»Unser Recht ist nun Gesetz«
In Argentinien wurden Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert – die Aktivistin Doris Quispe erklärt, wie das gelang
Interview: Eleonora Roldán Mendívil
Nach jahrzehntelangem Kampf hat das argentinische Parlament ein Gesetz angenommen, das Abtreibungen bis zur 14. Schwangerschaftswoche legalisiert: Ein riesiger Erfolg für die starken feministischen Bewegungen in dem lateinamerikanischen Land. Die Aktivistin Doris Quispe erklärt, wie es dazu kam und was genau das Gesetz bedeutet.
Am 29. Dezember 2020 hat Argentinien, nach Französisch-Guyana und Uruguay, als drittes Land in Südamerika Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert. Wie war der Weg dorthin?
Doris Quispe: Einer der ersten Slogans, der in den feministischen Bewegungen in Argentinien erklang, war: »Verhütungsmittel, um nicht abzutreiben, legale Abtreibung, um nicht zu sterben«. Dieser Slogan ist das Erbe der Militanz von italienischen Immigrantinnen beim Kampf für die Entkriminalisierung der Abtreibung, so entstand das, was heute die »Nationale Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung« ist. Das erste Nationale Frauentreffen in Argentinien fand im Mai 1986 in Buenos Aires statt, aber erst 1988 begannen dort die Workshops zum Thema Abtreibung. 1995 beschloss die Kommission des Nationalen Frauentreffens dann, einen eigenen, langfristigen politischen Raum zum Thema zu eröffnen. Die Diskussion hörte auf, sich auf einige Wenige zu beschränken, und wurde auf Studentinnen und politische, feministische und lesbische Organisationen ausgeweitet. So entstand das »Koordinationskomitee für das Recht auf Abtreibung«. Seitdem ist es ein Ort der Debatte über dieses Thema.
Doris Quispe
lebt in Buenoes Aires, Argentinien. Die 47-Jährige wurde in Lima, Peru, geboren und migrierte 2002 nach Argentinien. Sie ist politische Aktivistin und unter anderem Mitglied im Partido Obrero (Arbeiterpartei) und aktiv bei »Ni una migrante menos«, ein Zusammenschluss von migrantischen Frauen, die für das Bleiberecht und den Schutz jeder Migrantin in Argentinien kämpfen.
Wann wurde der erste Gesetzentwurf zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen vorgelegt?
Der erste Gesetzentwurf für einen sicheren und kostenlosen legalen Schwangerschaftsabbruch wurde 1992 vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf war der Anstoß für den im Jahr 2003 vorgelegten. Im Jahr 2018 wurde das Gesetz zum siebten Mal in Folge vorgelegt und brachte die Debatte über Abtreibung auf die Straße, ins Fernsehen und in den Kongress. Am 28. Mai 2020 präsentierte die »Nationale Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung« in Argentinien zum achten Mal ihren Entwurf und erzeugte damit politischen Druck. Präsident Alberto Fernández stellte dann sein eigenes Projekt vor, das nach fast 20 Stunden Debatte am 11. Dezember mit 131 Ja- und 117 Nein-Stimmen erfolgreich war. Im Senat, der zweiten Kammer des Kongresses, erhielt das Gesetz am 29. Dezember 2020, in einer historischen und emotionalen zwölfstündigen Sitzung, mehr Stimmen als erwartet, und die nötigen Stimmen wurden erreicht. Ab Gültigkeit des Gesetzes wird nun ein Schwangerschaftsabbruch erst ab der 15. Schwangerschaftswoche als Verbrechen angesehen werden. Seit 1921 hat das Strafgesetzbuch Menschen, die Abtreibungen vornehmen lassen, kriminalisiert. Damit ist jetzt Schluss.
In Argentinien gibt es eine sehr präsente und radikale feministische Bewegung. Wie hat diese argumentiert?
Die »marea verde« (grüne Welle) gab nicht auf, sie kämpfte weiter, um dieses Gesetz durchzubekommen. Das ist keine moralische Frage, sondern eine Frage der öffentlichen Gesundheit. Auch mit dem Strafgesetzbuch, das die Abtreibung für Fälle von Vergewaltigung von Minderjährigen oder Gefahr für das Leben einer schwangeren Person befürwortete, wurden Abbrüche nicht durchgeführt, und deshalb musste die legale, sichere und kostenlose Abtreibung Gesetz werden. Die Kriminalisierung durch ein Strafgesetzbuch, das fast 100 Jahre lang von Männern durchgesetzt wurde, als Frauen keine Möglichkeit hatten, mit zu entscheiden oder ihre Meinung zu äußern, ist unerträglich. Ein Strafgesetzbuch, das ein kriminalisierendes und rückschrittliches Ziel hatte, musste geändert werden, und deshalb war es ein Thema, das von der feministischen Bewegung angesprochen und in allen politischen Räumen diskutiert wurde.
Und wie war dann eure Reaktion, als das Ergebnis bekannt wurde?
Die Emotionen, die wir nach so vielen Jahrzehnten des Kampfes empfanden, waren enorm. Wir weinten vor Freude, wir feierten und tanzten, alle sangen die Slogans dieses Kampfes mit viel mehr Kraft.
Was sind die Kritikpunkte an dem aktuellen Gesetz?
Die Kritik an diesem Gesetz ist, dass die »Verweigerung aufgrund des Gewissens« erlaubt ist. Sie ermöglicht es Ärzt*innen, aus persönlichen Gründen keine legalen Schwangerschaftsabbrüche durzuführen und eine*n andere*n Mediziner*in damit zu beauftragen. Ab der 15. Schwangerschaftswoche ist ein Schwangerschaftsabbruch zudem weiterhin eine Straftat, außer in Fällen, in denen die Schwangerschaft das Ergebnis einer Vergewaltigung oder wenn das »Leben oder die integrale Gesundheit« der Schwangeren in Gefahr ist.
Die »marea verde« gab nicht auf, sie kämpfte weiter, um dieses Gesetz durch zu bekommen.
Welche Auswirkungen wird das Gesetz auf Nachbarländer wie Bolivien, Chile und Brasilien haben, wo Schwangerschaftsabbrüche weiterhin nur in absoluten Ausnahmefällen, wenn überhaupt, entkriminalisiert sind? Erwartet ihr, dass ungewollt schwangere Personen aus diesen Ländern nach Argentinien kommen, um abzutreiben?
Das Gesetz der sicheren und kostenlosen legalen Abtreibung in Argentinien ist wichtig für Lateinamerika. Uruguay und Französisch-Guyana waren uns voraus, aber das grüne Halstuch ist die grüne Flut, die Menschen in verschiedenen Ländern beeinflusst hat, die für den Zugang zu diesem Recht kämpfen. Die Frauenbewegung und queere Menschen haben erreicht, dass eine Debatte über legale Abtreibung oder klandestine Abtreibung stattfindet. Als das Abtreibungsgesetz in Uruguay verabschiedet wurde, sagten diejenigen, die dagegen waren, dass die Frauen in den Krankenhäusern Schlange stehen würden und dass das Gesundheitssystem zusammenbrechen würde, dasselbe würde in Argentinien passieren. Das ist in Uruguay natürlich nicht passiert. Im argentinischen öffentlichen Gesundheitssystem haben auch Ausländer*innen das Recht, das gleiche Gesundheitssystem wie jede*r argentinische Staatsbürger*in zu nutzen. Zugleich ist die Versorgung ausländischer Patient*innen in Argentinien jedoch immer noch so gering, dass es ein Mythos ist, dass Migrant*innenen das Gesundheitssystem zum Zusammenbrechen bringen würden.
Sind in Argentinien Schwangerschaftsabbrüche nun legal, sicher und kostenlos, wie es die Nationale Kampagne über Jahre forderte?
Das in Argentinien verabschiedete Gesetz legt die Bedingungen fest, unter denen eine schwangere Person einen freiwilligen Schwangerschaftsabbruch bis zur 14. Schwangerschaftswoche durchführen kann, ohne dass ein Grund vorliegt und ohne dass Kosten anfallen, da diese Praxis nun in das obligatorische medizinische Programm des argentinischen Gesundheitssystems integriert wird. Das bedeutet, dass alle Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens und der privaten Sozialarbeit dieses Recht garantieren müssen, es ist unser Recht, und es ist nun auch Gesetz.