Alles hängt am Referendum
Am 4. September stimmt die chilenische Bevölkerung über die neue Verfassung ab – scheitert sie, steht die regierende Linkskoalition vor dem Aus
Von Malte Seiwerth
Nun steht er da auf 162 Seiten Papier, verfasst in 499 Artikeln: der Entwurf der neuen chilenischen Verfassung. Darin enthalten sind »die wichtigsten Forderungen der sozialen Bewegungen«, meint die Konventsabgeordnete Ivanna Olivares glücklich und erschöpft gegenüber ak. Zehn Monate hatte der Verfassungskonvent getagt, zum Teil über zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.
Olivares wurde am 16. Mai 2021 als Repräsentantin der Umweltbewegung Modatima Choapa in den Konvent gewählt, von hier aus vertrat sie die Positionen der sozialen Bewegungen und in erster Linie des Kampfes um Wasser. Mit dem Resultat ist sie zufrieden, wenngleich ihre Forderungen eigentlich über die erreichten Kompromisse hinausreichen. »Die neue Verfassung stellt nicht das Ende des Neoliberalismus dar«, meint sie entschieden, sie sei nur eine weitere Tür, die geöffnet wird, um soziale Transformationen voranzutreiben.
Doch selbst dieser Etappensieg ist noch nicht gesichert: Umfragen zufolge ist es möglich, dass bei der Abstimmung am 4. September eine Mehrheit der Bevölkerung gegen die neue Verfassung stimmt. Es wäre das Aus für den von den sozialen Bewegungen vorangetriebenen Transformationsprozess im Land und das frühe politische Ende der Reformregierung unter Gabriel Boric. Aus linker Perspektive geht es also um alles oder nichts.
Schwierige Ausgangslage für die Regierung
Drei Monate sind vergangen, seitdem die neue Regierung das Amt im März übernommen hatte. Auf Boric ruhten und ruhen viele Hoffnungen, hatte dieser die Wahl doch vor allem mit dem Versprechen gewonnen, die Forderungen der sozialen Bewegungen in seine Politik aufzunehmen. Doch die Ausgangslage machte dies von Anfang an schwer: Boric` Regierungsbündnis Apruebo Dignidad erhielt gerade Mal ein Drittel der Sitze im Kongress und besetzt nur sechs Senatsposten mit Abgeordneten. Zusammen mit allen Mitte-Parteien (inklusive der Christdemokraten) existiert eine knappe Mehrheit gegenüber den Rechten im Senat. Personell fehlen der Apruebo Dignidad zudem kompetente Persönlichkeiten für die Besetzung der offenen Posten in den Ministerien.
So musste sie Teile der ehemaligen Mitte-Links-Koalition »Concertación« in das eigene Bündnis aufnehmen und wichtige Ministerien mit Mitte-Links-Politiker*innen besetzen. Zudem dauerte die Übernahme der Regierungsgeschäfte mehrere Monate. Posten waren lange Zeit unbesetzt, erst Ende Mai wurde etwa das neue Direktorium der staatlichen Eisenbahngesellschaft vorgestellt – eine Schlüsselposition für die Energie- und Verkehrswende, die das Transportministerium vorantreiben will. Lange blieb zudem unklar, wie die vielen versprochenen Reformen, von der Polizei über das Gesundheitswesen bis zur Bildung, umgesetzt werden sollen.
Mittlerweile ist klar, dass die neue Verfassung den gesetzlichen Rahmen für die versprochenen Reformen liefern soll.
Mittlerweile ist klar, dass die neue Verfassung den gesetzlichen Rahmen für die Reformen liefern soll. Eine Strategie, die Olivares nicht überrascht: »Die Regierungskoalition hat eine klare Mehrheit im Konvent und hat diese eingesetzt, um die eigene Position zu stärken«, sagt die Abgeordnete, die links von Boric und seinen Minister*innen steht. Auch Regierungsmitglieder bestätigen diese Einschätzung. Der kommunistische Kongressabgeordnete Boris Barrera meint gegenüber ak, »in den Parlamentskammern fehlt uns schlichtweg die Mehrheit, um irgendeine Reform voranzutreiben«.
Doch auch unabhängig von den angekündigten Gesetzesprojekten, die nun vom Erfolg der neuen Verfassung abhängig sind, hat die Regierung Teile ihrer Anhänger*innenschaft bislang enttäuscht. Nachdem sie Mitte Mai erneut den Ausnahmezustand im Wallmapu, dem ursprünglichen Siedlungsgebiet der indigenen Mapuche, verhängte, trat der Koordinator für indigene Themen im Innenministerium, Salvador Millaleo, zurück. Es war eins der wichtigsten Versprechen der Regierung von Gabriel Boric, das Militär aus dem Wallmapu zurück zu ziehen – zuvor galt hier unter dem rechten Sebastián Piñera für fast zwei Jahre der Ausnahmezustand – und nicht weiter mit militärischer Gewalt auf die Forderungen und politischen Kämpfe der Mapuche zu reagieren.
Seit Jahrzehnten kämpfen die Mapuche für die Rückgabe ihrer Ländereien und gegen die Forstindustrie vor Ort. Dabei setzen manche auf militante Aktionen und Anschläge gegen Unternehmen und Siedler*innen, die wiederum von Terrorismus sprechen und mit der Hilfe mächtiger Lobbyverbände die militärische Bekämpfung der verantwortlichen Gruppen verlangen.
Millaleo sagte gegenüber der spanischen Tagesezeitung El País, die jetzige Regierung würde wie auch die vorherige auf politische Gewalt der Mapuche mit einem »Strafpopulismus« reagieren, der den Konflikt immer weiter anheizen würde. Auch er hofft nun auf die neue Verfassung: »Sofern du nach positiven Nachrichten suchst, schau dir den Konvent an«, so Millaleo gegenüber El País.
Ein Meilenstein für indigene Forderungen
Die neue Verfassung wäre gerade mit Blick auf die Forderungen von Indigenen ein Meilenstein. Chile wird darin erstmals als »plurinationaler Staat« definiert, der ähnlich der bolivianischen Verfassung den Indigenen in gewissem Maße eine eigene Rechtsprechung zusicherte. Reservierte Sitze in gewählten Organen würden zudem eine Mitbestimmung garantieren. Aus politischer Sicht würde das Dokument außerdem einen Grundkonflikt im Wallmapu lösen: Die enteigneten Ländereien würden als solche anerkannt und eine Rückgabe zugesichert. Wie genau, ist allerdings, wie so vieles, bislang unklar.
Auch die einstigen Wahlversprechen von Gabriel Boric sind in der neuen Verfassung präsent. So besagt der Entwurf, dass ein universelles Gesundheitssystem unter öffentlicher Verwaltung eingeführt werden soll, dass Bildung bis zur universitären Ebene kostenlos sein wird und die militarisierte Polizei zu einer zivilen Einheit umgewandelt werden muss.
Olivares ist besonders stolz auf die geplante Gesetzgebung, die das Eigentum des Wassers neu regeln würde. Wasser wird darin als ein unveräußerliches Gut in öffentlicher Hand betrachtet, der Zugang dazu als Menschenrecht anerkannt und eine eigene Behörde bestimmt, die den adäquaten Gebrauch von Wasser kontrollieren soll. Der Verfassungsentwurf erkennt außerdem das Recht indigener Völker an, Wasserläufe in deren Territorien autonom zu verwalten. Umstrittene Staudammprojekte in indigenen Gebieten wären damit ein Thema der Vergangenheit.
»Unsere Verfassung reagiert auf die derzeitige Klimakrise«, meint Olivares, »diese wird benannt, und es werden verschiedene Rechte beschrieben, die der Eindämmung dienen«. So auch der Schutz von Gletschern, die durch den Bergbau bedroht sind und gleichzeitig ein wichtiges Wasserreservoir für den Norden und das Zentrum des Landes darstellen. »Für mich als Vertreterin der Gemeinschaften des trockenen Nordens sind diese Punkte besonders wichtig«, sagt Olivares. »Wir leiden schon jetzt unter einer enormen Wasserknappheit, die durch die ungleiche Verteilung und Überausbeutung nur noch verstärkt wird«.
Olivares wohnt in Salamanca, einer kleinen Stadt in einem fruchtbaren Tal. Doch in den Bergen verbraucht der Bergbau enorme Mengen an Wasser und zerstört vorhandene Gletscher. Der Rest versickert in den Wein-, Zitrus- und Acovadoplantagen in den Tälern. Im Jahr 2021 wurde mehrmals von ländlichen Schulen berichtet, die aufgrund des Wassermangels nicht öffnen konnten.
Kompromisse statt »Maximalforderungen«
Diese Situation könnte sich nun ändern. Mit der neuen Verfassung würde der Zugang zu der lebenswichtigen Ressource neu verteilt. Da heute zu viele Wasserrechte existieren, würde deren Anzahl vermutlich reduziert und die Bevölkerung und kleine Landwirtschaft bei der Verteilung priorisiert. Die Konfliktlinien mit den Bergbauunternehmen und Großgrundbesitzer*innen sind damit klar vorgezeichnet.
Der Entwurf besagt, dass ein universelles Gesundheitssystem unter öffentlicher Verwaltung eingeführt werden soll, dass Bildung bis zur universitären Ebene kostenlos sein wird und die militarisierte Polizei zu einer zivilen Einheit umgewandelt werden muss.
Während Millaleo, der zurückgetretene Koordinator für indigene Themen, der weiterhin Mitglied der regierenden Partei Revolución Democratica ist, kaum Kritik am Entwurf der Verfassung äußert, gesteht Olivares ein, dass »die Regierung und eine Mehrheit im Konvent eine sozialdemokratische Grundhaltung« haben. Dies habe dazu geführt, dass radikalere Forderungen nicht durchgekommen sind. So kam Olivares im Februrar 2022 in die Medien, weil ihre Konventskommission forderte, den Bergbau zu verstaatlichen. Dadurch könnten die Gewinne für einen Umbau der chilenischen Wirtschaft genutzt werden, und es müsste insgesamt weniger Kupfer abgebaut werden, um ähnlich viele Staatseinnahmen zu erzielen. Der Vorschlag wurde von einer klaren Mehrheit abgelehnt, die Medien brachten dennoch Skandalmeldungen über die »Maximalforderungen« eines »radikalisierten Verfassungskonvents«.
Aktivist*innen wie Ivanna Olivares, die den Konvent bei aller Zustimmung zum Prozess auch kritisieren, geht es um genau solche Forderungen, die eine radikale Umwälzung der Eigentumsverhältnisse im neoliberalen Musterstaat Chile bedeutet hätten, und die nicht durchgekommen sind. Außerdem meint Olivares, dass private Wirtschaftsakteure weiterhin eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung sozialer Rechte bekommen werden. So soll das Gesundheitssystem zwar öffentlich sein, private Unternehmer*innen würden aber weiterhin Dienstleistungen in dem Sektor erbringen können. Olivares fürchtet daher eine fortlaufende Privatisierung durch die Hintertür. Auch kritisiert sie, dass soziale Bewegungen nicht als politische Akteure anerkennt werden. Im Gegensatz zum Wahlgesetz für den Konvent können laut dem Entwurf der neuen Verfassung sozialen Bewegungen und parteiunabhängige Akteure keine Wahllisten bilden und sich unabhängig von Parteien bei Parlamentswahlen aufstellen.
Referendum mit ungewissem Ausgang
»Es ist ein Anfang«, sagt Olivares dennoch. Die Chance auf wirkliche Veränderung würde vor allem durch Elemente der direkten Demokratie zugesichert, die in der neuen Verfassung verankert wären. In Chile würde es dann das Recht geben, Gesetzesprojekte vorzuschlagen, darüber abzustimmen und Gesetzentwürfe des Parlaments per Referendum abzulehnen. Das, so Olivares, ist ein wichtiges Instrument für soziale Bewegungen, um den Wandel von außerhalb der Parlamente voran zu treiben. Schon im Jahr 2017 führte die Bewegung für ein Ende des privatisierten Rentensystems »No+AFP« eine selbstorganisierte Abstimmung durch. In fast allen Gemeinden standen an zentralen Orten Aktivist*innen mit selbstgebauten Wahlurnen und -kabinen. Knapp eine Million Menschen, immerhin ein Achtel der landesüblichen Wahlbeteiligung, stimmten damals für ein öffentliches Rentensystem. Da es keine gesetzliche Grundlage für sogenannte Volksinitiativen gab, blieb die Abstimmung ein symbolischer Akt.
Allerdings haben schon vor dem offiziellen Beginn des Abstimmungskampfes um die neue Verfassung rechte Akteure*innen begonnen, Lügen über den angeblichen Inhalt zu verbreiten. Unter anderem, dass durch die Plurinationalität Chile als Staat aufgelöst werden würde. Erste Umfragen sehen derweil schlechte Chancen für eine allgemeine Zustimmung zu dem Dokument. Wird der Verfassungsentwurf mehrheitlich abgelehnt, scheitert das Projekt im Ganzen – das hieße ein Zurück zum Status Quo vor der Oktoberrevolte 2019.
Olivares gibt sich dennoch zuversichtlich: »In meiner Umgebung habe ich nur positive Worte gehört«. Schon jetzt mobilisieren Basisorganisationen im ganzen Land und auf den Straßen für ein »Ja« und somit für ein Ende der Verfassung aus Zeiten der Pinochet-Diktatur. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob das Blatt noch gewendet werden kann. Dafür müsse die Bevölkerung vor allem über den wahren Inhalt der Verfassung informiert werden, meint Olivares zum Schluss.