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|ak 677 | Soziale Kämpfe

»Wir lernen kämpfen – Stück für Stück.«

Drei Beschäftigte der Arbeiterwohlfahrt (AWO) berichten über Auseinandersetzungen um Anerkennung und einen Tarifvertrag
 

Interview: Lucie Billmann und Steffen Hagemann

Warnstreiktage im September 2021 vor der Landesgeschäftsstelle Berlin. Foto: Steffen Hagemann

Seit längerem befinden sich die Beschäftigten der AWO Berlin in einer Tarifauseinandersetzung. Zuletzt gab es im November einen achttägigen Warnstreik. Es gibt ein Angebot seitens der AWO-Geschäftsführungen, worüber die Beschäftigten nun abstimmen.

Aktuell befindet ihr euch in der Tarifauseinandersetzung. An welchem Punkt der Verhandlungen steht ihr gerade, und was ist eure Hauptforderung?

Tanja: Wir fordern eine weitere prozentuale Angleichung an den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder, kurz TV-L. Wenn wir die Prozente erstreiten, die wir gerne hätten, dann würde ich 350 € brutto mehr verdienen. Würden wir alle 100 Prozent nach TV-L bezahlt werden, bekämen wir zwischen 550 und 650 Euro brutto mehr im Monat.

Dirk: Die Arbeitgeberseite hat ein »allerletztes Angebot« gemacht, was leider immer noch weit hinter unseren Erwartungen liegt. Nun findet im Dezember eine Befragung unter den Kolleg*innen statt, inwieweit sie bereit sind, in 2022 weiter zu streiken. 

Mit welchen Konflikten und Herausforderungen seid ihr darüber hinaus in euren Arbeitsbereichen konfrontiert?

Tanja: Im Kitabereich ist die Fluktuation seit Jahren sehr hoch. Die Belastung ist durch die erhöhte Dokumentationsarbeit wie Sprachlerntagebücher, Lerngeschichten oder Entwicklungsgespräche extrem gestiegen. Das sind alles Arbeitsaufgaben, die dazu kommen und schwer in den Alltag zu integrieren sind. Gerade wenn man unterbesetzt ist, müssen wir diese Aufgaben oft noch abends zu Hause nacharbeiten. Diese Überstunden können wir uns nicht anrechnen lassen. Mit dem jetzigen Personalschlüssel ist das alles nicht zu schaffen. Der müsste von der Politik dringend überarbeitet werden. Ein anderes Problem ist die Ausbildung. Die Fachschulen kosten oft Schulgeld. Das ist abschreckend, weil viele sich das nicht leisten können. Es gibt auch die berufsbegleitende Ausbildung. Die Auszubildenden werden jedoch gleich voll auf den Personalschlüssel angerechnet. Die sind in der Regel aber nur drei Tage in der Praxis. Zudem können sie im ersten Jahr noch nicht sehr viel übernehmen.

Christiane: In der Sozialberatung für Migrant*innen haben wir Probleme, neue Kolleg*innen zu finden. Es dauert Monate, neue Leute zu bekommen. Das geht auf die Knochen. Wir haben oft erlebt, dass Kolleg*innen auch schnell wieder weggehen, vor allem, wenn sie besser bezahlte Stellen gefunden haben.

Dirk: Wir sind einfach zu wenig Leute für den hohen Beratungsbedarf, den es gibt. Hier schlagen sich direkt gesellschaftliche Probleme und die rassistischen Strukturen unserer Gesellschaft nieder. Ein Großteil unserer Arbeit ist unnötige Kompensationsarbeit für Dinge, die die öffentliche Verwaltung wie das Jobcenter nicht tut, weil sie mit Migrant*innen nicht verständlich kommuniziert. Wir könnten viel sinnvollere Dinge in der Begleitung tun. Hinzu kommt der krasse Mangel an Wohnraum. Hier können wir keine Unterstützungsleistung anbieten, weil es für arme Menschen kaum Wohnungen gibt. Für Menschen mit wenig Deutschkenntnissen gibt es zudem oft nur üble Jobs. Das prägt unseren Alltag.

Nach einem viertägigen Warnstreik im September gab es nun zuletzt einen achttägigen Warnstreik im November, an dem sich bis zu 400 Beschäftigte beteiligt haben. Wertet ihr das als Erfolg?

Tanja: Größtenteils waren wir schon zufrieden. Aber wir sind etwa zweitausend Beschäftigte in Berlin und haben einen sehr hohen Organisierungsgrad, weshalb es beim Streik noch mehr hätten sein können. Das ist auch die Frage, die uns beschäftigt: Wie können wir dafür sorgen, dass mehr Kolleg*innen beim Streik mitziehen?

Christiane: Ich finde, es ist ein Erfolg, dass wir es unter Coronabedingungen geschafft haben, so viele zusammenzubekommen. Ich habe das Gefühl, dass wir an Power gewinnen: Die Leute sind engagierter. Es gibt den Druck, etwas verändern zu wollen. Das macht mir eigentlich Hoffnung. Gerade weil wir schon seit ein paar Jahren diesen Kampf kämpfen. Für mich geht der wirklich schon zu lange, und das ist sehr kräfteraubend. Aber wir lernen dabei. Das merkt man einfach, wir lernen streiken, wir lernen kämpfen, Stück für Stück.

Tanja, Dirk und Christiane

Tanja ist Erzieherin und Teil des Betriebsrats und Mitglied in der Tarifkommission. Dirk arbeitet als Sozialarbeiter im Bereich der Beratung von Neuzuwander*innen und ist seit 15 Jahren bei der AWO. Christiane arbeitet als Sozialarbeiterin im Bereich der Integrationsdienste und ist bereits seit 30 Jahren bei der AWO.

Welche Herausforderungen bringt ein Streik in eurem Bereich mit sich? Es ist ja nicht wie in der klassischen Produktion, wo das Fließband stillsteht und Autos nicht geliefert werden können. Was ist euer Druckmittel?

Dirk: Wir tun unserem Arbeitgeber mit dem Streik nicht wirklich weh. In der Sozialarbeit haben wir hauptsächlich – entschuldigt diesen Begriff – mit »Randgruppen« zu tun. Wenn in den meisten Bereichen der Sozialen Arbeit nichts geschieht, interessiert das den gesellschaftlichen Mainstream herzlich wenig. Und die Leute, denen wir im Streik unsere Unterstützung entziehen, können zu einem Großteil auch keinerlei öffentlichen Druck auf unsere Geschäftsführung ausüben. Daher finde ich es manchmal schwierig, diesen Streik nur gut zu finden. Es gibt nur einen Bereich der gesellschaftlichen Reproduktion, wo Streik wirkungsvoll ist – das hat dann leider auch eine geschlechtliche Seite – das ist der Streik im Kitabereich. Es muss zudem auch ein Teil unseres Kampfes sein zu signalisieren, dass im System etwas im Argen liegt und dass die jeweils zuständige Senatsverwaltung auch eine Mitverantwortung trägt. 

Tanja: Die Kitas sind immer ein großes Zugpferd, weil die Streikbereitschaft extrem hoch ist und sehr viele davon betroffen sind. Darin liegt auch die Hoffnung, dass Eltern sich bei der Geschäftsführung beschweren, dass sie nicht arbeiten können und sie mit E-Mails bombardieren, bis diese irgendwann genervt ist. Oft bekommen wir den Ärger ab, und manche Eltern regen sich auf. Aber wir hatten vor Kurzem einen Elternabend, bei dem sich viele Eltern auf unsere Seite gestellt und gefragt haben, wie sie uns unterstützen können.

Dirk: Eine wichtige Strategie wäre, das Image der AWO als Organisation mit Herz anzugreifen. Denn deren Umgang mit uns ist alles andere als herzlich. Ihre Kommunikationsstrategien, wo sie mit Unwahrheiten operieren, sind widerwärtig. Ein großes Problem ist die Intransparenz. Wir wissen nicht, wem wir glauben sollen, wenn wir über die Finanzlage informiert werden. Das ist im Detail nicht durchschaubar. Ein weiterer Aspekt ist, dass im Streik die AWO quasi von ver.di subventioniert wird. Es entstehen während des Streiks keine Lohnkosten, aber die öffentlichen Zuwendungen fließen ungekürzt weiter.

Der Berliner rot-rot-grüne Senat der vergangenen Legislaturperiode hat einen Grundsatz zum Doppelhaushalt verabschiedet, der die vollständige Refinanzierung des TV-L bei freien Trägern ermöglichen soll. Warum wird das nicht von den Arbeitgeber*innen in Anspruch genommen?

Dirk: Wir können nur berichten, was uns berichtet wird. Im Bereich der gesetzlichen Pflichtaufgaben, z.B. Kitas, Maßnahmen der Eingliederungshilfe usw., wird uns erzählt, dass sie mit dem Finanzsenat Verträge für die kommenden ein bis zwei Jahre abschließen. Wenn sich in der Vertragslaufzeit die Personalkosten erhöhen, sei das extrem aufwendig, rückwirkend nachzuverhandeln. Andere Bereiche, wie die Personalkosten in der Verwaltung werden wohl nicht ausreichend refinanziert und höhere Löhne würden dann angeblich die Budgets sprengen. Hinzu kommt, dass die Berliner Bezirke quergeschossen haben. Die berufen sich darauf, dass sie eine gedeckelte Summe zur Verfügung stellen und es egal sei, was der Senat beschließt. Die AWO bekommt zudem Zuwendungen vom Bund, und der schert sich nicht darum, nach welcher Tarifpolitik der Berliner Senat Gesetze beschließt. Gerade in Heimen für Geflüchtete kann der Senat seine eigene Politik nicht umsetzen, weil dort europaweit ausgeschrieben werden muss. Und da wir ein sehr großer Betrieb sind, wird sich tariflich an den schwächsten Struktureinheiten orientiert.

Christiane: Unsere Erwartung ist, dass politisch das getan wird, was getan werden muss: gleiches Geld für gleiche Arbeit und TV-L für alle. Seit 2013 kämpfen wir für den TV-L und kommen nicht weiter. Das zeigt, dass die Politik hier aktiver werden muss.

Am Anfang der Pandemie gab es viel Applaus für Sorgearbeit. Beim Tarifkonflikt von Charité und Vivantes hat sich jedoch gezeigt, dass die Arbeitgeber*innenseite kaum gewillt ist, auf die Beschäftigten zuzugehen. Auch die Politik zeigt wenig Interesse, etwas an den Strukturen ändern zu wollen. Was müsste passieren, damit Sorgearbeit einen größeren gesellschaftlichen Stellenwert beigemessen bekommt?

Dirk: Ein erster Schritt wäre, jegliche Form von Profitorientierung im Bereich der Sorgearbeit zu verbieten. Daseinsvorsorge muss gemeinwohlorientiert sein. Es bräuchte außerdem einen verbindlichen Branchentarifvertrag für den Gesundheits- und Sozialbereich, von dem kein Anbieter abweichen darf. Hier müssen sich auch endlich die beiden großen kirchlichen Träger bewegen. Mit ihrem Beharren auf den »dritten Weg« hebeln sie zentrale Standards des Arbeits(kampf)rechts aus und blockieren, wie zuletzt beim Pflegelohn, solidarische Lösungen aus ideologischen Gründen.

Tanja: Die Kampagne Freie Träger Faire Löhne ist entstanden mit dem Ziel, uns zusammen zu tun und mehr öffentliche Aufmerksamkeit auf die Sorgearbeit, die wir leisten, zu lenken. So wie es Charité und Vivantes gemacht haben. Da müssen wir hin.

Christiane: Dieses Jahr hatten wir einige gemeinsame Aktionen als Kampagne, woran sich sehr viele Kolleg*innen unterschiedlicher Träger beteiligt haben. Ich habe den Eindruck, dass wir stärker zueinanderfinden. Die AWO als ein großer Träger könnte ein kleiner Leuchtturm sein. In Berlin gibt es viele sehr kleine Träger. Aber die AWO bietet eine Struktur, wir haben Power und können mit den anderen zusammen gehen. Das würde auch historisch der AWO ganz gut zu Gesicht stehen, sich hier hervorzutun, denn das ist irgendwie auch ein Stück ihrer Geschichte. 

Dirk: Ich würde gerne noch die Frage nach der Branchenidentität aufgreifen. Wir reden über Carearbeit, aber als Beschäftigte der sozialen Arbeit und des Gesundheitswesens sind wir weit davon entfernt, uns als eine Branche zu verstehen. Auch innerhalb unserer eigenen Kampagne. Man kämpft dann doch als erstes für seinen eigenen Tarif. Den Sprung zu schaffen, die Kämpfe aller anderen mitzutragen ist schwierig. Das kostet Kraft und Zeit. Aber wir brauchen diese Grundhaltung, sodass wir beginnen, uns als eine gesamte große Bewegung zu verstehen.

Steffen Hagemann

ist aktiver Unterstützer der Kampagne Freie Träger Faire Löhne.

Lucie Billmann

ist aktive Unterstützerin der Kampagne Freie Träger Faire Löhne.