Nicht nur auf Ausbeutung blicken
Warum es an der Zeit ist, beim Thema Arbeit den Fokus zu verändern
Die Energiekrise infolge der Corona-Pandemie und des russischen Angriffskrieges brachte Bewegung in die Arbeitswelt. Die Gewerkschaften gewannen durch die steigenden Reallohnverluste an Bedeutung und die aufflammenden Arbeitskämpfe zeugten bald von einem neuen Selbstbewusstsein der Beschäftigten. Die Wärme dieses Loderns spürten auch linke Gruppen und Initiativen außerhalb der Gewerkschaften und versuchten, sich mit den bewegten Massen zu verbinden. So unterstützten vielerorts linke Akteur*innen die Streikenden oder strebten unter dem Slogan »Genug ist Genug!« den Schulterschluss mit den Gewerkschaften an. Es schien kurzzeitig so, als könnte nun endlich das einstige Heilsversprechen der »Neuen Klassenpolitik« praktisch eingelöst werden und sich eine plurale Klassenbewegung formieren.
Die inhaltlichen Forderungen, mit denen sich die linken Akteur*innen ins Getümmel stürzten, fokussierten häufig auf die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Diese Kämpfe sind ohne Frage das Rückgrat linker Politik. Zugleich bleiben sie jedoch im gewerkschaftlichen Rahmen oft auf die Forderung nach mehr Lohn für eine bestimmte Branche beschränkt und sind durch die Sozialpartnerschaft stark institutionalisiert, weshalb sie größtenteils in geordneten Bahnen verlaufen. Die Beschäftigten erfahren sich hierbei nicht selten als Abhängige der verhandelnden Tarifparteien. Direkte politische Selbstwirksamkeitserfahrungen bleiben dagegen meist nebensächlich, weil das System der Sozialpartnerschaft diese bis auf formalisierte Beteiligungsformen so nicht vorsieht.
Die bisherigen Versuche von linken Gruppen, sich klassenpolitisch mit den Gewerkschaften und Beschäftigten zu verbinden, halte ich für richtig, möchte aber im Folgenden einen strategischen Perspektivwechsel vorschlagen, der nicht nur auf Umverteilung setzt, sondern eine demokratische Politik der Arbeit verfolgt.
Demokratische Orientierung stärken
Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bilden zwei jüngst veröffentlichte Studien. Der deutsche Sozialphilosoph Axel Honneth legte im letzten Jahr mit seiner Monographie »Der arbeitende Souverän« eine normative Theorie der Arbeit vor, in der er ausführt, dass die erlebten Erfahrungen in der Arbeitswelt maßgeblich die Beteiligung an der demokratischen Willensbildung beeinflussen. Honneth verschiebt damit den Fokus, nach welchem normativen Maßstab »gute Arbeit« bewertet werden sollte. Nicht die Entfremdung durch die Lohnarbeit oder eine Herrschaftskritik aufgrund von Ausbeutung sind seiner Ansicht nach zentral für eine transformative Kritik des Kapitalismus, sondern inwiefern die ausgeübten Tätigkeiten die Arbeitenden dazu befähigen, sich demokratisch an gesellschaftlichen Belangen zu beteiligen.
Die derzeitigen Arbeitsverhältnisse würden laut Honneth eine solche Teilnahme aufgrund mangelnder Zeitressourcen, ökonomischer Abhängigkeiten sowie fehlender Anerkennungs- und Selbstwirksamkeitserfahrungen einschränken. Anstatt nun jedoch die Abschaffung der Lohnarbeit zu fordern, die zwar konsequent wäre, jedoch ad hoc nicht realisierbar ist, lotet er fünf »Schwellenwerte« aus, die als praktische Richtschnur für eine »demokratische Politik der Arbeit« gelten sollen und darüber hinaus soziales Transformationspotenzial besitzen. Die Voraussetzungen einer demokratischen Politik der Arbeit seien (1) wirtschaftliche Unabhängigkeit, (2) ausreichend arbeitsfreie Zeit, (3) eine gewisse intellektuelle Dichte der Tätigkeit, (4) erlebte Selbstwert- und Selbstachtungserfahrungen durch die Arbeit und (5) das »Einüben« einer demokratischen Praxis am Arbeitsplatz. Diese Schwellenwerte sind zwar sehr allgemein formuliert, jedoch liegt genau darin ihre Stärke, um sie als Kompassnadeln für die linke Praxis zu nutzen.
Interessant ist darüber hinaus, dass zur selben Zeit die Studie »Arbeitswelt und Demokratie in Ostdeutschland« veröffentlicht wurde. Die Forscher*innen konnten darin empirisch herausarbeiten, dass institutionelle Mitbestimmungsmöglichkeiten und erlebte Handlungsfähigkeiten in ostdeutschen Betrieben nicht nur die demokratische Orientierung der Beschäftigten stärken, sondern auch rechte Einstellungen reduzieren. Sie schlussfolgerten deshalb, dass im Kampf gegen rechts die demokratischen Erfahrungen in der Arbeitswelt eine entscheidende Rolle spielen können.
Nimmt man die Befunde der beiden Veröffentlichungen ernst, so bildet gerade der traditionelle Kampf um die Ausweitung der Demokratie in die Arbeitswelt ein zentrales Handlungsfeld für linke Politik, um sowohl den rechten Vormarsch zu stoppen als auch eine gesellschaftliche Transformationsperspektive zu eröffnen.
Eine öko-soziale Allianz
Doch was bedeuten diese Befunde für linke Akteur*innen? Rein in die Gewerkschaft und Betriebsräte gründen? Ohne Zweifel sind linke Interessenvertreter*innen derzeit besonders gefragt. Die Streiklust und das neue Selbstbewusstsein der Beschäftigten eröffnen ein Möglichkeitsfenster, um Lohn- und Arbeitszeitforderungen mit anderen »Schwellenwerten« im Sinne Honneths fruchtbar zu verbinden. Jedoch darf diese Aufgabe nicht allein den Gewerkschaften und ihren institutionalisierten Routinen überlassen werden. Stattdessen bedarf es gemeinsamer Kooperationen mit anderen Akteur*innen, um den »Schwellenwert« der demokratischen Beteiligungserfahrung sowohl in der Arbeits- als auch insgesamten Lebenswelt zu fördern und darüber bestenfalls linke Forderungen durchzusetzen.
Wie das konkret aussehen kann, möchte ich anhand einer eigenen soziologischen Studie zum Arbeiter*innenbewusstsein von ÖPNV-Beschäftigten verdeutlichen. Im Rahmen dieser Forschungsarbeit untersuchte ich, wie ein lokaler Ableger der Kampagne »Wir fahren zusammen« in einer ostdeutschen Stadt entstanden ist. Die bundesweite Kampagne beruht auf einer 2020 gegründeten öko-sozialen Allianz zwischen Fridays for Future (FFF), ver.di und den Beschäftigten im ÖPNV. (ak 700) Die Klimabewegten unterstützten bereits 2020 die Tarifrunde Nahverkehr und forderten gemeinsam mit Beschäftigten und ver.di den Ausbau des ÖPNVs sowie gute Arbeitsbedingungen in der Branche. Auch in der aktuellen Tarifrunde Nahverkehr ist die Kampagne wieder aktiv. (ak 702)
Im Rahmen meiner Studie interviewte ich ÖPNV-Beschäftigte und FFF-Aktive. Anhand dieser Befragungen versuchte ich nachzuvollziehen, welche Motivationen und Denkmuster die Entstehung der Allianz auf Seiten der Beschäftigten prägten. Ein zentraler Befund war, dass die ÖPNV-Beschäftigten die öko-soziale Allianz trotz einiger Skepsis guthießen, weil die Klimabewegten sie in ihrer Identität als Mobilitätshersteller und Arbeitende anerkannten und so das Selbstwert- und Selbstachtungsgefühl der Beschäftigten stärkten. Diese Anerkennungserfahrung entstand jedoch nicht von selbst, sondern musste von den FFF-Aktiven erst erarbeitet werden. Die Beschäftigten betonten immer wieder beeindruckt, dass FFF-Aktive mitten in der Nacht während der Tarifrunde ihre Streikposten besuchten und für moralische Unterstützung sorgten. Aufgrund dieses selbstlosen Engagements wurde den Klimabewegten mehr Vertrauen entgegengebracht und man traf sich fortan zum Bannermalen, ging plakatieren und organisierte Veranstaltungen wie zum Beispiel ein Streikcafé. Diese gemeinsamen Erfahrungen bildeten zum einen den sozialen Kitt, der die Allianz festigte. Zum anderen erlebten die Beschäftigten die Kooperation als demokratische Beteiligungserfahrungen in der Öffentlichkeit.
Für die Betriebsrät *innen war der Schulterschluss mit FFF der Versuch, die arbeitsweltlich begrenzten Machtpotenziale auszuweiten
Ein weiterer Befund der Studie war, dass die Betriebsrät*innen eine Schlüsselrolle bei der Entstehung der Allianz eingenommen hatten. Sie machten den ersten Schritt und initiierten ein Treffen mit FFF. Auch diese Kooperationsoffenheit der Betriebsrät*innen hatte eine arbeitsweltliche Vorgeschichte. Die Interessenvertreter*innen wussten bereits aus ihrer Praxis, wie wichtig die Zusammenarbeit mit den anderen Beschäftigten und der Gewerkschaft ist. Diese Erfahrung einer kollektiven betrieblichen Handlungsfähigkeit wurde jedoch immer wieder dadurch begrenzt, dass die Arbeitgeberin die Kommune ist und deshalb die Entscheidungen über die Arbeitsbedingungen nicht nur betrieblich, sondern auch im Feld der Politik getroffen werden. Für die Betriebsrät*innen war der Schulterschluss mit FFF deshalb der Versuch, ihre arbeitsweltlich begrenzten Machtpotenziale auszuweiten und auch kommunalpolitisch an Einfluss zu gewinnen. Aus einer machtanalytischen Perspektive bildet die öko-soziale Allianz somit ein quid pro quo. Während die Forderungen der Beschäftigten durch die Diskursmacht von FFF – verstanden als wirksame Stimme in der Öffentlichkeit – gestärkt werden, erweitert FFF seine strukturelle Macht durch die Verbindung von Klimastreiks und Arbeitskämpfen.
Vortasten und kennenlernen
Die hier vorgestellten Überlegungen sollten verdeutlichen, welche Möglichkeiten in einer demokratischen Politik der Arbeit schlummert, um einerseits linke Machtpotenziale auszuweiten und andererseits den rechten Vormarsch zu stoppen. Linke, die nach verbindenden Scharnieren zu Beschäftigtengruppen und Gewerkschaften suchen, sollten deshalb nicht nur auf das Thema Umverteilung setzen, sondern auch versuchen, die demokratischen Selbstwirksamkeitserfahrungen von Beschäftigten in der Arbeitswelt und andere »Schwellenwerte« zu stärken. Drei Voraussetzungen scheinen mir hierfür besonders wichtig zu sein. Erstens müssen Kooperationen zwischen den drei Akteur*innen aufgebaut werden, die auf vertrauensvollen Beziehungen beruhen. Diese können nicht am Reißbrett entworfen werden, sondern verlangen ein suchendes Vortasten und Kennenlernen.
Zweitens müssen linke Akteur*innen außerhalb der Gewerkschaften zeigen, über welche Machtpotenziale sie verfügen, um für Kooperationen mit den Gewerkschaften und den Beschäftigten überhaupt attraktiv zu sein. Erfahrungen von Campaigning, Organizing und das Verfügen über Diskursmacht können hierfür entscheidend sein. Drittens bedarf es für eine demokratische Politik der Arbeit auch der Kooperationsoffenheit der Gewerkschaften, der Beschäftigten und linker Akteur*innen. Dass auch letzteren eine solche Offenheit fehlen kann, wird aktuell in Hamburg deutlich: Dort versuchen Hafenbeschäftigte seit Wochen, das Thema Teilverkauf der städtischen Hafengesellschaft HHLA zu politisieren und Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Akteur*innen zu schmieden. (ak 701) Während die städtische Linke von den wilden Streiks noch sehr angetan war, stoßen die Beschäftigten mit ihren Bemühungen, den Protest gegen die Privatisierung breiter aufzustellen, bislang nur auf verhaltenes Interesse. Solche Kooperationsgesuche gilt es in Zukunft zu erkennen und zu nutzen, um einer demokratischen Politik der Arbeit Vorschub zu leisten.