Chiles Fotograf*innen der ersten Reihe
Gabriela Cruz Cuevas über die Aktivist*innen der Primera Línea und die fotografische Dokumentation des Aufstands
Interview: Alix Arnold
Die historische AFI (Vereinigung unabhängiger Fotografen) wurde Anfang der 1980er Jahre gegründet und dokumentierte bis zum Ende der Diktatur die Proteste und die Repression in Chile. 2006 gingen Schüler*innen auf die Straße, besetzten Schulen und streikten für ein besseres und kostenloses Bildungssystem. Diese »Revolution der Pinguine«, wie sie wegen der blauweißen Schuluniformen genannt wurde, war für jüngere Fotograf*innen der Anlass, unter dem alten Namen eine neue Gruppe zu gründen. Heute begleiten sie mit ihren Kameras die Primera Línea, die Jugendlichen aus der ersten Reihe, die mit ihren Straßenschlachten den übrigen Demon strant*innen die Carabineros vom Hals halten. Gabriela Cruz Cuevas berichtet über die Arbeit ihrer Gruppe und die Primera Línea.
Wie kam es dazu, dass ihr viele Jahre nach der Auflösung der historischen AFI eine neue Gruppe unter diesem Namen gegründet habt?
Gabriela Cruz Cuevas: Bis zur Revolution der Pinguine wurde in Chile nicht über Politik gesprochen. Ich gehöre zur Generation davor und war Vorsitzende der Schülervertretung. Damals ging es eher um einzelne Punkte, um die Uniformen, das Recht auf lange Haare, interne Regelungen der Schulen. Wir wurden ständig eingeschüchtert, dass wir um nichts kämpfen und nichts fordern sollten, weil das die Demokratie gefährden könnte. Dann entstand diese neue Bewegung von Jugendlichen. Wir fanden es wichtig, wieder als Fotografinnen auf der Straße zu sein, um diese erste Bewegung in der Demokratie zu dokumentieren.
Die erste Reportage von AFI Santiago ging um Temucuicui, um die Repression gegen die Mapuche in den dortigen Gemeinden. Die Repression, die wir jetzt hier in Santiago erleben, erleiden sie dort schon lange. Wir wollten das dokumentieren und öffentlich machen. Seitdem drehen sich unsere Reportagen um Menschenrechte und um die Zeit der Diktatur. Wir wollen uns die Geschichte aneignen und eine Brücke zu den Fotografen der damaligen Zeit schlagen. Eine unserer Ausstellungen hieß »Ellas, nuestra memoria« (Sie, unsere Erinnerung). Wir haben alle Frauen fotografiert, die vor dem Präsidentenpalast La Moneda ihre Runden gedreht haben mit der Forderung, das Gefängnis Punta Peuco zu schließen. Dieses Gefängnis für die Militärs war wie ein 5-Sterne-Hotel, während die Gefolterten und die Familien der Opfer sehr geringe Renten und keine würdigen Entschädigungen bekommen. Ein Jahr haben wir ihren Kampf und ihre Geschichten dokumentiert und haben daraus eine Wanderausstellung gemacht. Wir waren damit an Schulen und haben Angehörige von Diktaturopfern eingeladen, die von ihren Erfahrungen berichtet haben. Vor diesem Aufstand wussten die Schülerinnen und Schüler wenig über die Geschichte der Diktatur. Die stand nicht auf dem Lehrplan.
Was seht ihr in der aktuellen Revolte als eure Aufgabe?
In diesem Aufstand machen wir alles, was auf der Straße getan werden muss. Fast alle Kolleginnen und Kollegen gehören zur Primera Línea. Sie sind ganz vorne mit dabei. Wir prangern die Gewalt des Staates an. Die bürgerliche Presse versucht immer, Dinge zu vertuschen. Wir wollen in dieser Situation auf der Straße sein. Wir verstehen uns als Fotografinnen der Arbeiterklasse und gehen in die Poblaciones. (1) Da ist die Situation ganz anders als auf dem Platz, wo alle zusammen kommen, alle Klassen. Während die Performance von Las Tesis an Orten im Zentrum problemlos stattfinden kann, wurden die Mädels in der Población Lo Hermida beschossen und neun von ihnen festgenommen.
Dein Kollege Andres ist schon zweimal von Tränengasgranaten getroffen worden.Wir stehen unter absoluter Beobachtung. Die Carabineros zielen mit den Schrotkugeln auf die Köpfe. Und auf die Objektive. Das sind keine einzelnen Exzesse, das sind Befehle von oben. Sie zerstören Augen, und wir Reporter sind diejenigen, die das öffentlich machen. Letztens haben sie in der Población La Victoria einem Kameramann, der außerhalb der Polizeiwache stand, eine Tränengasgranate an den Kopf geschossen. Andere Kollegen haben Schrotkugeln abbekommen. Die Schrotkugeln sind auch nicht aus Gummi, wie sie behaupten. Das ist Blei. Und die Gasgranaten sollen Schädelverletzungen erzeugen. Eine Frau, die auf dem Weg zur Arbeit war, zur Nachtschicht, wurde von einer Granate an der Stirn getroffen. Sie liegt mit Schädelbruch im Krankenhaus und ist dadurch erblindet.
Wer sind diese mutigen Aktivistinnen und Aktivisten der Primera Línea?
Das ist ein Potpourri! Als erstes müssen die Jugendlichen aus dem SENAME genannt werden, der staatlichen Minderjährigenbehörde. Manche schlafen unter Brücken. Vielen sieht man die Armut an. Aber sie haben eine Lust, bei den Protesten zu sein! Wenn sie von Schrotkugeln getroffen werden, lassen sie das nur kurz verbinden und wollen gleich wieder nach vorne. Sie sind sehr mutig und haben eine riesige Wut.
Dann sind da Jugendliche, die ich als Opfer des Schulsystems bezeichnen würde und des Systems, wie psychische Probleme in diesem Land behandelt werden. Das ist die Generation dieses neuen Jahrtausends, die mit Tablets und viel Technologie groß geworden ist, aber auch in großer Einsamkeit und mit Depressionen. Man nennt sie die Generation, die sterben will. Ich habe einen 17jährigen Sohn, und alle meine Freundinnen und Freunde, die Kinder in dem Alter haben, haben Ähnliches erlebt: Die Stigmatisierung in den Schulen, die erbärmlichen Möglichkeiten psychischer Behandlung. Diese Jugendlichen kämpfen jetzt mit viel Adrenalin gegen ein System, das sie ihr ganzes Leben lang unterdrückt hat. Sie konnten sich nicht entfalten, das System ließ ihnen keine Luft zum Atmen. Das zieht sich durch alle Schichten. Die besser gestellten Schichten haben mehr Möglichkeiten, eine Behandlung zu bekommen. Aber das ändert nichts an der Einsamkeit dieser Jugendlichen.
Dann sind da die Kids mit wenig Geld, die in den Poblaciones leben, in beengten Verhältnissen. Da leben auf 40 Quadratmetern neun Personen oder mehr, und wenn sie die Tür aufmachen, stehen sie gleich vor der offenen Tür der Nachbarn. Es gibt keinerlei Intimität. Sie können sich nur ständig auf der Straße aufhalten, wo viel mit Drogen gehandelt wird. Es macht sie wütend, ihre Väter zu sehen, die ihr ganzes Leben für Hungerlöhne geschuftet haben, und ihre Großeltern mit den winzigen Renten. Wenn sie mehr Geld verdienen wollen, enden sie als Handlanger der Drogenhändler. Kein Geld, keine Mittel für eine bessere Schule, die innerfamiliäre Gewalt aufgrund der beengten Wohnverhältnisse: Die Jugendlichen kennen diese ganze Armut und haben viele Gründe, auf die Straße zu gehen. Zum Beispiel die Freunde meines Sohnes bei uns in der Población: Die waren völlig unpolitisch und machten Computerspiele, aber jetzt gehen sie zu den Demonstrationen und entdecken dort eine neue Welt. Sie dachten, es ginge um ein Festival und Bier trinken und waren erstmal enttäuscht, aber dann haben sie diesen Kontext von Kämpfen entdeckt und sind immer wieder hingegangen.
Es ist auch eine Möglichkeit, sich wichtig zu fühlen. Dass sie in ihrem Leben endlich doch nochmal etwas mit Würde tun können. Dass sie etwas machen, was Sinn hat. Ihnen wird klar, dass sie zu Opfern des Systems werden, wenn sie ihre ganze Zeit nur vor dem Computer verbringen.
Neben den vielen Jugendlichen beteiligen sich auch Erwachsene an der Primera Línea, und man sieht dort auch Kinder reicher Eltern?
Es gibt da Jugendliche mit großen ökonomischen Möglichkeiten, sehr großen. Du siehst es an ihrer Kleidung, ihren Helmen, Schutzbrillen und der technischen Ausrüstung. Sie fühlen sich privilegiert, aber auch betroffen, und es ist für sie eine interessante Möglichkeit, sich auszutoben. Schließlich siehst du dort auch viele Studentinnen und Studenten. Die haben alle das Problem der Studienkredite.
Die Jugendlichen sind auf eine sehr intuitive Weise organisiert. Die einen schmeißen alle möglichen Dinge, die anderen liefern ihnen die Steine. Leute bringen ihnen Wasser und Essen. Andere löschen die Tränengasgranaten. Einer steht nur da und beobachtet und sagt an, wann der richtige Moment ist, nach vorne zu gehen. Und es gibt Erste Hilfe. Die Ärzte dort bewegen sich auch mit Schilden. Sie riskieren ebenfalls viel, um anderen zu helfen. Und alle haben Sprühflaschen mit Bikarbonat und Wasser dabei.
Wie viele Leute gehören zur Primera Línea?
Viele. Die gibt es nicht nur in Santiago. Alle Orte und alle Poblaciones haben ihre Primera Línea. Auf dem Platz der Würde sind es Hunderte. Aber wenn wir alle Poblaciones dazu rechnen, kommen wir leicht auf Tausend. Aus den Poblaciones kommen sie manchmal auch zum Platz, vor allem an den Freitagen. Manche Poblaciones befinden sich in einem permanenten Aufstand, aber an den Freitagen sind dort nicht so viele Leute wie sonst.
Die historische AFI hat sich aus Sicherheitsgründen immer in Gruppen auf der Straße bewegt. Ihr stürzt euch heute einzeln ins Getümmel?
Manchmal gehen wir zusammen los. Aber dann trennen wir uns und bleiben über WhatsApp in Verbindung. Wir wollen doch nicht alle die gleichen Bilder machen! Außerdem hat mein Kollege eine Gasmaske, und ich habe erst vor Kurzem eine bekommen. Ich war nur mit einem Tuch unterwegs. Zur Primera Línea durchzukommen, das war wie Tauchen im Schwimmbad: Du hältst die Luft an, so lange es geht, und dann wieder raus. Jetzt habe ich auch so eine Maske und werde am Freitag versuchen, weiter nach vorn zu gehen. Im Rahmen des Möglichen, selbstverständlich.
Wir Reporter kennen uns alle und grüßen uns auf dem Platz. Prensa Opal, Señal 3 La Victoria, PiensaPrensa, wir sind verschiedene Kollektive, aber alle auf derselben Seite. Einige sind Agenturen, die bringen Nachrichten schneller raus. Wir sind poetischer, wir nehmen uns Zeit für die Veröffentlichungen, um einen Text dazu zu schreiben. Wir sind einzeln unterwegs, aber wir sind nicht allein. Es sind immer ein paar andere in der Nähe, und wir schützen uns gegenseitig.
Sind dort auch Fotografen der größeren Medien?
Ja, aber die trauen sich nicht da unten hin, weil die Leute sie rausschmeißen würden. Die filmen immer von oben aus den Wohnungen. In der ersten Phase des Aufstands haben sie versucht, Leute zu interviewen und haben ihnen Fragen zu den Zerstörungen gestellt. Aber selbst die unglaublichsten Leute fanden das in Ordnung und haben den Kampf verteidigt. Sie wussten nicht mehr, wen sie fragen sollten. Sie fragten eine Frau an einer Bushaltestelle, wie lange sie schon auf den Bus warte: »Zwei Stunden. Schlimm.« Dann fragten sie eine andere ältere Frau, und die meinte: »30 Jahre! Dieser Kampf muss weiter gehen. Dafür warte ich gerne noch zwei Stunden.« Das kam live im Fernsehen.Anfangs wollten sie es so aussehen lassen, als liefe alles normal. Aber das haben sie nicht hingekriegt. In den Medien wurden viele Leute entlassen, die diese Kommunikationsstrategie nicht mitgemacht haben. Danach hieß es dann: Überall ist Chaos. Und auf allen Kanälen liefen immer dieselben Interviews, dieselben Bilder.
Wenn ihr mit eurer Ausrüstung durch die Stadt geht, werdet ihr nicht etwa als Krawallmacher beschimpft, sondern bekommt eher Zuspruch.
Wir bekommen nicht so viel Applaus wie die Demo-Sanitäter, aber auch zu uns Reporterinnen sind die Leute sehr freundlich. Früher war es schlecht angesehen, sich politisch einzumischen. Mein jüngerer Sohn geht auf eine traditionelle Schule, wo auch viele Rechte sind. Wenn ich da mit meinem Helm, meiner Ausrüstung und meinem Presseausweis hinkam, um ihn abzuholen, war ich als Kommunistin verschrien. Heute fragen sie, wie es mir geht, und sagen, ich solle gut auf mich aufpassen. Es sei super, was da passiert. Auf einmal gibt es eine unglaubliche Solidarität.
Das Interview wurde am 11. Dezember in Santiago geführt. Übersetzung: Alix Arnold. AFI Santiago auf Facebook.
Anmerkung:
1) Poblaciones ist in Chile die Bezeichnung für die Siedlungen von Arbeiter*innen und der ärmeren Bevölkerung am Stadtrand, die seit den 1950er Jahren meist durch Landbesetzungen entstanden sind.