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Die ganze Welt als Hinterhof

Der argentinische Klimaaktivist Esteban Servat über den Kampf gegen Fracking und strategische Probleme der Klimabewegung

Interview: Nico Graack

Der Interviewte bei einer Anti-LNG-Protestaktion vor der Niedersächsischen Staatskanzlei in Hannover im September 2020. Foto: privat

Esteban Servat ist ein Wissenschaftler und Klimaaktivist aus Argentinien. Mit seiner Klima-Whistleblower-Plattform EcoLeaks war er maßgeblich am Aufbau der Anti-Fracking-Bewegung in der argentinischen Provinz Mendoza beteiligt. Aufgrund von politischem Druck und Morddrohungen musste er ins Exil gehen. Derzeit lebt er in Deutschland und kämpft weiter gegen die Öl- und Gasindustrie mit internationalen Bündnissen wie »Shale Must Fall«, die sich auf den Kampf gegen Fracking-Schiefergas konzentrieren.

In einem Interview hast du kürzlich gesagt, dass wir Fracking noch in diesem Jahr stoppen müssen, wenn wir eine Chance haben wollen, die Klimakatastrophe zu überleben. Warum hältst du Fracking für so wichtig?

Esteban Servat: Fracking ist das Schlimmste an der fossilen Brennstoffindustrie. Wissenschaftlich erwiesen ist, dass es für mehr als 50 Prozent aller gestiegenen Methanemissionen in den letzten zehn Jahren verantwortlich ist, wenn man fossile Brennstoffe betrachtet. Und dabei wurde nur das Fracking in den USA und Kanada berücksichtigt. Dazu muss man wissen, dass Methan noch weitaus klimaschädlicher als CO2 ist. Ölschiefer-Lagerstätten sind also riesige Methanbomben. Allein Vaca Muerta, die Lagerstätte von Schiefergas in meiner Heimat und eine der größten weltweit, wird, wenn sie vollständig ausgebeutet ist, 15 Prozent des gesamten globalen Kohlenstoffbudgets verbrauchen, das uns bleibt, um das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens einzuhalten. Erreichen wir das Pariser Klimaziel nicht, dann ist ein Hauptgrund dafür, dass die Unternehmen und Regierungen des Globalen Nordens ihre eigenen Verpflichtungen und Zusagen untergraben. Es sind genau die Länder, deren multinationale Unternehmen die Fracking-Operationen auf der ganzen Welt anführen, besonders im Globalen Süden. Im Vaca Muerta frackt zum Beispiel unter anderen das deutsche Unternehmen Wintershall DEA, deren Hauptanteilseigner BASF ist.

Du betonst immer wieder die Verbindung zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden. Aber wie kann man den Bürgern zum Beispiel in Brunsbüttel, wo ein Flüssiggasterminal gebaut werden soll, klarmachen, wie ihr Gasverbrauch mit der Zerstörung im Globalen Süden zusammenhängt?

Einerseits, indem man an ihre Solidarität appelliert. Aber noch wichtiger ist es, den Menschen zu zeigen, wie der Gasverbrauch mit ihrem eigenen Überleben zusammenhängt. Denn das Gas, das ihnen als sauber verkauft wird, ist in Wirklichkeit mit Blut befleckt und einer der schlimmsten fossilen Energieträger, der enorme Auswirkungen auf das Klima hat. Mit ihrem Konsum machen sie sich nicht nur an der kolonialen Ausbeutung des Globalen Südens mitschuldig, sondern sie schaufeln in gewisser Weise auch ihr eigenes Grab und das für ihre Kinder und Enkelkinder.

In Deutschland gab es eine Anti-Fracking-Bewegung, als Unternehmen planten, das Fracking hierzulande auszuweiten. Spätestens mit dem Moratorium von 2016 erlahmte die Bewegung. Viele Leute sagten: »Ok, jetzt ist es nicht mehr in meinem Hinterhof, es interessiert mich nicht mehr.« Was kann man gegen diese Haltung machen?

Solange es das Gefühl gibt, dass die Folgen des Frackings die Menschen nicht unmittelbar betreffen, wird sich niemand engagieren – es sei denn aus anderen Gründen wie progressivem Internationalismus und Solidarität. Tatsächlich schließen sich viele Menschen im Globalen Süden zusammen, um ihr Wasser, ihr Land, ihre Luft, ihr Leben zu retten. Das kann man durchaus eine »Not-In-My-Backyard«-Attitüde nennen. Es ist ein Kampf ums Überleben, der keineswegs außerhalb ihres Hinterhofes ausgetragen wird. Wir Umweltaktivisten können viel Kommunikation und Bewusstseinsbildung betreiben, aber man kann niemanden dazu zwingen, einen Kampf anzunehmen, den er nicht als seinen eigenen ansieht. Und deshalb wird die Herausforderung darin bestehen zu zeigen, dass es ihr eigener Kampf ist. Darüber hinaus müssen wir uns auf die Leute konzentrieren, die kämpfen wollen, wie Ende Gelände, Extinction Rebellion und andere. Leute, die internationale Solidarität bereits auf ihrer Agenda haben.

Fracking

Als »Fracking« wird eine Fördermethode von Erdöl und -gas bezeichnet. Dabei werden durch die Einleitung eines Chemikalienmixes unter hohem Druck Risse in Gesteinsschichten erzeugt, durch die das Öl oder Gas zur Bohrung hin entweichen kann. So ist es möglich, Öl und Gas auch aus sonst unzugänglichen Gesteinsschichten mit geringer Durchlässigkeit zu fördern. Zu diesen »unkonventionellen Lagerstätten« gehören unter anderem gashaltige Kohleflöze, Schiefer- bzw. Tongestein und Ölschiefer. Das aus letzteren geförderte Gas wird »Schiefergas« genannt (engl. shale gas). In konventionellen Lagerstätten wird die Methode genutzt, um länger fördern zu können. Insbesondere Schiefergas führte dank der neuen horizontalen Frackingbohrungen in den USA ca. ab 2008 zu rasant steigenden Erdgasfördermengen, sodass die USA als Vorreiterin beim Einsatz von Fracking gelten. Aber auch in fast allen anderen Ländern, in denen Öl und Gas gefördert werden, kommt die Technologie zum Einsatz, darunter Kanada, Algerien, Kolumbien, Argentinien und Russland. Studien aus den USA belegen eine hohe Belastung des Grundwassers durch die Technik. Außerdem werden die hohen Methanemissionen, der immene Wasserverbrauch und gesundheitliche Risiken wie höhere Blutkrebserkrankungsraten in Förderregionen kritisiert. In Deutschland sind kommerzielle unkonventionelle Fracking-Vorhaben seit einem Moratorium aus dem Jahr 2016 nicht zulässig. In diesem Jahr soll es eine Überprüfung des Moratoriums geben.

Es geht also darum, die ganze Welt zu einem Hinterhof zu machen?

Ja. Und dafür ist es wirklich gut zu wissen, wie man auf die Leute zugeht. Viele Einheimische haben nicht die gleiche Ideologie wie viele Leute im Klimakampf, die Begriffe wie »Systemwechsel« oder »Antikapitalismus« benutzen. Darauf reagieren die Einheimischen manchmal nicht gut. Oder umgekehrt: Die Klimabewegung reagiert nicht gut darauf, dass die Einheimischen konservativ und familienorientiert sind oder eine ländliche Mentalität haben. Aber der Klimakampf ist viel größer als unsere kleinen Ideologien.

Es gibt viel leeres Gerede und Greenwashing seitens der Konzerne.

Shale Must Fall nimmt bestimmte Unternehmen ins Visier. Fridays for Future hat das mit Siemens versucht, aber viele Stimmen in der Bewegung sehen die Kampagne als Niederlage. Also sind sie jetzt wieder bei den abstrakten »1,5 Grad«. Warum glaubst du, dass der Fokus auf Konzerne richtig ist?

Das liegt daran, dass es so viel leeres Gerede und Greenwashing seitens der Konzerne gibt. Und es ist eine grundlegende Lektion der Strategie: Man sucht sich die Schlimmsten aus, die kommunikativ am schwächsten sind und auf die viele unserer Argumente zutreffen. Zum Beispiel Total oder Shell, die zu den größten Umweltverschmutzern der Welt gehören. Sie müssen wir bloßstellen, indem wir zeigen, wie die katastrophalen Verhältnisse an den Abbaustätten im Globalen Süden mit den Verbrauchern in Europa zusammenhängen.

Wie kann man mit Leuten umgehen, die für meinetwegen BASF arbeiten? Ihnen mag das Klima nicht egal sein, sie sind aber auf ihren Arbeitsplatz angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wie kann man mit dem Widerspruch zwischen wirtschaftlichen Interessen und Klimainteressen umgehen?

Das ist eine Frage der kritischen Masse. Wenn du 80 Prozent der Bevölkerung Europas auf dem Standpunkt hättest, dass fossile Brennstoffe schlecht sind und dass die fossilen Unternehmen wegmüssen, wäre das eine ganz andere Diskussion.

Du machst es also zu einem Problem des Wissens und des Bewusstseins? Aber zumindest in Deutschland wissen die Kollegen von BASF gut, was mit dem Klima los ist. Aber trotzdem befinden sie sich in einer Situation, in der sie für ein Unternehmen arbeiten müssen, das das Klima auf der ganzen Welt zerstört. Aber was können sie dagegen tun, wenn ihre soziale Existenz von einem Job in dieser Industrie abhängt?

Da muss der Staat ins Spiel kommen. Er muss den Leuten, die bei Wintershall DEA, BASF oder Total beschäftigt sind, ein Angebot machen. Übrigens neigen überall auf der Welt Gewerkschaften dazu, in dieser Frage konservativ zu sein. Aber sie sind der Schlüsselakteur. Wenn wir sie für uns gewinnen können, ist das der Anfang vom Ende für diese Unternehmen.

Aber die zerstörerischen Industrien sind wahrscheinlich der größte Teil der Wirtschaft. Ein Ausstieg aus diesen ist eine riesige Aufgabe. Finanziell, wirtschaftlich, gesellschaftlich.

Nun, durch die Umstellung auf erneuerbare Energien werden Jobs verloren gehen, aber auch viele neue entstehen. Die Regierung könnte daher Trainingsprogramme für Mitarbeitende aus der fossilen Industrie anbieten, sodass sie in anderen Sektoren weiterarbeiten können. Aber es müsste auch ein Verbot von Gasimporten erlassen werden, wie das beispielsweise in Irland zumindest für Frackinggas geschehen ist. Des Weiteren: Ein großes Thema, über das die Leute reden, ist Degrowth. Wir müssen diesen irrsinnigen Kreislauf des Konsums stoppen und vor allem den Konsum von Produkten, die von Klima tötenden Industrien hergestellt werden.

Wo siehst du Potenzial, die Klimabewegung mit sozialen Bewegungen zu verbinden, die zum Beispiel für ein Lieferkettengesetz kämpfen?

Das ist entscheidend. Sie sind natürliche Verbündete. Und so etwas wie dieses Lieferkettengesetz oder die Initiativen zur Überwachung von Unternehmen – dafür muss sich die Klimabewegung auch mit aller Energie einsetzen. In Argentinien zumindest kämpft die Klimabewegung an der Seite vieler sozialer Bewegungen. Die Klimabewegung ist eine soziale Bewegung. Also gibt es in vielen Fällen nicht wirklich eine Trennung.

In Deutschland ist das anders. Die meisten Klimaaktivisten sind junge, gutbürgerliche Akademiker …

… und weiß …

Ja, auch weiß.

Ich höre immer wieder von Diskussionen, in denen sich Aktivisten der Klimabewegung die Schuld geben, zu weiß zu sein. Es scheint, dass sie manchmal versuchen, weniger weiß zu werden. Aber so funktioniert das nicht. Man kann nicht einfach Menschen dunklerer Hautfarbe finden und sie bitten, sich der Bewegung anzuschließen, um weniger weiß zu sein (lacht). Eigentlich wäre man sofort weniger weiß, wenn man die Probleme der Menschen im Globalen Süden auf seine Agenda setzen würde. Dann kann man sich in den Dienst derer stellen, die es am nötigsten haben. Und das sind keine Menschen, die aus einer luxuriösen Position heraus kämpfen. Sie kämpfen nicht für eine abstrakte Idee oder weil sie freie Zeit haben. Sie kämpfen ums Überleben, weil bei ihnen Fracking betrieben wird oder Minen abgebaut werden, ihr Wasser verseucht wird und ihre Kinder an Leukämie und Krebs sterben.

Shale Must Fall hat auch Aktionen am Weltwassertag im März initiiert. Was hat Shale Must Fall mit Wasser zu tun?

Wenn du Menschen im Globalen Süden fragst, warum sie sich gegen Fracking oder den Bergbau engagieren, dann werden sie wahrscheinlich nicht sagen: »Wir kämpfen für den Planeten«, sondern; »Wir kämpfen für unser Wasser«. Denn: Fracking spielt eine Hauptrolle bei der Verschmutzung und Verödung von Wasserressourcen im Globalen Süden. In Europa ist das weitgehend unbekannt, obwohl die größte Komponente der Klimakrise die Wasserkrise ist. Es gab sogar jüngst einen historischen Moment, den in Europa kaum jemand mitbekommen hat: An der Wall Street hat der Handel mit Wasser begonnen. Wasser ist zum Spekulationsobjekt, zum Vermögenswert, zur Ware geworden. Jetzt wetten Leute auf die Zukunft des Wassers, um aus der Knappheit Geld zu machen.

Nico Graack

ist freier Autor und Philosoph. Er arbeitet am Institut für Philosophie, Psychoanalyse und Kulturwissenschaften in Berlin und engagiert sich in verschiedenen Klimakontexten.