Welcome to Hell
Die Corona-Demo in Berlin wurde zum Antifa-Desaster
Von Carina Book
Es ist der 28. August 2020: Die Republik bangt. Wird die Demonstration von tausenden Corona-Leugner*innen, Alu-Hüten, Reichsbürger*innen und Neonazis nun laufen oder nicht? Der Deutschlandfunk sendet im Halbstundentakt den neusten Stand und Twitter explodiert beinahe. Selten hat eine Demonstration in der Bundesrepublik eine derartige Debatte ausgelöst: Es gebiete das Grundgesetz, dass auf deutschen Straßen wirklich jede*r alles sagen darf, ob Nazi oder nicht, finden die einen. Die anderen – und das ist eigentlich noch schlimmer – schicken Stoßgebete in den Himmel, der Staat möge bitte diese Demonstration verbieten. Auch viele Linke scheinen einer kollektiven Amnesie zum Opfer gefallen zu sein. Schließlich ist es derselbe Staat, der bei den G20-Protesten großflächige Demonstrationsverbote verhängte oder das SEK auf eine Antifademo in Wurzen ansetzte, der hier bekniet wird. Bitter waren auch die kursierenden Warn-SMS, die mehr oder weniger die Machtübernahme der Faschist*innen prophezeiten – und alle lieber zum Zuhause bleiben animierten, statt sich Konzepte auszudenken, bei denen niemand allein gelassen wird, bei denen die Masse auch Schutz vor rechten Angriffen bietet. Die eigentliche Tragödie aber ist, dass niemandem eine Antwort auf die Corona-Demos einzufallen scheint. Das liegt an einer allseits falschen Lageeinschätzung, die nur mit Ignoranz gegenüber den zahlreichen Analysen oder mit politischem Unwillen zu erklären ist.
Die Musikauswahl, die aus den Lautsprecherwagen dröhnt, gibt Aufschluss darüber, wie diffus die Melange am 29. August zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor aufgestellt ist. Menschen mit Blumenketten und Deutschland- bzw. Reichsfahnen liegen sich zu Marius Müller-Westernhagens Gassenhauer »Freiheit« in den Armen, singen danach gemeinsam die Nationalhymne, sprechen ein »Vater unser« und tanzen im Anschluss zu Pippi Langstrumpfs »Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt«. Auf den Straßen tummeln sich Evangelikale, Truther, Reichsbürger*innen, QAnon-Anhänger*innen, »5G«-Verschwörungsgläubige und Fans rechter YouTuber*innen. Dazu gesellen sich jene, die sich schon immer in den Uneindeutigkeiten der Grauzonen bewegt haben: Esoteriker*innen, Homöopath*innen und Impfgegner*innen. Auf Esoterikmessen und -märkten der vergangenen Jahre ist mindestens eine gegenseitige Duldung, mitunter auch offene Bezugnahme auf extrem Rechte entstanden. Okkultismus verbindet, und zwischen »Mondwasser« und »Neuer germanischer Medizin« ist der Grat schmal. Hinzu kommen konsumorientierte Lifestyle-Neoliberale, denen es besser ins Lebensmodell gepasst hätte, sich im Trump´schen Desaster wiederzufinden, um ihren toxischen Egoismus ausleben zu können.
Zwischen Pegida und Schlagermove
Alles Nazis? Wohl nicht. Doch mit diesen Leuten ist keine solidarische Gesellschaft zu machen – das haben zum Glück die meisten Linken verstanden. Dass das neurechte Spektrum nun auch auf den Corona-Zug aufgesprungen ist, liegt an ihrer eigenen Schwäche. Die AfD, die Identitären und neurechte Kader vom Kaliber Kubitschek stecken in einer tiefen Krise. Von der Corona-Pandemie konnten sie nicht profitieren. Ihre Hoffnung war es, einst als Avantgarde den Gespenstern der Vergangenheit eine Zukunft zu geben und eine nationale Revolution anzuführen. Das ist ihnen nicht gelungen, und es wird ihnen auf absehbare Zeit auch nicht gelingen. Sich nun mit der kruden Melange in Berlin auf der Straße wiederzufinden, ist dem neurechten Spektrum unangenehm bis peinlich. Die Massen sind ihnen fremd, die Diffusität ist ihnen zuwider. Sollen sie nun gezwungen sein sich dem allzu wirren Kanon anzuschließen, ohne zu wissen, wo die Reise hingeht? Will denn keiner mehr hinter ihrer Fahne laufen? Stattdessen folgten einige Hundert dem Aufruf einer Heilpraktikerin aus Nordrhein-Westfalen, die Treppen des Reichstagsgebäudes zu besetzen. Ihnen gelang der Coup des Tages, was Jürgen Elsässer postwendend dazu veranlasste, den 29. August zum wichtigsten Tag der deutschen Geschichte nach 1945 zu erklären.
War die Besetzung für die Rechte ein Erfolg? Ja. War das ein vorrevolutionärer Akt? Mitnichten. Die eigentliche Bedeutung gewann die kurzfristige Reichstagstreppenbesetzung dadurch, dass in der medialen Berichterstattung das Framing der Rechten vollständig übernommen wurde. »Sturm auf den Reichstag« war die meist zu lesende Headline der darauffolgenden Tage. Ein unverzeihlicher Fehler, der sich in eine elende Serie des Medienversagens im Umgang mit Rechten einreiht. Denen wiederum ist in den vergangenen Jahren ein bemerkenswerter Auf- und Ausbau eines Fake-News-Imperiums gelungen. Hier eine Live-Schalte, dort ein Stream. Und für den Fall, dass es Probleme gibt, findet sich auf der deutschesten aller Webseiten www.klagepaten.eu der passende Wisch, um wahlweise Saskia Esken zu verklagen oder einen Widerspruch gegen Demoverbote oder Geschäftsschließungen einzureichen. Der Grad der Professionalisierung und die große Reichweite verschwörungsideologischer Inhalte konfrontiert die Linke mit ihren eigenen Versäumnissen.
Kommen wir also zur wenig überraschenden Konklusio: Hätte die Linke als »Merkeljugend« den Reichstag vor den Rechten schützen sollen? Sicher nicht. Aber das Antifa-Desaster vom 29. August hinterlässt das Gefühl, dass die Linke zwischen Verharmlosung und Panik nicht mal mehr den klassischen Abwehrkampf gebacken kriegt. Was es dabei dringend braucht sind breite gesellschaftliche Bündnisse, denen es gelingt, den Corona-Demos die Plätze und Schlagzeilen streitig zu machen ohne sich dabei im »Nazis raus« zu verbeißen. Denn eine der wenigen guten Nachrichten derzeit ist, dass die von Jobverlusten Betroffenen bislang kaum Teil der Corona-Verschwörer sind. Damit das so bleibt, muss die soziale Frage Kernstück linker Politik sein – und das bevor die Folgen der Pandemie nach Auslaufen der Corona-Hilfen so richtig sichtbar werden. Nichts weniger als die Aushandlung der Post-Corona-Gesellschaft steht im Aufgabenbuch: Forderungen nach der Vergesellschaftung von Gesundheitsversorgung und Wohnraum, nach dem Ende der Privatisierung von Gewinnen und der Vergemeinschaftung von Verlusten, der Kampf für Klimagerechtigkeit: all das sind zentrale Themen, die nicht im Abwehrkampf vergessen werden dürfen. Allein mit »Nazis raus« wird nichts zu gewinnen sein. Alles nichts Neues, werden jetzt die meisten sagen, nur: Warum passiert es dann nicht?