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Von der Unregierbarkeit zum Chaos

Die Pandemie ist ein Wendepunkt in den lateinamerikanischen Gesellschaften: die Bevölkerung rebelliert, die Rechte wird radikaler

Von Raúl Zibechi

Eine Frau mit Tuch vor dem Mund hält ein Bengalo in die Höhe, dahinter eine Demonstration von Frauen auf den Studen zu einem Reiterdenkmal, an dem Transparente und Fahnen hängen
War die Reihe der Aufstände von 2019, wie hier in Chile, durch Corona nur unterbrochen und nimmt mit den Massenprotesten in Kolumbien wieder Fahrt auf? Feministische Demonstration auf der Plaza Dignidad in Santiago de Chile, November 2019. Foto: Karla Riveros / Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Auf das Ende des progressiven Zyklus folgte nicht die Installation rechter Regierungen, was zwar tatsächlich geschah, aber anders als üblich: Es begann eine allgemeine Krisenperiode des Regierens. Was uns Jair Bolsonaro in Brasilien, Lenín Moreno in Ecuador und seinerzeit Jeannine Añez in Bolivien – man könnte noch Sebastián Piñera in Chile hinzufügen – vor Augen führen, ist die enorme Schwierigkeit, ihre Regierungen zu stabilisieren. Diese neue Realität ergibt sich nicht mechanisch aus der wirtschaftlichen Situation, denn die Regierungen fanden Gesellschaften vor, die nicht mehr bereit waren, den Autoritarismus und den vertieften extraktivistischen Neoliberalismus zu akzeptieren. (1)

Schon vor der Pandemie gab es Volksaufstände, die die Pläne der Rechten in Frage stellten, vor allem in Ecuador und Chile. In Bolivien hinderte eine phänomenale Abfolge von Blockaden im August 2020 die Putschregierung daran, die Wahlen weiter zu verzögern. Im Gegensatz zu den genannten Ländern ist in Brasilien die offensichtliche Unfähigkeit der zivil-militärischen Regierung die Hauptursache für ihren fortschreitenden Verfall.

Aber auch in Länder mit progressiveren Regierungen, vor allem in Argentinien, ist es um die Regierungsfähigkeit nicht gut bestellt. Obwohl das Pandemie-Management sich stark von dem der Regierung Bolsonaros unterscheidet, inklusive langer Phasen von Lockdowns und Kontaktbeschränkungen ähnlich wie in Europa, sind die Infektionszahlen sogar noch höher als in Brasilien – jedenfalls wenn man den Zahlen der Behörden trauen kann.

Die schlechte Figur, die Argentiniens Präsident Alberto Fernandez bei der Bewältigung der Pandemie abgibt, mit einer neuen Welle von Infektionen und sehr langsamen Fortschritten beim Impfen, schürt in der Bevölkerung den Widerwillen gegen die Verbote. Mehr noch, die Mehrheit der Bevölkerung ist geneigt, sie zu missachten: die Mittelschicht mit lauten Demonstrationen in privaten Fahrzeugen, während es für die ärmeren Klassen offenkundig unmöglich ist, die Empfehlungen zum Abstandhalten und Zu-Hause-bleiben zu befolgen.

Gesellschaften in Bewegung

Nach einem Jahr Pandemie bewegt sich etwas in Lateinamerika. Von den indigenen Gemeinden Mexikos und Mittelamerikas bis hin zu den unteren Klassen in der gesamten Region, die sich abzuwechseln scheinen nicht nur in der Ablehnung der Regierungen, sondern auch eines räuberischen Lebensmodells, das Millionen junger Menschen sich selbst überlässt, ohne jede andere Aussicht als der, zwischen den verschiedensten Formen der Prekarität umherzuwandern: von der Arbeit über die Gesundheit bis hin zum Wohnen und dem Leben selbst, mehr von institutioneller und paramilitärischer Gewalt verfolgt als von Viren.

Die Bewegungen reichen von den großen Boulevards bis in die entlegensten Ecken. Die Städte Kolumbiens waren einen ganzen Monat ohne Unterbrechung überflutet mit jungen Menschen; die Wahlurnen Chiles füllten sich mit Stimmzetteln für – den sozialen Bewegungen nahestehenden – unabhängigen Kandidat*innen, die die Rechten und etablierten Parteien weit hinter sich ließen.

An Orten, die weit vom medialen Rampenlicht entfernt sind, geschieht Ähnliches. Zum Beispiel in Wall Mapu (das Gebiet, das von den Mapuche in Chile und Argentinien bewohnt wird). Das Innenministerium berichtet, dass im ersten Quartal die Zahl der Landbesetzungen – die es als »widerrechtliche Übernahmen« bezeichnet – um 688 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist. In den ersten drei Monaten des Jahres wurden 134 Besetzungen von Ländereien verzeichnet, im Vergleich zu 17 im Vorjahresquartal.

Mein Eindruck ist, dass die Revolte an den Rändern beginnt und sich allmählich ihren Weg in die großen Städte bahnt. Das ist in Kolumbien geschehen. Im Oktober 2020 wurde in der Provinz Cauca eine beeindruckende indigene, Schwarze und subalterne Minga – ein Protestzug oft indigener oder auch kleinbäuerlicher sozialer Bewegungen (2) – ins Leben gerufen, die mehr als 500 Kilometer quer durchs Land zog bis in die Hauptstadt Bogota.

Die Revolte beginnt an den Rändern und bahnt sich allmählich ihren Weg in die großen Städte.

Dem kolumbianischen Aufstand gingen 2017 Proteste in mittelgroßen Städten am Pazifik voraus, die den aktuellen Aufstand prägten: »Sie organisierten sich in Komitees zur medizinischen Versorgung, Lebensmittelkomitees, sie lernten, wie sie den Staat unter Druck setzen können, aber sie lernten auch zu verhandeln. Sie gründeten lokale alternative Medien und brachten die Verantwortlichen dazu, zu ihnen zu kommen, um zu verhandeln. Sie blieben in ihren Städten und Gemeinden und folgten so dem Vorgehen der indigenen Bevölkerung des Cauca«, resümiert Alfonso Insausty, Forscher aus Medellín.

Der bereits einen Monat andauernde Streik ist ein Wendepunkt in einem Land, in dem sich der Protest in den letzten 70 Jahren auf die ländlichen Gebiete konzentriert hat und sich aus den Städten – den von großen Unternehmen und der Polizei dominierten Räume – fernhielt. Doch seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens mit den FARC im Jahr 2016 sind die Großstädte zum neuen Epizentrum einer Mobilisierung geworden, die von jungen Menschen angeführt wird, die in der neoliberalen Wirtschaft keine Zukunft haben und die zum ersten Mal die schlimmsten Seiten des Systems kennenlernen.

Radikalisierte Rechte

In der ganzen Region haben sich die Rechten in ihren Positionen verschanzt. Immer unnachgiebiger gegenüber der Bevölkerung, zeigen sie ihr genozidales Gesicht. Diese autoritäre Zuspitzung hat verschiedene Facetten: vom rein Repressiven wie in Kolumbien und Chile bis zur Militarisierung der Gesellschaft, der staatlichen Institutionen, sogar des Bildungs- und Gesundheitssystems.

Was wir verstehen müssen, und der Fall der Mapuche zeugt davon, ist, dass wir es mit einer defensiven Reaktion auf die Aktionen der Bevölkerung zu tun haben. Wenn in Chile die konservative Regierung unter Sebastián Piñera beschließt, Wall Mapu zu militarisieren, dann deshalb, weil sie keinen anderen Weg findet, die Landbesetzungen zu stoppen. Sie schickt nicht nur das Militär, um die Gemeinden zu kontrollieren, sondern ermutigt Zivilist*innen, sich gegen die Besetzungen zu bewaffnen.

Am 1. August 2020 geschah etwas, das als Wendepunkt in der chilenischen Region Araucanía beschrieben werden kann. »Hunderte Zivilist*innen, bewaffnet mit Steinen, Knüppeln und anderen Schlagwerkzeugen, sogar mit Schusswaffen, drangen in die Rathäuser in Curacautín und Victoria ein, um Angehörige der Mapuche zu vertreiben, die die Amtsgebäude besetzt hatten, um den Hungerstreik einiger Dutzend Community-Mitglieder, darunter der Machi Celestino Córdova (ein geistiges Oberhaupt der Mapuche), zu unterstützen«, fasste es der chilenische Dichter Pablo Jofré vor einem Jahr zusammen.

Ähnlich ist die Situation in Cali, wo die Eliten der Stadt mit Gewalt gegen die Guardia Indígena (»indigene Garde«, eine indigene Selbstschutzorganisation; Anm. d. Übers.) und gegen Schwarze und arme Jugendliche vorgingen. Ein Bericht der Comisión Intereclesial de Justicia y Paz (Interkirchliche Kommission für Frieden und Gerechtigkeit) sprach von Massengräbern und »Folterhäusern« in den Außenbezirken von Cali, in denen Menschen zerstückelt werden, um sie verschwinden zu lassen.

Es ist ein neues Szenario, das sich stark von dem unterscheidet, was die Diktaturen der 1970er Jahre kennzeichnete. Heute hat der Staat weder die Fähigkeit noch den Willen, die Gesellschaften zu kontrollieren; er hat das Gewaltmonopol abgetreten, so dass andere Akteure – Drogenhandel, Paramilitärs, manchmal auch bewaffnete Einzelpersonen – ihre Waffen unter Duldung der staatlichen Repressionsapparate einsetzen können.

In Brasilien gibt es 6.157 aktive Militärs oder Reservist*innen, die zivile Positionen in Bolsonaros Regierung bekleiden, 108 Prozent mehr als 2016, dem Jahr, in dem Präsidentin Dilma Rousseff abgesetzt wurde. Die Militarisierung des Staates erreicht ungeahnte Ausmaße. Militärs besetzen die wichtigsten Posten des Gesundheitssystems und sind im Bildungswesen auf dem Vormarsch mit der Einrichtung von »zivil-militärischen Schulen«. Auch in den Universitäten mischen sie sich ein, zum Beispiel bei der Wahl der Rektor*innen.

Jenseits von Chaos und Repression

Es ist möglich, dass die Pandemie einen Wendepunkt in den lateinamerikanischen Gesellschaften darstellt. Unterdrückung und Korruption kamen ans Licht, während sich die Lebensqualität und die soziale Infrastruktur unübersehbar verschlechtern. Trotz der außergewöhnlichen Maßnahmen und der schwerwiegenden Einschränkungen von Mobilität und Versammlungen sind die Bewegungen nicht nur nicht schwächer geworden, sondern stellen sich Herausforderungen, die vor Jahren noch unüberwindbar schienen.

Die repressive Lösung liegt auf dem Tisch, mit einer Gewalt, die uns in die 1960er Jahre zurückversetzt, mit Todesschwadronen und geheimen Gräbern. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit neuer progressiver Regierungen, von Gustavo Petro in Kolumbien oder Pedro Castillo in Peru. Aber sie hätten nicht die geringste Chance, die herrschenden Klassen zu besänftigen, noch könnten sie darauf hoffen, die Bevölkerung zu demobilisieren. Ähnliches gilt auch in den übrigen Ländern. Wer auch immer regiert, der Spielraum nach oben wie nach unten ist begrenzt, so dass Veränderungen zumindest kurzfristig minimal sein werden.

Das ist eine Chance für die Bevölkerung. Autonomieprojekte sind eine reale Möglichkeit. Dass die städtische Jugend von Cali die Indigene Garde zu ihrer Verteidigung gerufen hat und dass die Mapuche-Flagge die am meisten geschwungene Fahne in der chilenischen Revolte ist, zeigt, dass autonome Territorien im Widerstand zu einer realen und konkreten Alternative für breite Sektoren der Gesellschaft geworden sind.

Raúl Zibechi

ist Autor zahlreicher Bücher über die neuen sozialen Bewegungen in Lateinamerika und schreibt regelmäßig für lateinamerikanische und europäische Medien.

Die spanische Originalfassung des Artikels erschien am 27. Mai bei El Salto. Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Jana Flörchinger und Jan Ole Arps.

Anmerkungen:

1) Extraktivismus bezeichnet ein Wirtschaftsmodell, dass auf der Ausbeutung natürlicher Rohstoffe beruht: Bergbau, Fracking, Staudammprojekte oder Monokulturen aus Sojabohnen oder Ölpalmen.

2) Das Wort stammt aus der indigenen Quechua-Sprache und bezeichnet eine kollektive Arbeit für das Gemeinwohl.