Brummi-Plenum an der Raste
Lkw-Fahrer aus Georgien und Usbekistan haben etwas Seltenes geschafft: einen wilden Streik bis zum Sieg geführt – wie war das möglich?
Von Jan Ole Arps und Nelli Tügel
Es hatte sich schon länger abgezeichnet, dass 2023 ein besonderes Streikjahr werden würde. Doch einen Ausstand wie den der 60 georgischen und usbekischen Lkw-Fahrer dürften die wenigsten auf dem Zettel gehabt haben. Mehr als einen Monat streikten die Fahrer des polnischen Fuhrunternehmens Agmaz, Lukmaz und Imperia wegen nicht gezahlter Löhne auf der Raststätte Gräfenhausen West bei Darmstadt – inklusive festgesetzter Brummis, teilweise noch mit wertvoller Fracht beladen. Wie wertvoll, das sollte sich erst am Ende dieses bemerkenswerten Arbeitskampfes herausstellen.
Besonders war der Streik in mehrfacher Hinsicht. Erstens: Die ausgebeutetsten und rechtlosesten Kollegen im Geflecht der Transportlogistik haben ihn geführt. Zweitens: Sie haben gewonnen, ohne Abstriche. Drittens: Sie haben enorme Solidarität aus der Region erfahren. Die mediale Aufmerksamkeit war nach anfänglicher Ignoranz durchgängig hoch. Viertens: Auch DGB-Gewerkschaften und der DGB selbst haben, neben der niederländischen FNV, die den Verhandlungsführer Edwin Atema stellte, den Streik unterstützt. Und das, obwohl es sich um einen nicht-normierten Konflikt handelte.
All diese Dinge sind keineswegs selbstverständlich. Wir denken daher, dass es sich lohnt zusammenzutragen, welche Faktoren dazu beigetragen haben, dass in Gräfenhausen ein Sieg möglich war.
Der Streik resultierte aus einer verzweifelten Situation, doch es gab eine Vorgeschichte: bereits gescheiterte Versuche, etwas an der misslichen Lage zu verbessern, und bei Einzelnen Erfahrungen mit Gewerkschaften.
Zu Punkt eins: Die ausgebeutetsten und rechtlosesten Kollegen im Geflecht der Transportlogistik haben den Streik geführt. Der Arbeitskampf warf ein grelles Schlaglicht auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Lkw-Fahrern, die häufig von osteuropäischen Fuhrunternehmen aus Drittstaaten als Scheinselbstständige angeheuert und dann monatelang auf die Straßen Westeuropas geschickt werden, um für große Speditionen und Konzerne Waren zu transportieren. Dabei wird systematisch Recht gebrochen: Von den Truckern in Gräfenhausen hatte keiner den bei Fahrten in Deutschland zustehenden gesetzlichen Mindestlohn erhalten. Viele lebten monatelange ohne Unterbrechung im Lkw – obwohl das nach EU-Recht nicht zulässig ist und so weiter. Der Streik resultierte aus einer verzweifelten Situation, als die Trucker wochenlang gar nicht mehr bezahlt wurden. Doch er kam nicht aus dem Nichts: Wie Fahrer vor Ort berichteten, gab es eine Vorgeschichte, bereits gescheiterte Versuche, etwas an der misslichen Lage zu verbessern, und, zumindest bei Einzelnen, Erfahrungen mit Gewerkschaften. Die georgischen Fahrer waren es, die den georgischen Gewerkschaftsbund GTUC informierten, der dann Kontakt zu westeuropäischen Gewerkschaften aufnahm und um Hilfe bat.
Zu Punkt zwei: Sie haben gewonnen, ohne Abstriche. Das passiert in Deutschland wirklich äußerst selten. Wie ist es gelungen? Neben der Unterstützung, auf die wir noch zu sprechen kommen werden, scheinen zwei Punkte bemerkenswert: Die Fahrer haben gemeinsam entschieden und sich nicht spalten lassen, obwohl es zahlreiche Versuche des Unternehmens gab, einen Teil durch Versprechungen aus der Streikfront herauszubrechen, und es in dem Unternehmen Tradition ist, nach Nationalität unterschiedlich zu bezahlen: Usbeken verdienten bei Mazur noch weniger als Georgier, erzählte ein Fahrer. Auch die Organisierung lief entlang nationaler Gruppen, aber die georgischen und usbekischen Fahrer hielten trotzdem bis zum Schluss zusammen. Auch, als die ersten zwei Drittel der ausstehenden Gelder, 200.000 Euro, bezahlt worden waren, blieben die Streikenden bei ihrer Ansage: Wir haben es gemeinsam begonnen, wir werden es gemeinsam beenden – und zwar erst, wenn alle alles erhalten haben.
Ausschlaggebend, um am Ende auch die noch fehlenden 100.000 Euro zu bekommen, war indes der Druck eines jener Konzerne, deren Waren die festgesetzten (und sorgsam mit leeren Brummis zugeparkten) Lkw noch als Fracht geladen hatten: Der US-Konzern General Electric brauchte dringend ein in Gräfenhausen liegendes Teil für den Weiterbau einer Anlage in der Schweiz. Daraus lässt sich lernen, dass den beauftragenden Unternehmen Menschen- und Arbeiter*innenrechte ziemlich egal sind – die Streikenden hatten General Electric schon Wochen zuvor um Unterstützung gebeten, tätig wurde der Konzern jedoch erst, als er die Fracht wirklich brauchte. Die gute Nachricht aber ist: Lkw-Fahrer können äußerst effektiv Produktionsmacht mobilisieren und haben damit potenziell gute Druckmöglichkeiten, um Forderungen durchzusetzen.
Zu Punkt drei: Erneut hat sich gezeigt, wie wichtig Solidarität für das Gelingen eines Streiks ist. Dazu beigetragen hat im Fall von Gräfenhausen sicherlich auch das Verhalten des Unternehmers Mazur. Dieser hatte am Karfreitag mithilfe eines paramilitärisch auftretenden Schlägertrupps aus Polen – der Rutkowski-Patrol – versucht, mit Gewalt an seine Lkw zu kommen, und war daraufhin von der deutschen Polizei verhaftet worden. Die mediale Aufmerksamkeit nahm dadurch massiv zu, alle großen Zeitungen schickten Reporter*innen. Der Solidarität war das zuträglich: In den Wochen nach Karfreitag bis zum Sieg kamen nahezu ununterbrochen Menschen an der Raststätte vorbei, um Spenden, Selbstgebackenes oder unterstützende Worte da zu lassen. Allerdings: Die Solidarität war schon vor dem Karfreitag angelaufen. Dies wiederum war jenen Strukturen zu verdanken, die die Fahrer fast von Beginn an vor Ort unterstützten: insbesondere viele DGB-Gewerkschaften, das DGB-Beratungsnetzwerk Faire Mobilität und der niederländische Gewerkschaftsbund FNV.
Damit wären wir bei Punkt vier: Die DGB-Gewerkschaften und der DGB selbst haben in Zusammenarbeit mit anderen europäischen Gewerkschaften den Streik unterstützt. Und das, obwohl es sich um einen nicht-normierten Konflikt handelte. Mit Edwin Atema von der FNV hatten die Fahrer einen Verhandlungsführer, der selbst früher Trucker war und der bereits Erfahrungen mit dem Kampf gegen extreme Ausbeutung von Fahrern aus Drittstaaten im europäischen Straßentransport hatte: 2018 unterstützte Atema philippinische Fahrer, die von einem dänischen Unternehmer über eine polnische Briefkastenfirma für einen deutschen Auftraggeber angeworben worden waren und sich in einer zähen Auseinandersetzung erfolgreich gegen Lohnprellerei wehrten. Die transnationale gewerkschaftliche Kooperation, die keineswegs selbstverständlich ist, hat hier gut und zugunsten der Streikenden funktioniert. Möglicherweise könnte die Transportlogistik für grenzübergreifende gewerkschaftliche Organisierung ein Leuchtturm werden.
Der Gräfenhausen-Streik ist ein Lehrstück für alle Lohnabhängigen.
Auch die Kolleg*innen des Beratungsnetzwerks Faire Mobilität haben offenkundig sehr gute Arbeit vor Ort geleistet. Und ehrenamtliche Gewerkschafter*innen fast aller DGB-Einzelgewerkschaften waren an der Raststätte und haben mit angepackt. Dass mit Stefan Körzell sogar ein Bundesvorstandsmitglied des DGB mehrfach bei den Streikenden war, hat mit Sicherheit dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit hochzuhalten – am Karfreitag war seine Anwesenheit möglicherweise dafür entscheidend, dass Mazur und Co. und nicht die Fahrer selbst in den Fokus der Polizei gerieten.
Nichtsdestotrotz drängt sich die Frage auf: Warum war all das so selbstverständlich möglich? Denn der Streik war formal gesehen ein wilder Streik; oft scheuen sich DGB-Gewerkschaften, für solche Arbeitskämpfe die Verantwortung zu übernehmen, aus Angst vor Schadenersatzforderungen und weil es nicht in die eingeübten Rituale der deutschen Sozialpartnerschaft passt. Wir können nur Vermutungen anstellen und würden eine offene Aussprache darüber unter Gewerkschafter*innen begrüßen. Zu den Vermutungen gehört: Der bestreikte Unternehmer kam aus Polen, die Fahrer kamen aus Georgien und Usbekistan, der Verhandlungsführer aus den Niederlanden. Kurzum: Die deutsche Sozialpartnerschaft blieb von dem Arbeitskampf im Grunde unberührt. Das häufig – etwa gegenüber den Gorillas-Kolleg*innen – vorgebrachte Argument, man solle sich in der Gewerkschaft organisieren, um dann für tarifierbare Ziele zu kämpfen, kam in diesem Fall offenkundig nicht infrage: Die Fahrer bekamen gar keinen Lohn mehr und standen völlig mittellos mit ihren Lkw auf der Raststätte.
Es gibt aus unserer Sicht keinen Grund für Krittelei aus Prinzip. Der Gräfenhausen-Streik ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie es laufen kann und sollte – ein Lehrstück für alle Lohnabhängigen, besonders für jene Hunderttausende, die unter ähnlichen Bedingungen ausgebeutet werden wie die Kollegen bei Mazur. Gerade deshalb ist es so wichtig genauer hinzuschauen, was diesen Erfolg ermöglicht hat und was für die Zukunft daraus mitzunehmen ist.