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|ak 711 | Diskussion

Vorkämpfen ohne Lenin-Nostalgie

Politische Kämpfe brauchen eine Avantgarde, sie sollte aber den realsozialistischen Ballast abwerfen

Von Christian Hofmann

Ein Gruppe von Männnern in Uniformen und Anzügen, schreitet eine Reihe von Soldaten ab, dahinter ein Gebäude mit vielen Türmen
Installierten eine unkontrollierbare Herrschaft über die Sowjetunion: die Bolschewiki. Lenin inspiziert 1919 Truppen der Roten Armee auf dem Roten Platz in Moskau. Foto: gemeinfrei

Die Linke sei im »Organisationsfieber«, konstatierte Slave Cubela. (ak 710) Wenn es tatsächlich eine »Sehnsucht der Linken nach Parteien und Gewerkschaften« gibt, dann ist diese in Anbetracht der deprimierenden Lage aller linken Kräfte allerdings verständlich. Die kritischen Studienergebnisse und Anekdoten, die Cubela aus der Geschichte der politischen Linken aufführt, sind allesamt interessant und lohnen, diskutiert zu werden, etwa die Frage nach zeitlichen Ressourcen oder verschiedenen Wissensständen. Organisationen, egal welcher Art, werden diesbezüglich unter den bestehenden Herrschaftsverhältnissen zwangsläufig mit internen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Dies wirft zunächst nur die Frage auf, wie man diese eindämmt, etwa durch Rotationsprinzipien, Quotierungen oder Mehrfachspitzen. Dies hat sich bezüglich der Geschlechterfrage bereits bewährt und könnte in Anbetracht einer stark universitären Linken auch für Beschäftigungsverhältnisse und akademische Abschlüsse diskutiert werden. Aus den wiederkehrenden Problemen aber den Schluss zu ziehen, dass man gänzlich auf verbindliche Organisierung verzichten sollte, wäre fatal und dürfte kaum das Ansinnen von Cubela gewesen sein. Seinem abschließenden Hinweis, das die Linke einen »kühleren, kritischeren Kopf« zum Thema haben, und nicht den »Heldenmärchen der alten Linken« aufsitzen sollte, ist unbedingt beizupflichten. Das kann aber nicht heißen, jegliches Avantgardeverständnis zu entsorgen.


Dies wäre ein guter Ausgangspunkt, sich ein zeitgemäßes Avantgardeverständnis zu erarbeiten.

Üblicherweise wird in linken Diskussionen schematisch zwischen Massenorganisationen wie Gewerkschaften und Arbeiter*innenparteien auf der einen und Kaderorganisationen auf der anderen Seite unterschieden. Während es auf der einen Seite teilweise ein fast mystisch zu nennendes Vertrauen in die Spontaneität der Massen gibt, setzen die anderen voll und ganz auf die organisierte Elite. Aber wenn das Ziel in der Selbstemanzipation der arbeitenden Klassen besteht, es also letztlich um die demokratische Kontrolle über Produktion, Reproduktion und die eigenen Lebensverhältnisse geht, dürften verschiedene Formen der Organisierung auf den verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichem Größenumfang notwendig sein. In den sozialen Kämpfen müssten sich letztlich Lohnabhängige, Belegschaften, Frauen, von der kommunalen bis letztlich zur globalen Ebene organisieren. Wer die Kräfteverhältnisse irgendwann substanziell ändern will, muss darauf setzen, dass sich letztlich Millionen von Lohnabhängigen ihre Vertretungen schaffen und aktiv die eigenen Lebensverhältnissen umgestalten wollen. Wenn die »vereinzelten Einzelnen« also die lang erlebte eigene Passivität und die Unterordnung unter das Diktat der Unternehmen und Behörden überwinden wollen, werden sie zwangsläufig Formen kollektiver Organisierung entwickeln müssen.

Das Ziel vor Augen

Organisierung zu spezifischen, regionalen oder partikularen Anlässen und Gegebenheiten ist kein bloßes Beiwerk, sondern immanenter Bestandteil der Emanzipation. Trotzdem wäre damit noch nicht die Frage geklärt, wie sich diejenigen organisieren sollen, die den Anspruch haben, das »Interesse der Gesamtbewegung« zu vertreten. Diejenigen also, die sich nicht damit begnügen wollen, ausschließlich gegen eine neue Autobahn oder die nächste Mieterhöhung zu protestieren oder die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und den Betreuungsschlüssel in der eigenen Kita zu verteidigen, sondern hinter all diesen (und vielen weiteren) Fällen die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse erkannt haben und mit diesem Wissen an allen Bewegungen partizipieren wollen. Damit emanzipatorische Kämpfe kein Stückwerk bleiben, sondern aus ihnen eine gesamtgesellschaftliche Perspektive erwächst, gilt es, die Eigentumsfrage als die Grundfrage der Bewegung herauszustellen und das Kapitalverhältnis in einer grundsätzlichen und internationalistischen Perspektive anzugreifen. Schließlich kann nur über eine Umwälzung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse die soziale Frage gelöst und ein ökologischer Kollaps verhindert werden. Wer diese Analyse und damit verbundene Notwendigkeit der Organisierung teilt, verfolgt faktisch – gewollt oder ungewollt – einen avantgardistischen Anspruch. Dass sich viele Linke derzeit mit einem solchen Anspruch schwertun, wurzelt in der scheinbaren Alternativlosigkeit des leninistischen Avantgardeverständnisses. Dieses gilt es tatsächlich als historischen Ballast zu entsorgen.

Für Lenin war die Avantgarde zunächst eine »Verschwörerorganisation«, deren Entstehung nur mit dem »Zeitkontext im zaristischen Russland« begründet werden kann, wie Cubela bereits korrekt ausgeführt hat. Wer Lenin im Original liest, wird das schnell feststellen. So forderte er etwa »größte Konspiration und militärische Disziplin« in einem »Netz ausführender Agenten« und plädierte für eine »Konzentrierung aller konspirativen Funktionen in den Händen einer möglichst geringen Zahl von Berufsrevolutionären«. Die Geschichte war allerdings mit dem Sturz des Zarismus nicht beendet. Die Organisationsfrage ist »keine der politischen Oberfläche«, stellte bereits Rudi Dutschke in seinem »Versuch, Lenin vom Kopf auf die Füße zu stellen« fest, sondern hat tiefgehende Folgen. Und so gingen die Bolschewiki unter Lenin die Herausforderungen nach der Revolution an, wie sie es unter der Despotie gelernt hatten, nämlich technisch-organisatorisch. Dazu noch einmal Lenin: »Durch die Erziehung der Arbeiterpartei erzieht der Marxismus die Avantgarde des Proletariats, die fähig ist, die Macht zu ergreifen und das ganze Volk zum Sozialismus zu führen, die neue Ordnung zu leiten und zu organisieren, Lehrer, Leiter, Führer aller Werktätigen und Ausgebeuteten zu sein«. (1)

Wem sich bei diesem Zitat nicht der Magen umdreht, dem ist vielleicht wirklich nicht mehr zu helfen. Das Fatale ist nur, dass hier ausgerechnet »der Marxismus« zur erziehenden Avantgarde erhoben wird, während Marx faktisch das Gegenteil betonte. In seiner dritten Feuerbachthese heißt es wörtlich, dass die »Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss«. Rätedemokratie oder Arbeiter*innenkontrolle – Formen, mit denen die Massen seinerzeit die Revolutionär*innen hätten erziehen und kontrollieren können – verstanden die Bolschewiki allerdings als bloßes Beiwerk der Revolution, dass schnell wieder verschwinden konnte. Es blieb das Avantgardeverständnis der »befreienden Erziehungsdiktatur«, dass dann krachend gescheitert ist.

Neue Konzepte

Die eigentliche Crux besteht nun aber darin, dass man aus dem Scheitern des staatssozialistischen Avantgardeverständnis nicht den Schluss ziehen sollte, auf jeglichen Avantgardeanspruch zu verzichten. Das »Wörterbuch der deutschen Sprache« ist hier pragmatischer als viele linke Diskussionen. Neben dem Verweis auf die Arbeiter*innenbewegung des 20. Jahrhunderts setzt es unter das Stichwort »Avantgarde« folgende Wortbedeutungen: »Verfechter einer progressiven Richtung« und »Vorkämpfer für eine politische, künstlerische Bewegung«. Vielleicht wäre dies ein guter Ausgangspunkt, sich in Theorie und Praxis ein neues, zeitgemäßes Avantgardeverständnis zu erarbeiten. Wer das Wort »Avantgarde« dabei ein für alle mal für verbrannt hält, müsste ein anderes wählen. Die Idee von Vorkämpfer*innen aber bliebe bestehen. Die Herausforderungen, die vor uns liegen, sind riesig. Das Erdsystem verändert sich mit rasender Geschwindigkeit. Es verändert sich sogar schneller, als die Gesellschaften derzeit zu handeln bereit sind. Dabei sind die Wetterextreme und Katastrophen der letzten Jahre erst ein Vorgeschmack von dem, was auf uns zukommen wird. Und die einzige politische Kraft, die davon bisher profitiert, ist die Rechte, deren Programmatik darin besteht, sich gegen das nahende Unheil hinter nationalen, wenn nicht ethnischen Mauern zu verbarrikadieren.

Die Antwort auf diese reaktionären Scheinantworten muss darin bestehen, konsequent die Klassenfrage in den Mittelpunkt der Klimapolitik zu stellen. Dies wäre zugleich ein Angriff auf die linksliberale, individualistische Variante moralisierender Konsumkritik, die noch immer die Auseinandersetzung um die ökologische Frage dominiert. Stattdessen braucht es ökosozialistische Programme, die ein besseres Leben mit egalitärem Komfort einfordern und letztlich auf eine Überwindung der derzeitigen Produktionsweise hinauslaufen. Dieses Ziel dürfte aber nicht nur abstrakt gepredigt werden; es bedarf der Entwicklung konkreter Übergangsprogramme, die an den Alltagsproblemen der Lohnabhängigen ansetzen. Um diese in Theorie und Praxis zu entwickeln, braucht es neben Massenbewegungen und Organisationen aller Art eine starke ökosozialistische Strömung. Diese sollte sich ihre eigenständigen organisatorischen Strukturen geben und strategische Konzepte ausarbeiten, die es erlauben, wirkungsmächtig in die politischen Auseinandersetzungen einzugreifen. Dabei geht es nicht um eine Avantgarde im erzieherischen Sinne – ich schlau, du dumm – sondern um stets nach vorne treibende Vorkämpfer*innen, die dabei immer ein globales, universalistisches Gesamtziel vor Augen haben.

Christian Hofmann

macht bei Emanzipation, Zeitschrift für ökosozialistische Strategie, mit. Emanzipation organisiert 2025 Strategieseminare zu Organisationsfragen, zunächst Ende März in Potsdam, Mitarbeit und Teilnahme erwünscht.

Anmerkung:


1) Für eine intensivere Auseinandersetzung des Autors mit der bolschewistischen Erzieherrolle siehe »Planwirtschaft« (2022) oder den Artikel »Rudi Dutschke wusste, warum die Revolution im Westen scheiterte« www.jacobin.de/artikel/rudi-dutschke-attentat-bolschewismus-lenin