte Enttäuschung.

Das ist alles ernüchternd bis erschütternd; es sei denn, es führt zur Schaffung eigener Strukturen. Unter dem Label »Migrantifa« sind seit einigen Monaten migrantisierte und andere Antifaschist*innen organisiert. Gut zwei Dutzend Migrantifa-Gruppen gibt es in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie alle eint ein neues Selbstbewusstsein und dieselbe Devise: Migrantischer Selbstschutz. Hierzu zählt die Umdeutung des Tages der Befreiung zum antirassistischen Kampftag, die Mobilisierung von Solidarität für die Opfer von Polizeigewalt, die Vorbereitung der bundesweiten Anreise zum Gedenken in Hanau, das Bilden von Allianzen: Auf den Demos kommen Romnja, Sinti*zze, Geflüchtete, Jüdische, Schwarze und andere Menschen of Color zu Wort und es scheint, als gäbe es (vielleicht zum ersten Mal seit Kanak Attak) wieder einen genuin linken Antirassismus der Selbstfürsprache. Wer hier Diversitypolitik wähnt, kann direkt wieder Maischberger gucken gehen. Freiheit ist universell – Befreiung bleibt partikular.

Ausdruck der Enttäuschungen nicht-weißer Lebensrealität und die Antwort darauf; letzlich sind solche Verbunde genau das. Möglich, dass sich bald noch mehr von ihnen bilden. Die Geduld ist jedenfalls erschöpft. Die Zeit des Betragens ist vorbei. Alice Weidel twitterte neulich: »Antifa & Migrantifa außer Kontrolle«. Ganz recht. Herzlich willkommen zum Ende des Anstands. Und damit bi xêr hatî, هلًا, መርሓባ zum Widerstand der Desintegrierten.

Temye Tesfu

Temye Tesfu ist Gründungsmitglied des Künstler*innenkollektivs »parallelgesellschaft«. Moderiert, macht Memes, schreibt Gedichte und andere Texte, z.B. für taz, ze.tt, jetzt auch ak.