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Mileis neoliberales Lalaland

Im Konflikt mit den sozialen Organisationen setzt die argentinische Regierung auf den Entzug des Lebensnotwendigsten

Von Malte Seiwerth

Die Aktivistin Mónica Troncoso steht hinter dem Tresen einer genossenschaftlichen Pizzeria in Buenos Aires. Sie trägt ein rotes T-Shirt mit Aufrduck und Zopf und guckt in die Kamera. Hinter ihr sind Regale zu sehen, mit Töpfen und Pfannen
Die Aktivistin Mónica Troncoso, hier in einer genossenschaftlichen Pizzeria, versucht für die Menschen in ihrem Viertel eine Grundversorgung sicherzustellen. Seit dem Regierungsantritt Mileis wird das immer schwieriger. Foto: Malte Seiwerth

Es sollen 6.000 Tonnen Lebensmittel sein, die das argentinische Ministerium für Humankapital, ein Zusammenschluss aus den Ministerien für Kultur, Bildung und Arbeit, eingelagert hat. Seit Monaten verweigert die Ministerin Sandra Pettovello deren Ausgabe an Suppenküchen, die in Argentinien die Grundversorgung für einen Teil der Bevölkerung decken und angesichts der aktuellen Armutszahlen wichtiger denn je sind.

Für Pettovello geht es laut eigener Aussage darum, angeblicher Verschwendung öffentlicher Gelder entgegenzuwirken. Soziale Organisationen, die teilweise vor Gericht eine Ausgabe der Lebensmittel fordern, deuten das Verhalten der Ministerin als Kampfansage gegen arme Menschen.

In Argentinien herrscht Hunger, das zeigen Zahlen der privaten Katholischen Universität Argentiniens (UCA). Rund zehn Prozent der Bevölkerung lebten über die letzten zwei Jahrzehnte in extremer Armut. Sie hatten also nicht genügend Geld für die Lebensvermittelversorgung. Mit Beginn der aktuellen Regierung unter Javier Milei im Dezember 2023 stieg die Zahl im ersten Halbjahr 2024 dann sprunghaft auf das Doppelte. Der Hintergrund dessen waren monatliche Inflationsraten von knapp 20 Prozent bei zugleich eingefrorenen Löhnen. Weitere 55 Prozent der Bevölkerung leben derzeit zwar nicht in extremer Armut, aber dennoch unterhalb der Armutsgrenze.

Die Sozialwissenschaftlerin, die diese Zahlen an der UCA erhoben hat, Ianina Tuñón, sieht die Verantwortung klar bei der Politik: »Das Problem der Armut wurde über Jahrzehnte nicht strukturell angegangen. Anstatt wirkliche Programme zur Begleitung der Armen zu schaffen, haben die Regierungen auf Transferleistungen gesetzt.«

44.000 Suppenküchen

Transferleistungen, das waren in der Vergangenheit Zahlungen, die direkt oder indirekt über soziale Organisationen an Armutsbetroffene ausgezahlt wurden. Im Zuge dieser Zahlungen förderten die Regierungen die Entstehung starker sozialer Organisationen, die, zum Teil mit Hilfe der Transferleistungen, Suppenküchen, genossenschaftliche Betriebe und politische Aktivitäten finanzierten. Schätzungen gehen allein von über 44.000 selbstorganisierten Suppenküchen im ganzen Land aus. Einige verfolgen auch eine politische Agenda und setzen dabei auf Gefolgschaft ihrer Kund*innen. So gibt es Berichte, nach denen einzelne Organisationen die Auszahlung der Transferleistungen an Betroffene an die Teilnahme an Demonstrationen knüpften.

Vor allem Letzteres wurde von der Regierung Milei ausgeschlachtet. Sie strebte erfolgreich ein juristisches Verfahren gegen eine Basisorganisation an und übertrug die Vorwürfe später verallgemeinernd auf alle linken Organisationen. Bei größeren Mobilisierungen ruft die Regierung mittlerweile über alle ihr zur Verfügung stehenden Kanäle die Menschen dazu auf, die »Nötigung« zur Teilnahme an Demonstrationen an eine eigens dafür eingerichtete Nummer zu melden.

Aus Sicht der Sozialwissenschaftlerin Tuñón ist es eine positive Entwicklung, dass die Regierung Milei die sozialen Organisationen aus der Vermittlerrolle gedrängt hat. »Damit endet eine Art der Unterdrückung von Armen durch Arme«, meint Tuñón und verdeutlicht damit auch ihren politischen Standpunkt. Aus den aktuellen Zahlen ließe sich ablesen, sagt Tuñón, dass es mit der argentinischen Wirtschaft wieder aufwärts und die Armut nach ihrem sprunghaften Anstieg im ersten Halbjahr nun wieder langsam zurück ginge. Eine Deutung, die Tuñón mit dem regierenden neoliberalen Javier Milei teilt. Bei einer Rede vor der Handelskammer in Buenos Aires sagte Milei Anfang November: »Die Rezession ist vorbei. Wir verlassen die Wüste.«

Ein Rückgang der Armut? Soziale Organisationen als Unterdrücker der Armen? In der Villa Soldati, einem Arbeiter*innenviertel der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, widerspricht Mónica Troncoso diesen beiden Aussagen. Troncoso leitet die Zweigstelle der Basisorganisation La Garganta Poderosa. Die Poderosa vergibt allein hier jeden Tag über 350 Mahlzeiten, erklärt Mónica Troncoso. Deutlich mehr als früher und dennoch zu wenig, um den Bedarf der Menschen im Viertel zu decken. »Wir haben eine Warteliste von etwa 150 Personen, denen wir Bescheid geben, falls Essen übrig bleibt.«

Das derzeitige Ausmaß an Armutsbetroffenheit erinnert an die Krise von 2001, nach dem Kollaps der Wirtschaft.

Gerade gegen Ende des Monats würden sie spüren, dass schlichtweg kein Geld mehr da ist. Laut Umfragen der Poderosa verdienen die meisten Bewohner*innen der Villa Soldati umgerechnet unter 200 Euro im Monat. Die Situation habe sich seit Regierungsantritt von Milei deutlich verschärft. Zwar habe es schon immer Armut gegeben, und Suppenküchen seien schon seit der Corona-Pandemie zu einer notwendigen Versorgungsstruktur geworden, doch das derzeitige Ausmaß an Armutsbetroffenheit erinnere an die Krise von 2001, meint Troncoso. Der Kollaps der Wirtschaft führte damals dazu, dass etliche Menschen am Rande des Existenzminimums lebten, und schlussendlich auch zu Protesten, die die Regierung von Fernando de la Rua aus dem Amt trieben.

Eine staatliche Aufgabe

Doch der Poderosa geht das Geld aus, denn auch sie haben früher Zahlungen vom Staat erhalten. Ein Zentrum, wo vor allem Abendbrot verteilt wurde, musste bereits geschlossen werden. Mit Spendenkampagnen und durch Hilfeleistungen von Nichtregierungsorganisationen hält sich die Poderosa am Leben. Wie lange das gutgehen wird? »Keine Ahnung«, antwortet Troncoso mit erschöpftem Blick.

Argentinien rühmte sich über Jahrzehnte mit seinem im lateinamerikanischen Vergleich relativ gut ausgebauten Sozialsystem. Doch Universitäten, öffentliche Krankenhäuser und Schulen waren schon seit Jahren unterfinanziert. Häufig trug auch Korruption zu einer Verschlechterung des öffentlichen Angebots bei. Selbst in der Villa Soldati, erzählt Troncoso, versuchen die Familien, ihre Kinder auf private Schulen zu schicken.

Angesichts des gescheiterten Sozialstaatsmodells proklamiert Milei offen den individuellen Aufstieg als Lösungsansatz zur Bekämpfung der Armut. Soziale Organisationen werden von ihm als »Armutsverwalter« bezeichnet. Aktivistin Troncoso meint: »Sie wollen uns nicht in den Armenvierteln haben, aber selber gehen sie dort auch nicht rein. Dabei ist es eine staatliche Aufgabe, für die Grundversorgung der Menschen zu sorgen.« Einzig und allein die Polizei macht regelmäßig Patrouillen, mit dem Sturmgewehr in der Hand. Auch während des Interviews steht eine Gruppe militarisierter Polizist*innen vor der genossenschaftlichen Pizzeria – angeblich zur Sicherheit. Für die Menschen im Viertel eine extreme Einschüchterung.

Verstoß gegen Menschenrechtsstandards

Erst im Juni warnte die Unicef in einer Studie vor der zunehmenden Kinderarmut in Argentinien. Jedes fünfte Kind erhalte nur zwei Mahlzeiten am Tag, so die Studie. Unicef forderte eine Aufstockung von staatlichen Zahlungen an die Familien, um die Grundversorgung der Kinder sicherzustellen. Eine Reaktion vonseiten der Regierung blieb aus – eine Anfrage von ak ließ der Pressesprecher des Ministeriums für Humankapital, trotz vorheriger Zusage, letztlich unbeantwortet.

Einige soziale Organisationen, die sich in der Gewerkschaft Unión de Trabajadores de la Economía Popular (UTEP) vereinen, baten die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte, sich zu der Frage der Grundversorgung mit Lebensmitteln zu äußern. Für Mitte November kündigte diese eine Anhörung an. Die UTEP ist der Überzeugung, dass die Regierung Milei gegen internationale Menschenrechtsstandards verstößt. Ein Streitpunkt sind dabei auch die Lebensmittelrationen, die weiterhin in den Lagern des Ministeriums für Humankapital lagern. Nach Medieninformationen könnten einige bereits ihr Ablaufdatum überschritten haben – während gleichzeitig ein Teil der argentinischen Bevölkerung hungert.

Malte Seiwerth

ist Redaktionsmitglied des Schweizer Onlinemagazins Das Lamm. Er studierte Geschichte in Chile, lebt derzeit in Santiago und schreibt von dort für verschiedene deutschsprachige Medien.