analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 711 | International

Vom Alltagskampf zum Antikapitalismus

Von der argentinischen Front der kämpfenden Organisationen können auch linke Bewegungen in Deutschland lernen

Von Keno Feldhaus

Aktivist*innen der Front der kämpfenden Organisationen (FOL) demonstrieren in Buenos Aires gegen Milei.
Die sozialen Organisationen in Argentinien stehen an vorderster Front im Kampf gegen Mileis Kürzungspolitik. Foto: Keno Feldhaus

Die sozialen Organisationen Argentiniens organisierten in den Jahren vor Mileis Übernahme der Präsidentschaft Hunderttausende Mitglieder. Mit Ausrichtungen von sozial-progressiv bis revolutionär-sozialistisch sind sie ein wichtiger Akteur im Widerstand gegen Mileis sozialen Kahlschlag. Mit dem Ziel, von ihren Erfahrungen und Kämpfen der letzten 30 Jahre zu lernen, fand im November 2024 ein politischer Austausch zwischen dem Bloque Latinoamericano Berlin und der Frente de Organizaciones en Lucha (Front der kämpfenden Organisationen), kurz FOL, statt, für den eine neunköpfige Delegation aus Deutschland nach Argentinien reiste. Die Reflexionen und Lehren dieses Austauschs könnten auch für linke Praxis in Deutschland interessant sein.

Die FOL ist mit wenigen tausend Mitgliedern eine der kleineren sozialen Organisationen Argentiniens. Sie definiert sich als anti-kapitalistisch, anti-patriarchal, anti-imperialistisch, anti-bürokratisch sowie als für den Ökosozialismus, Feminismus und eine Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung kämpfend. Ein Großteil ihrer Arbeit dreht sich jedoch darum, die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen, besonders ihrer Mitglieder zu erfüllen, und die meisten Mitglieder der FOL schließen sich ihr aus diesem Grund an. Die Mitglieder der FOL – über 90 Prozent Frauen, viele von ihnen Migrantinnen aus Paraguay, Bolivien und Peru – organisieren sich in Versammlungen, in denen sie alle Fragen des Alltags diskutieren und ihre Arbeit und politischen Kämpfe koordinieren.

Heutzutage organisiert die FOL im ganzen Land Volksküchen, Kindergärten, Erwachsenenschulen, Gesundheitszentren, Müllabfuhren und Recycling, begleitet Frauen und Queers bei Gewalterfahrungen, unterstützt bei Trennungen, klärt sie über ihre Rechte, über Verhütung und Abtreibungen auf, besetzt Land und fordert dessen Legalisierung ein, baut ganze Viertel mit Sozialwohnungen neu und die gedrängt-chaotischen Armenviertel so um, dass sie lebenswerter werden. Sie betreibt Sportvereine und macht Jugendarbeit, produziert Gemüse und stellt Biotope wieder her, und sie schafft über diese Projekte entlohnte Arbeit, indem sie deren Anerkennung und Entlohnung vom Staat einfordert und erkämpft. Die FOL nennt das komplexe territoriale Arbeit; alle Aspekte des Lebens der Bewohner*innen eines Territoriums werden anerkannt und nach Möglichkeit in die Arbeit miteinbezogen.

Die Entstehung der FOL

Die FOL hat ihre Wurzeln in der Arbeitslosenbewegung, die in den 1990ern im Kontext des neoliberalen Umbaus des Staates entstand. Verschiedene Linke mit organisatorischer Erfahrung erkannten damals, dass mit der Arbeitslosenbewegung, die aus den veränderten materiellen Verhältnissen hervorging, ein neues politisches Subjekt und die Bedingungen für den Aufbau eigener Organisationen entstanden. Diese wurden von Anfang an besonders von Frauen getragen, welche Volksküchen, Flohmärkte, Kinderbetreuung und andere Aktivitäten organisierten, um ihre Familien über die Runden zu bringen. Zugleich reagierte der Staat, der es mit Repression allein nicht schaffte, die Arbeitslosenbewegung in den Griff zu bekommen, mit ersten Sozialprogrammen, die in der staatlichen Einrichtung und Vergabe prekär bezahlter Arbeitsstellen bestanden. Diese reichten jedoch bei weitem nicht aus, und einer der ersten Kämpfe, um welche die sozialen Organisationen aufgebaut wurden, forderte die unmittelbare Ausweitung der Programme und die mittelfristige Schaffung richtiger Arbeitsplätze. Zu einer Ausweitung der Sozialprogramme kam es jedoch erst 2002, nachdem die Aufstände im Dezember 2001 das Abdanken und die Flucht des damaligen Präsidenten erzwungen hatten, und wurde unter der Regierung Nestor Kirchners ab 2003 noch verstärkt und diversifiziert.

Je mehr Ressourcen die sozialen Organisationen erkämpfen und zur Verfügung stellen konnten, desto mehr wuchsen sie.

Die FOL und andere soziale Organisationen kämpfen mittels klassischer Eskalationsstufen, von der Petition über Demonstrationen bis hin zu Straßenblockaden und Besetzungen zuständiger Ministerien, für größere Kontingente der Programme, aber auch für die Anerkennung von Kooperativen und die Entlohnung der in ihnen geleisteten Arbeit durch den Staat sowie für die Anerkennung der Volksküchen, Kindergärten und Erwachsenenschulen und die damit einhergehende Bereitstellung von Ressourcen, wie Lebensmittel oder Gelder für Mietkosten. Je mehr Ressourcen die sozialen Organisationen erkämpfen und den Bedürftigen zur Verfügung stellen konnten, desto mehr wuchsen sie.

Dieses Wachstum nahm entsprechend rasant zu als 2015 Mauricio Macri zum Präsidenten Argentiniens gewählt wurde und die Sozialprogramme drastisch ausweitete, um den gleichzeitigen erneuten neoliberalen Kahlschlag sozial abzufedern. Zusätzlich erhielten die sozialen Organisationen nun die direkte Verwaltungsmacht über die Programme, da Macri mit der Macht der staatlichen Funktionär*innen brechen wollte, die die Programme zuvor verwalteten und zum Großteil seiner politischen Opposition angehörten. Das machte die sozialen Organisationen zu Anlaufstellen für all jene, die Zugang zu diesen Mitteln haben wollten. Innerhalb der FOL löste das eine Diskussion über die Balance zwischen quantitativem und qualitativem Wachstum aus. Im Gegensatz zu einigen anderen Organisationen, die darauf setzten, mit den nun verfügbaren Mitteln ein maximales Wachstum zu erzielen, sollten sich all jene, die sich der FOL annäherten, tatsächlich am Aufbau dieser beteiligen und die Anforderungen der Mitgliedschaft – Teilnahme an den Versammlungen und politischen Aktionen, Zahlen des Mitgliedsbeitrags und Leisten von Freiwilligenarbeit – erfüllen. Nur Lokalgruppen, die bestimmte politische Strukturen, z.B. Geschlechter-Kommissionen oder Öffentlichkeitsarbeit aufbauten, erhielten die Mittel, um die Mitgliederzahl zu steigern.

Vom Bedürfnis zur Überzeugung

Aktuell, unter der Präsidentschaft Mileis seit Dezember 2023, kommt es zum gezielten Angriff auf die materiellen Grundlagen der sozialen Organisationen. So wurden unter anderem Lebensmittellieferungen an die Volksküchen eingestellt, die Zahl der Sozialprogramme drastisch verkleinert und die Höhe der verbleibenden Leistungen stark gekürzt. Die Folge ist ein dramatischer Mitgliederverlust der sozialen Organisationen, die teilweise weit über die Hälfte ihrer Mitglieder verloren haben, da diese ihren Lebensunterhalt nun nicht mehr mittels der sozialen Organisationen bestreiten können und gezwungen sind, dies andernorts zu tun – z.B. bei der organisierten Kriminalität. Im Vergleich zu anderen sozialen Organisationen hat die FOL zwar einen größeren Anteil ihrer Mitglieder halten können, aber auch sie ist schwer getroffen und muss sich neu orientieren.

Auch wenn die Bedingungen in Argentinien sich stark von denen in Deutschland unterscheiden, lassen sich doch einige Lehren aus der historischen Erfahrung der FOL und allgemeiner der sozialen Organisationen ziehen, die auch für linke Organisierung in Deutschland nützlich sind. Zunächst sehen wir, z.B. in der Entstehung der sozialen Organisationen, dass es zwei Gründe gibt, sich Organisationen anzunähern; aufgrund von Überzeugungen und aufgrund von Bedürfnissen. Da im Kapitalismus nur wenige Menschen von sich aus die Überzeugung entwickeln, sich gegen diesen zu organisieren, haben Organisationen, denen sich Menschen aus Bedürfnissen annähern, wie es die sozialen Organisationen in Argentinien sind oder in Deutschland z.B. Gewerkschaften, Mietervereine oder auch die Tafel, weit mehr Potenzial zur Massenorganisation. Zudem bilden sie einen Rahmen, in dem Menschen den Wunsch und die Überzeugung von der Notwendigkeit entwickeln können, sich gegen den Kapitalismus zu organisieren.

Am Mitgliederverlust der sozialen Organisationen seit Kürzung der Mittel unter Milei sehen wir jedoch, dass Menschen sich Organisationen nicht einfach anschließen, weil sie Bedürfnisse haben, sondern weil die Organisationen ihnen ermöglichen, diese zu befriedigen. Gleichzeitig sind nicht alle sozialen Organisationen anteilig gleich stark geschrumpft. Weshalb also bleiben manche Menschen, die sich Organisationen aufgrund von Bedürfnissen annähern, auch dann Teil von ihnen, wenn ihre Bedürfnisbefriedigung nicht mehr durch diese gesichert wird? Die Antwort ist Überzeugung. Es kann immer sein, dass Personen aus der Not heraus wieder aus den Organisationen fortgetrieben werden, z.B. weil sie schlicht all ihre Zeit darauf verwenden müssen, über die Runden zu kommen. Aber dennoch lässt sich beobachten, dass jene sozialen Organisationen, die wie die FOL mehr Wert auf qualitatives Wachstum, das heißt, Bildungs- und Politisierungsprozesse gelegt haben, beim Wegbruch der Mittel anteilig weniger stark schrumpften als andere. Es sind also diese Politisierungsprozesse, die einerseits zur Widerstandsfähigkeit der Organisationen beitragen und sie andererseits zu einem Rahmen machen, innerhalb dessen Menschen den Wunsch und die Überzeugung von der Notwendigkeit entwickeln können, die es braucht, um das System in Frage zu stellen; sich nicht nur um ihre unmittelbaren Bedürfnisse, sondern gegen den Kapitalismus als Ganzes zu organisieren.

Wie also Menschen, die sich aus Bedürfnissen annähern, politisieren? Klassische Mittel hierfür sind Bildungen oder allgemeiner, das Bereitstellen von Informationen. Beides sind Methoden, die die FOL anwendet. Wichtiger und tiefgreifender ist für die Politisierung jedoch die praktische Erfahrung, die die Mitglieder der FOL machen; durch kollektives Handeln die eigenen Lebensumstände zu verbessern. Diese Erfahrung erlaubt zu verstehen, dass die Lösung der eigenen Probleme nur kollektiv gelingen kann und zwingend die Lösung der Probleme anderer mit einschließt. Deshalb sind Siege, auch kleine, wichtig für die Politisierung. Ohne sie wird die Überzeugung, dass der kollektive Kampf lohnt, kaum entstehen.

Die FOL organisiert den Konflikt mit den bestehenden Verhältnissen und politisiert und befähigt ihre Mitglieder im Rahmen dieses Konflikts, während sie gleichzeitig deren Lebensbedingungen verbessert.

Die überwältigende Mehrheit an Frauen in der FOL, und allgemeiner in den sozialen Organisationen Argentiniens, ist nicht zuletzt dadurch zu erklären, dass diese die Wirkung ihres kollektiven Kampfes noch stärker in ihrem Leben spüren, als die Männer, da sie aus einer stärker unterdrückten Position kommen und dank der FOL auch in Beziehung zu ihrer Position als Frauen befreiende Erfahrungen machen. Die neu erfahrene Selbstwirksamkeit und das daraus entstehende Selbstbewusstsein spielen eine wichtige Rolle für ihre Politisierung und stehen in einem starken Kontrast zu ihrem bisherigen Leben.

Politisierende Erfahrungen finden jedoch nicht von alleine statt, sondern müssen organisiert werden. Sowohl in der Entstehung der sozialen Organisationen als auch in ihren Kämpfen und dem Bereitstellen von Werkzeugen, um die gemachten Erfahrungen zu interpretieren, haben Aktive, die neben der FOL in politischen Organisationen organisiert sind, eine wichtige Rolle gespielt. Die FOL versteht sich als soziale Organisation mit politischen Definitionen. Das heißt, sie legt sich nicht auf einen engen politisch-ideologischen Rahmen fest, lässt diesen aber auch nicht völlig offen. So ist in ihr Platz für die Beteiligung von Aktiven verschiedener politischer Organisationen und Strömungen, die mit den allgemeinen politischen Definitionen übereinstimmen. Die Anwesenheit dieser Aktiven ermöglicht, dass jene, die sich aufgrund von Bedürfnissen annähern, in den Versammlungen kontroversen politische Diskussionen ausgesetzt sind, oft ohne eindeutigen Ausgang, so dass in Mehrheitsentscheiden abgestimmt werden muss, was zu tun ist. Das schafft die Möglichkeit und Notwendigkeit, eigene Urteile zu fällen und spornt an, für diese argumentieren zu lernen. Zusammen mit den aktiven Bemühungen der FOL, ihre Mitglieder hierzu zu befähigen und Verantwortung in den Versammlungen zu übernehmen, wird so eine Abhängigkeit der Strukturen von jenen Mitgliedern, die bereits über Organisationserfahrung verfügen und häufig zusätzlich Mitglied einer politischen Organisation sind, verringert und ihre Stabilität und Selbstständigkeit vergrößert. Diese gleichzeitige Politisierung und Befähigung zur Selbstständigkeit immer größerer Teile der Unterdrückten und Ausgebeuteten sind der Kern wahrer Gegenmacht von unten, die auf der Selbsttätigkeit dieser Unterdrückten und Ausgebeuteten beruht und von diesen ausgeübt wird; einer Macht, die notwendig ist, um die des Staates und der Kapitalinteressen zu brechen und eine neue Welt zu schaffen.

Die FOL organisiert den Konflikt mit den bestehenden Verhältnissen und politisiert und befähigt ihre Mitglieder im Rahmen dieses Konflikts, während sie gleichzeitig deren Lebensbedingungen verbessert. Die Alltagskämpfe stehen so nicht im Widerspruch zum Aufbau von Gegenmacht von unten, im Gegenteil bedingen sich beide gegenseitig, solange die politische Vision im tagespolitischen Kampf nicht aus den Augen verloren wird.

Auch in Deutschland geraten soziale Träger und politische Organisationen durch Repression und die Kürzung von Mitteln zunehmend unter Druck und es ist zu erwarten, dass diese Angriffe nach den Wahlen im Februar diesen Jahres noch zunehmen werden. In diesem Szenario sollte die Linke hierzulande von den Erfahrungen von sozialen Organisationen wie der FOL lernen und sich anhand geteilter politischer Definitionen zusammentun, um gemeinsam in der sich zuspitzenden sozialen Notlage an der Seite von Bedürftigen um die Erfüllung ihrer unmittelbaren Bedürfnisse zu kämpfen und ausgehend von diesen Erfahrungen des kollektiven Kampfes Politisierungsprozesse zu organisieren, die sich an den der gemeinsamen politischen Definitionen orientieren. Das wäre eine Strategie zum Aufbau einer Front gegen den Vormarsch der Rechten, die dieser eine eigene greifbare politische Vision entgegenstellt.

Keno Feldhaus

wurde in der Klimabewegung politisiert. Er ist Teil des Bloque Latinoamericano Berlin und gibt politischen Deutschunterricht für Nichtmuttersprachler*innen am Bildungszentrum Lohana Berkins.

Unterstütz unsere Arbeit mit einem Abo

Yes, du hast bis zum Ende gelesen! Wenn dir das öfter passiert, dann ist vielleicht ein Abo was für dich? Wir finanzieren unsere Arbeit nahezu komplett durch Abos – so stellen wir sicher, dass wir unabhängig bleiben. Mit einem ak-Jahresabo (ab 58 Euro, Sozialpreis 38 Euro) liest du jeden Monat auf 32 Seiten das wichtigste aus linker Debatte und Praxis weltweit. Du kannst ak mit einem Förderabo untersützen. Probeabo gibt es natürlich auch.