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Hinter dem Strand steht der Hafen still

Die Grassrootgruppe Rising Tide und ihr Kampf gegen fossile Projekte in Australien

Von Michael Duncan

Menschen, gekleidet in bunter Badekleidung und Neoprenanzüge, ausgerüstet mit aufblasbaren Kajaks und selbstgebauten Schwimmutensilien, machen sich vom Strand aus auf den Weg in das Gewässer einer Hafeneinfahrt.
Auf zur Blockade! Bereits zum zweiten Mal mobilisierte Rising Tide zum Protest in Newcastle/Muloobina. Foto: Joshua Barnett

Ende November 2024, ein frühsommerlicher Freitagvormittag in Newcastle/Muloobina. Die Sonne scheint, an den Stränden der 200 Kilometer nördlich von Sydney an der Ostküste Australiens gelegenen Stadt tummeln sich bereits Badebegeisterte, die Flut setzt langsam ein. Während im Wasser die Surfer*innen wie üblich auf die nächste Welle warten, ist der Anblick auf der anderen Seite der schmalen Landzunge, die den Hafen vom Pazifik trennt, ungewöhnlich: Hunderte Menschen, gekleidet in bunter Badekleidung und Neoprenanzüge, ausgerüstet mit aufblasbaren Kajaks und selbstgebauten Schwimmutensilien, machen sich vom Strand aus auf den Weg in das – noch – ruhige Gewässer der Hafeneinfahrt. Jüngere und ältere Aktivist*innen sind dem Aufruf von Rising Tide gefolgt, den weltweit größten Kohlenhafen drei Tage lang zu blockieren.

Bereits zum zweiten Mal mobilisierte Rising Tide zum Protest in Newcastle/Muloobina. Erstmals in Erscheinung trat die sich selbst als Graswurzelgruppe bezeichnende Organisation in den 2000er Jahren mit direkten Aktionen und Blockaden von Infrastruktur der Kohleindustrie in der Region. Nach langjähriger Pause arbeitet sie heute am Aufbau einer breiten Massenbewegung und ist inzwischen mit lokalen Gruppen in vielen Städten Australiens vertreten. Die Blockade des Hafens in Newcastle/Muloobinba bildet den Höhepunkt der jährlichen Kampagnenarbeit: »Es ist Zeit, den Schutz unseres Klimas zuzuspitzen«, lautet ein Slogan.

7.000 Protestierende aus ganz Australien folgten dem Aufruf – trotz Kriminalisierungsversuchen durch die Polizei. Zu diesen zählten Gerichtsverhandlungen im Vorfeld der Proteste und eine polizeiliche »Schutzzone« für große Teile der Hafeneinfahrt. Die Hafenblockade selbst ist dabei nur ein Teil des achttägigen Protestivals. Von Workshops, Infoständen von Gruppen, NGOs und Parteien (Weird Fact: Die Grünen sind hier Teil einer Bewegung!) und täglichen Aktionstrainings über freitäglichen Schulstreik und Küche für alle bis hin zu Morgenyoga und Konzerten ist das Programm gezielt vielfältig, breit und niederschwellig. Die Forderungen des Protests sind klar formuliert: sofortige Einstellung aller neuen fossilen Projekte, Besteuerung der Exportgewinne aus fossilen Brennstoffen mit 78 Prozent zur Finanzierung des sozialen und industriellen Transformationsprozesses sowie zur Begleichung von Klimaverlusten und -schäden. Und nicht zu vergessen, die Einstellung aller Kohleexporte aus Newcastle bis 2030.

Kohleindustrie und Kolonialisierung

Newcastle/Muloobinba mit seinen rund 500.000 Einwohner*innen ist ein Zentrum der Kohleindustrie in Australien, dem zweitgrößten Kohleexporteur weltweit. 1804 wurde hier zum Zweck der Kohleförderung eine britische Strafkolonie errichtet. Die als »Höllenloch« berüchtigte Siedlung zählte bald Tausende Sträflinge. Die Kolonialisierung des Gebiets bedeutete die Vertreibung, Verschleppung und Ermordung der hier lebenden Aboriginals. Muloobinba, der Name der Region in den Sprachen der lokalen Aboriginals, ist das Land der Awabakal und Worimi.

Organisiert unter anderem in offiziellen »Local Aboriginal Land Councils« kämpfen sie um Anerkennung, Gerechtigkeit und den Erhalt der Kultur. Nicht ohne Erfolge: Die anerkennenden Worte »Wir erkennen die traditionellen Verwalter*innen des Landes an, auf dem wir arbeiten und leben, ebenso wie ihre andauernde Verbindung zu Land, Wasser und Gemeinschaft« findet sich mittlerweile auf offiziellen Homepages der Verwaltung und der Wirtschaft ebenso wie in den Signaturen von Universitätsmitarbeitenden. Ein landesweites Referendum 2023 zur Einführung einer konstitutionellen Vertretung von Aboriginals und Torres Strait Islanders wurde hingegen von einer Mehrheit abgelehnt. Die Vertretung hätte eine beratende Funktion für die Gesetzgebung innehaben sollen, ohne Entscheidungsmacht.

Aboriginals wehrten sich schon früh gegen die Zerstörung des Landes und ihrer Lebensgrundlagen durch den Kohleabbau.

Die Geschichte der Region verdeutlicht die Ursprünge der Kohleindustrie in der Kolonisierung Australiens. Heute gilt der Hafen von Newcastle/Muloobina als weltweit größter Kohlehafen. Allein von hier aus wurden 2023 144,5 Millionen Tonnen Kohle verschifft. Zum Vergleich: In Deutschland wurden im selben Jahr 102 Millionen Tonnen an Kohle abgebaut. Die Kohleindustrie ist wichtig für die regionale kapitalistische Wertschöpfung und den Arbeitsmarkt. Nach einem Bericht der Stadtverwaltung sind 15 Prozent der regionalen Arbeitsplätze in der Kohleindustrie angesiedelt. Rund 12.000 Jobs stünden durch den Ausstieg aus der Kohle bis 2030 – dritte Forderungen von Rising Tide – auf der Kippe.

Wo die Wellen hochschlagen

Nicht zuletzt aufgrund dieser Verknüpfungen stellt sich für die Proteste in besonderer Weise die Frage der Verbindung des Kampfes um ein Ende fossiler Energie mit Arbeits- und postkolonialen Kämpfen. Rising Tide greift dies zum einen durch die aktive Einbindung und Beteiligung von Gewerkschafter*innen und von Aboriginals-Organisationen im Programm auf.

Zum anderen zielt die Forderung nach einer Besteuerung der Kohleexportgewinne zur Finanzierung der Transformation und zur Begleichung der Schäden sowohl auf die Vergangenheit und ihre gegenwärtigen Folgen als auch auf die Zukunft und nimmt die Kohleindustrie dafür in die Pflicht. Aboriginals wehrten sich schon früh gegen die Zerstörung des Landes und ihrer Lebensgrundlagen durch den Kohleabbau. Diese Kämpfe will Rising Tide unterstützen und von ihnen lernen. Vermeintliche Widersprüche, etwa im Hinblick auf drohende Arbeitsplatzverluste, werden durch Kooperationen bearbeitet. »Klima- und Gewerkschaftsaktivismus ist im Grunde dasselbe: Es geht um Menschen gegen Profit«, meinte etwa ein Gewerkschafter auf einer Diskussionsveranstaltung. Die realpolitischen Protestforderungen scheinen zu einer Verständigung darüber beizutragen, wie eine Transformation gerecht umgesetzt werden kann.

Zurück am Strand verläuft der freitägliche Protest noch ruhig. Die zuvor in Workshops erlernten Mittel des zivilen Ungehorsams stehen einem Großaufgebot der Polizei an Land und zu Wasser gegenüber. An den darauffolgenden Tagen jedoch schlagen in der wellenfreien Hafeneinfahrt die Wogen hoch: Als Aktivist*innen die durch Bojen abgesteckte polizeiliche Schutzzone überschreiten, kommt der Hafen zum Stillstand. Mehrere Stunden gelingt es an diesem Wochenende, die Schifffahrt lahmzulegen. Letztlich entscheidet sich die Staatsgewalt dazu, auf Jetskis, Speed- und Küstenbooten hart durchzugreifen. 173 Aktivist*innen zu Wasser werden festgenommen und angezeigt. Der Protest erregt international mediale Aufmerksamkeit und wird von Rising Tide als voller Erfolg auf dem Weg zum Aufbau einer Massenbewegung gefeiert: »The tide is rising, but so are we!«

Michael Duncan

ist Soziologe und forscht zu Jugend und Erwerbsarbeit. Er verbrachte einige Monate an der Ostküste Australiens.