Daniel Stiven Sanchez, ermordet am 28. Mai
Gewaltwelle in Kolumbien: Die Protestbewegung hat Hunderte Todesopfer und Verschwundene zu beklagen – nun kämpfen Angehörige um Aufklärung
Von Mayo Calle
Nach den Protesten der vergangenen Monate ist die Lage in Kolumbien weiter angespannt. Die Straßenblockaden, die einige Regionen über Wochen lahmgelegt hatten, wurden von den Protestierenden Mitte Juni aufgehoben. Einerseits weil die Regierung die Rücknahme einiger der besonders scharf kritisierten Aspekte der geplanten Steuerreform (etwa die Erhöhung der Mehrwertsteuer) angekündigt hatte, andererseits, so eine Begründung aus dem nationalen Streikkomitee, weil die Proteste inmitten der Pandemie nicht unbegrenzt durchhaltbar seien. Jedoch ist von den Ankündigungen der Regierung bislang wenig bis nichts erfüllt. Im Gegenteil: Die nachlassende internationale Aufmerksamkeit hat zu verschärfter Repression gegen die Demonstrierenden geführt.
In Cali, der drittgrößten Stadt des Landes, kam es Anfang September zu Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und der Polizei. Protestierende besetzen weiterhin landesweit einige Polizeistationen und leerstehende Gebäude. Die Polizei versuchte unter Einsatz von Tränengas, die Besetzer*innen eines Nachbarschaftstreffs in Cali zu vertreiben, diese reagierten mit Krawallen. Die vorwiegend Jugendlichen begründen ihre Besetzungen damit, dass zahlreiche Personen verhaftet wurden und viele weiterhin als verschwunden gelten.
Polizeigewalt und Zwangsrekrutierungen
Und tatsächlich trifft die massive Repressionswelle die politische Opposition hart. Laut der NGO Temblores werden noch immer 346 Personen vermisst. Kolumbien ist wieder weitgehend militarisiert, Polizei und Militär kontrollieren Landstraßen, zentrale Kreuzungen und patrouillieren durch Wohngebiete. Allein vom 28. April bis 31. Mai seien landesweit 1.649 willkürliche Verhaftungen registriert worden. Nach wie vor gibt es täglich Meldungen über Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, die meisten in Bogotá, Cali, Soacha, Pasto und Rionegro. Verurteilt wurde bisher niemand.
Zudem häufen sich Meldungen über illegale Zwangsrekrutierungen seitens der kolumbianischen Streitkräfte in eben den Vierteln, in denen Jugendliche besonders aktiv im Protest waren oder immer noch sind. Laut Anwohner*innen sperren Soldaten Busstationen und öffentliche Plätze ab und nehmen alle Männer unter 21 Jahren mit, vorgeblich um ihre Militärausweise zu überprüfen. Wer bisher keinen Dienst geleistet hat, wird mitunter bis zu fünf Tage ohne Kontakt zur Außenwelt in einer Militärbasis festgehalten und dann zum Dienst verpflichtet.
Die zentrale Aufgabe der Bewegung ist zurzeit die Aufarbeitung der massiven Menschenrechtsverletzungen seitens der Polizei und des Militärs während der Proteste. Die Menschen haben im Laufe der Proteste in Cali gelernt, Szenen zu filmen, damit die Handyvideos später als Beweismittel verwendet werden können. Sie kommentieren darin, wann und wo die Ereignisse geschehen. Es sind meist verwackelte Aufnahmen wie aus einem Horrorfilm. So liegt in einem der Videos, aufgenommen im Stadtteil Siloé in Cali, ein Jugendlicher auf dem Gehweg, die steifen Gliedmaßen in die Luft gestreckt. Eine Männerstimme kommentiert: »29. Mai 2021, Kaufhaus Dollarcity in Siloé, einer der Jungen, die tot aufgefunden wurden.« Während des landesweiten Streiks wurden zahlreiche Leichen durch die Veröffentlichung von Videos in sozialen Netzwerken identifiziert, manche nur noch aufgrund von Schmuck oder Tätowierungen. Wie viele Tote es noch zu identifizieren gibt, weiß niemand.
Was geschah am 28. Mai in Cali?
Der Tote in diesem Video heißt Daniel Stiven Sánchez Quiceno und war 16 Jahre alt. Er ist einer von zehn verifizierten Toten am Blockadepunkt in Siloé, die unmittelbar im Zusammenhang mit dem Generalstreik gestorben sind. Einer von rund 100 in ganz Kolumbien. Nun geht es darum, die Umstände seines Todes aufzuklären und vor internationale Gerichte zu bringen, denn in Kolumbien werden die Täter aus Polizei- und Militärreihen nicht zur Verantwortung gezogen.
Was geschah am 28. Mai? Videos und Zeug*innen helfen bei der Aufklärung. Räumpanzer standen nur einen Straßenzug vom Blockadepunkt am Kreisverkehr in Siloé entfernt, in der Nähe des Kaufhauses Dollarcity. Das Kaufhaus war bereits zuvor mehrmals geplündert worden. Einige Zeug*innen sagen später aus, dass sich auf dem Dach des Gebäudes vermummte Personen befanden, die jedoch nicht zu den Protestierenden gehörten.
Es kam an jenem Tag zu Straßenschlachten zwischen Demonstrierenden und Polizei. Verletzte blieben auf der Straße liegen. Die selbstorganisierten Gesundheitsbrigaden versuchten, sich den Opfern zu nähern und Erste Hilfe zu leisten. Doch der Beschuss durch die Polizei zwang sie zum Rückzug. Sie versuchten, Daniel Stiven zu versorgen, der aufgrund von Verletzungen nicht mehr davonlaufen konnte. Sanitäter*innen bezeugen später, dass der Verletzte von Polizist*innen in den Räumpanzer gezerrt wurde. In derselben Nacht ging das Kaufhaus in Flammen auf und wurde erst in den Morgenstunden von der Feuerwehr gelöscht. Im Einsatzprotokoll der Feuerwehr tauchen weder Tote noch Verletzte auf. Zu keinem Zeitpunkt seien Feuerwehrleute von der Polizei darüber informiert worden, dass Plünderungen stattgefunden hätten oder Menschen im Kaufhaus eingeschlossen gewesen seien. Wie konnte die Feuerwehr dann am nächsten Tag bei den Löscharbeiten Daniel Stiven bergen? Er wird von der Feuerwehr in die Gerichtsmedizin gebracht. Seine Familie besteht tagelang darauf, ihn sehen und identifizieren zu dürfen. Die immer gleiche Antwort: Solange der Körper untersucht wird, seien keine Besuche gestattet.
Laut dem Bericht der Gerichtsmedizin sei Daniel Stiven an einer Rauchvergiftung erstickt. Die Folterspuren an der Leiche erwähnt sie nicht.
Nun stehen sich unterschiedliche Versionen gegenüber: Laut offiziellen Stellen sei Daniel Stiven ein Randalierer, er habe das Kaufhaus plündern wollen und es in Brand gesteckt. Die Familie bestreitet diese Version. Auf einer Gedenkveranstaltung zwei Tage nach dem Tod macht sie staatliche Sicherheitskräfte für den Tod des Jungen verantwortlich. Sie glaubt der Version der Zeug*innen: Daniel wurde verletzt in den Räumpanzer gezerrt, gefoltert und getötet. Erst danach habe man ihn ins Kaufhaus verschleppt. Um diese Version zu belegen, sammelt die Familie Beweise.
Laut dem Bericht der Gerichtsmedizin sei Daniel Stiven an einer Rauchvergiftung erstickt. Die Folterspuren werden an keiner Stelle erwähnt. Außerdem verdächtig: Die Leiche hätte beim Ausmaß des Brandes vollkommen verkohlt sein müssen. Die chemischen Proben der Kleidung und weitere Details der gerichtsmedizinischen Untersuchungen werden unter Verschluss gehalten. Beim Eintreffen im Bestattungsinstitut war Daniel Stivens Körper vollkommen entstellt. Die Gerichtsmediziner*innen hätten ganze Körperfragmente entfernt, just an den Stellen, wo die Familie und Anwälte Beweise für Folterspuren vermuteten. Selbst das Gebiss sei entfernt, die Löcher im Körper notdürftig mit Plastiksäcken ausgestopft worden. Drei Monate nach dem Tod hat die Staatsanwaltschaft kein einziges Interview mit Zeug*innen geführt.
Ist der Paramilitarismus zurück?
Bereits wenige Tage nach der öffentlichen Anklage in verschiedenen Medien erhielt Daniel Stivens Familie Morddrohungen und musste ihr Haus in Siloé verlassen. In den letzten drei Monaten ist sie vier Mal umgezogen, immer wieder tauchten bewaffnete Männer vor ihrem Haus auf. Die Mutter und Schwestern des Toten verlassen aus Angst das Haus nicht mehr. Nun kämpft die Familie um ein Schutzprogramm für Zeug*innen. Sie weiß, dass die Täter in Kolumbien nicht zur Verantwortung gezogen werden, aber sie will zumindest wissen, was genau mit ihrem Liebsten passiert ist. Das allein sei Grund genug, um weiter um die Wahrheit zu kämpfen.
Daniel Stivens Fall ist einer von vielen, aber er steht exemplarisch für die diffuse Lage nach dem großen Protest. Die Bewegung kuriert ihre Wunden und versucht, der heftigen Gewaltwelle standzuhalten. Weiterhin werden Nachbarschaftstreffen abgehalten, politische Veranstaltungen organisiert, kommende Proteste vorbereitet. Denn eines ist deutlich geworden: Die Regierung des ultrarechten Präsidenten Iván Duque wird sich an keine Verabredung halten. Im Gegenteil: Unter ihm sind die Paramilitärs erneut erstarkt, und in viele Regionen ist der bewaffnete Konflikt zurückgekehrt. Der Kokainhandel floriert, ganze Regionen sind in der Hand von Drogenbanden. Der Kampf um die Wahrheit und das Ende der Gewalt wird weitergehen, ein nächster Höhepunkt ist mit dem Beginn des Wahlkampfes zur Präsidentschaftswahl Ende des Jahres zu erwarten.