»Da verheizen sich die Leute«
Traumafachberaterin und Aktivistin Ina Q. über selbstorganisierte Täter- und Betroffenenarbeit
Interview: Bilke Schnibbe
Ina Q. ist seit den 1990er Jahren in antifaschistischen und feministischen Gruppen aktiv. Im Gespräch mit ak erklärt sie, warum sich so wenig am Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Linken ändert und wieso sich Unterstützungsgruppen weiterbilden und vernetzen sollten.
Was hat sich hinsichtlich geschlechterspezifischer Gewalt in der linken Szene in den letzten 30 Jahren verändert?
Ina: Ich habe 17 Jahre lang im Trauma-Bereich gearbeitet und habe ja auch das Privileg, drei Rollen einzunehmen: Also einmal aus der Sicht einer Betroffenen, aus der Sicht meiner therapeutischen oder professionellen Arbeit und als Aktivistin. Bei letzterem auch noch mal mit einem großen Abstand. Zu meiner Zeit gab es noch keine Outcalls. Wir hatten damals auch kein Internet und Social Media. Da gab es dann bestenfalls mal so einen kopierten Artikel in der Interim. (lacht) Und leider, muss ich sagen, hat sich nichts verändert im Umgang mit grenzüberschreitendem oder gewalttätigem Verhalten in linken Kontexten. Was sich verändert hat, und da freue ich mich jedes Mal drüber, ist die FLINTA-Szene. Auch, wenn es nicht immer einfach ist. Durch Dinge wie das Internet ist es möglich, dass sich Gruppen finden. Und zumindest in meiner Beobachtung wurde auch stärker gefordert, dass sich Gruppen positionieren, wenn es Outcalls gab. Das passiert noch viel zu selten. Der allerneueste Schrei ist ja auch, Repressionorgane in die Statements einzubauen als Grund, warum man sich als Täterumfeld vorher nicht besser verhalten konnte. Das ist eine absurde Übernahme von Täterstrategien, die ich sehr bedenklich finde.
Du beschäftigst dich jetzt grade auch mit den Outcalls der letzten Zeit …
Genau. Ich habe mir vor Kurzem einige Protokolle von Betroffenen- und Täterarbeit durchgelesen und war einerseits sehr berührt, wie viel für Mühe sich FLINTA-Gruppen gegeben haben, alles zu dokumentieren und wie die sich abgearbeitet haben. Und bei vielen Sachen hatte ich das Gefühl, ich könnte auf Seite 3 eigentlich schon sagen: »Das wird nix.« Und gar nicht, um in so eine Arroganz abzurutschen. Ich kann mir vorstellen, dass das aus einer großen Hilflosigkeit heraus entsteht. Tatsächlich stelle ich aber fest, dass sich Typen heute wie vor 30 Jahren nicht proaktiv mit ihrer eigenen Sozialisation auseinandersetzen. Und zwar nicht nur so wischi-waschi, wenn etwas passiert ist, sondern konstant.
Es sind in den wenigsten Fällen unsolidarische Männer, die sich aus Projekten verabschieden.
Was steht denn auf Seite 3?
Wenn es so einfach wäre, dass Lai*innen die Auswirkungen von Übergriffen klären könnten, wären all die Beratungsstellen wirklich dankbar und hätten ihre Fälle ratzifatzi gelöst. Allein aus traumapsychologischer Sicht finde ich es unhaltbar, dass Betroffene und Täter so lange unter einem Dach wohnen müssen, gemeinsam arbeiten müssen, in Kollektiven zusammen sein müssen, weil das physiologisch nicht funktioniert. Mein Körper kann sich gar nicht beruhigen nach dem Ereignis, wenn er in permanenter Habtachtstellung ist, weil ich noch in Kontakt mit dem Täter bin. Wir sollten den Fokus darauf lenken, dass Betroffene bleiben und sich beruhigen können. Und ich glaube, dann wird schon ganz viel Energie frei, die man für ganz viel andere Sachen verwenden könnte.
Die körperliche Reaktion auf einen Übergriff steht dem entgegen, dass Betroffene mit daran arbeiten können, dass Täter in ihren Gruppen bleiben können?
Genau. Wenn man sich Traumareaktionen anguckt, sind die physiologisch so, dass Betroffene erst mal runterkommen können müssen. Unabhängig davon, ob es sich irgendwann um eine Posttraumatische Belastungsstörung handelt oder nicht. Ich stelle mir oft die Frage: Wie soll denn eine Betroffene überhaupt sortieren, wie sie es denn gerne hätte, wenn die ganze Zeit in Plena, in Strukturen der Täter mit rumspringt. Da kommt niemand auf irgendwas Geordnetes und kann das dann auch noch umsetzen.
Ina Q.
hat 1991 in einer brandenburgischen Kleinstadt im Rahmen einer Hausbesetzung mit politischer Arbeit begonnen und auch dort schon viele Kämpfe rund um das Thema sexualisierte Gewalt geführt. Heute ist sie vor allem antifaschistisch organisiert, weil sie sich nur zu gut an die »Baseballschlägerjahre« erinnert. Sie ist außerdem auf der Suche nach anderen feministischen Berater*innen, Therapeut*innen und Aktivist*innen, um ein Netzwerk zur Betroffenenunterstützung zu gründen. Man erreicht sie dafür unter: solidkrisenintervention@posteo.de
Die Forderung nach räumlicher Trennung wird oft als Ausdruck von Strafbedürfnissen kritisiert. Das sei schlimmer als Rechtsstaat und Polizei, die wenigstens Regeln folgen, anstatt die Leute einfach so rauszuschmeißen. Was denkst du darüber?
Ich weiß gar nicht, ob die Motivation für die Trennung so entscheidend ist. Es müsste erst mal eine klare Positionierung gegen Gewalt geben, wo das Problem eigentlich schon beginnt. Damit meine ich nicht, dass wir alle gegen Sexismus sind, sondern Fragen wie: Wo ist die Grenze? Wollen wir solche Menschen in Strukturen behalten? Da kommt es auch auf die Art der Strukturen an. Wenn ich mir Wohnprojekte angucke, dann ist das ist der intimste Ort eines Menschen, mein Zuhause. Da sollte eine Betroffene bleiben können, wenn sie das will. Man kann den Fokus auch umdrehen auf den Täter. Auch da wäre es gut, wenn der Täter Zeit hat, seine Gedanken mal ein bisschen zu ordnen und sich zu überlegen, auf was er sich eigentlich einlassen würde.
Ich beobachte folgenden Kreislauf: Betroffene brauchen viel Unterstützung, die Unterstützungsgruppen können das gar nicht leisten und »versagen«, weswegen sowohl die Betroffene als auch ihr Umfeld desillusioniert linke Kontexte verlassen und sich in den Strukturen nichts ändert.
Es sind interessanterweise in den wenigsten Fällen unsolidarische Männer, die sich aus den Projekten verabschieden und sagen: Okay, dann ist das wohl nicht unser Platz. In den Statements zu Übergriffen liest man immer wieder von wirklich tollen, kämpferischen FLINTAs, die Projekte ausgebrannt verlassen müssen, weil nichts zu holen ist. Das ist nichts Neues und hat was mit Machtstrukturen zu tun. Sich abarbeiten müssen an einer Beweispflicht, was auch interessant ist, weil du von der Rechtsstaatlichkeit sprachst: Wenn mehr Beweise von Betroffenen gefordert werden, ist komischerweise nicht so präsent, dass wir uns wie die betroffenenfeindliche Justiz benehmen.
Um das Ausbrennen zu verhindern, ist es wichtig, dass Umfelder ihre eigentliche Rolle nicht verlassen, um halbe Berater*innen, halbe Therapeut*innen zu werden. Freund*innen sollten Freund*innen bleiben, weil Betroffene neben Beratung eben auch stabile Freund*innen brauchen. Verschiedene Akteur*innen sollten zusätzlich mehrere Bausteine abdecken: Beratung, Selbsthilfegruppen, Therapie usw. Da verheizen sich momentan die Leute, und das tut mir schon leid. Da gibt es ja gar keinen Raum mehr für ein Leben mit tanzen gehen und sowas. Zum Teil sind das auch Allmachtsfantasien, dass wir als Szene hinbekommen, was die ganze Rest-Gesellschaft nicht kapiert. Wir, die wir mitunter nicht mal hinkriegen, einen gemeinsamen antifaschistischen Protest auf die Straße zu bringen.
Die linke Szene lädt ja auch sehr dazu ein, als Betroffene oder Unterstützungsgruppe immer weiter zu kämpfen und sich letztendlich immer mehr aufzuregen …
Ich finde, man muss sehr aufpassen mit den Begriffen Community oder Szene. Beides stellt eine Pseudo-Sicherheit her, die lange bevor mir irgendwas passiert, suggeriert, dass ich im besseren, feministischen Teil der Gesellschaft gelandet bin. Die Enttäuschung, wenn die Leute unsolidarisch sind, ist dann eine sehr bittere Pille, die man zusätzlich schlucken muss. Das sehe ich auch, wenn ich mit Betroffenen arbeite, die sexualisierte Gewalt in der Kindheit erlebt haben und viele Jahre später sagen: Das Schlimmste war, dass ich es meiner Mutter erzählt habe, und die hat nicht zu mir gehalten. Da geht es um Gefühle von Verrat durch linke Strukturen, die ja auch mein Zuhause, ein Stück meine Familie sind. Und wenn die mich verrät, bleibt nicht mehr so viel im Außen.
Du bist auch dafür, dass sich Unterstützungsgruppen Beratung und Supervision von außen holen.
Jede professionell arbeitende Person hat in dem Bereich Supervision. Es ist eigentlich undenkbar, dass Menschen dem Versuch, mit sexualisierter Gewalt umzugehen, ausgesetzt sind, ohne dass das begleitet wird. Sich erschreckende Sachen anzuhören, die ja auch etwas mit meiner eigenen Geschichte zu tun haben, gerade wenn es gleiche Räume betrifft, das beeinflusst die Leute. Da muss es mehr Abgrenzungsmöglichkeiten und eine Auslagerung von Aufgaben geben.
In der Sozialarbeit kritisieren Linke, wenn es keine Supervision und zu wenig Geld für Sozialarbeiter*innen oder Berater*innen gibt. Im halbprivaten Politkontext übernehmen sie sich ohne Unterstützung an der belastenden und unbezahlten Care-Arbeit mit Gewaltbetroffenen und Tätern …
Ja, das hat auch was mit Wertschätzung und Bewertung von unterschiedlichen Arbeiten zu tun, dass Leute diese Art von emotionaler Arbeit so unterschätzen. Ich denke mir, manchmal wäre es hilfreicher, man würde drei Soli-Partys machen, um mit dem Geld jemanden von außen zu bezahlen, der oder die damit schon seit Jahren arbeitet. Oder es wäre vielleicht auch gut, dass die Betroffene die Möglichkeit kriegt, eine Woche auszusteigen und eine Kur zu machen oder so. Also, das Geld würde schon alle werden.
Was würdest du feministischen Gruppen raten, die sich momentan mit dem Thema beschäftigen?
Ich fände wirklich wichtig, dass Typen endlich mal ihre Arbeit machen. Ich habe jetzt im Kontext vom Jahrestag der Anschläge in Rostock-Lichtenhagen zwei Freundinnen besucht, weil ich zu der Zeit auch viel in Rostock war. Die hatten damals ähnliche Probleme wie ich mit meinen Antifa-Strukturen. Speziell eine Freundin, auch Traumapädagogin, ist interessanterweise momentan wieder sehr dabei, Support-Strukturen zu unterstützen. Nach 30 Jahren immernoch dasselbe. Ich würde FLINTA-Gruppen raten, es den Männern nicht so einfach zu machen und sich zum Beispiel weniger mit den Bedürfnissen von Tätern zu beschäftigen. Ich bin als Person nicht dafür da, Bildungsarbeit in allen möglichen Variationen zu leisten. Das habe ich selbst bei Freunden, bei denen ich denke: Macht eure Drecksarbeit und zwar hurtig, weil es wirklich überfällig wäre.