Der Preis der Unabhängigkeit
Wie ist eine schnellstmögliche Beendigung des Ukrainekriegs zu erreichen?
Von Heino Berg, Thies Gleiss, Jakob Schäfer und Matthias Schindler und Winfried Wolf
In der vergangenen Ausgabe sind mehrere Debatten-Texte zum Krieg in der Ukraine erschienen. Unter anderem »Für einen solidarischen Antiimperialismus«, in dem ein fünfzehnköpfiges Autor*innenkollektiv aus Russland, Ukraine, Polen, Deutschland, Österreich und der Schweiz eine grundsätzliche Positionsbestimmung vornimmt und dabei exemplarisch einen Text kritisiert, den wiederum fünf andere Autoren in der jungen Welt veröffentlicht hatten. Diese haben nun eine Antwort verfasst, die wir an dieser Stelle dokumentieren.
Die Debatte innerhalb der Linken über eine politisch vernünftige und humanistisch vertretbare Reaktion auf den verbrecherischen Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine wird wohl noch eine Weile andauern. Ein Autor*innenkollektiv hat in ak 684 auf unseren Beitrag in der jungen Welt vom 9. Juni geantwortet. Wir wollen nun unsererseits auf einige der aufgeworfenen Fragen eingehen.
In der allgemeinen Charakterisierung Russlands gibt es keine fundamentale Differenz, aber wir bewerten Russlands Ziele in diesem Krieg anders. Das Autor*innenkollektiv schreibt: »Russland will die ukrainische Gesellschaft systematisch zunichtemachen.« Diese Darstellung unterstellt, dass der Kreml ausschließlich dämonische Ziele verfolge und keinerlei rationale Überlegung zur Umsetzung ihrer machtpolitischen Ziele anstelle.
Putin verfolgt mit diesem Krieg ganz gewiss imperialistische Interessen. Die Ukraine in den Herrschaftsbereich des Kremls zu integrieren, würde der russischen Oligarchie wirtschaftliche Möglichkeiten bieten, das politische Regime in der eigenen Anhänger*innenschaft aufwerten sowie vor allem die geopolitische Position des Kremls stärken. Das funktioniert aber nur dann, wenn das Land nicht restlos kaputt gebombt und entvölkert ist.
Es dürfte unbestritten sein, dass sich die russische Führung vollständig verkalkuliert hat. Jetzt unverrichteter Dinge abzuziehen würde die eigene Machtposition im Land indes bedrohen. Daraus ergibt sich, dass ein länger anhaltender (Abnutzungs-)krieg die wahrscheinlichste Folge sein wird. Die Herrschenden in Russland haben nicht die geringsten moralischen Skrupel, für die Verfolgung der eigenen Interessen, weiterhin Tausende russische Soldat*innen an die Front zu schicken.
Weltordnungskriege nach 1990
Unsere zweite Anmerkung – bevor wir zum Kern der Differenz kommen – bezieht sich auf die Bewertung der Nato. Im Gegensatz zu dem, was uns die Autor*innen unterstellen, drehen wir die Verantwortung für diesen Krieg nicht um. Auch wir sehen Russland als den Aggressor. Die Verantwortung des US-Imperialismus für die kriegerischen Verbrechen der imperialistischen Weltordnung seit dem Zweiten Weltkrieg ist allerdings um ein Vielfaches größer als die Russlands. Allein die Betrachtung der seit dem Zusammenbruch des Ostblocks erfolgten Massaker spricht Bände: Irak-Krieg 1990/91, Kosovo-Krieg, Afghanistan-Krieg, Irak-Krieg 2003, Libyen-Krieg usw.
Und sicherlich ist die Aufnahme osteuropäischer Länder in die Nato nicht dasselbe wie der Einmarsch in ein anderes Land. Es sollte dennoch nicht übersehen werden, dass die Nato-Osterweiterung sehr wohl zur Erhöhung der Spannungen beigetragen hat. Der ehemalige amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski beschrieb 1997 in dem Buch »Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft«, wie man Russland mit fortschreitender Nato-Osterweiterung und einer Integration der Ukraine in die Nato zu einer asiatischen Regionalmacht degradieren könne. Genau nach diesem Plan verlief die Politik der USA.
In der allgemeinen Charakterisierung Russlands gibt es keine fundamentale Differenz, aber wir bewerten Russlands Ziele in diesem Krieg anders.
Die Regierungen und die herrschende Klasse der USA haben nach 1990 offen eine Ära der neuen Weltordnung und neuer Weltordnungskriege ausgerufen. Waren die Konflikte auf der Welt zur Zeit der Blockkonfrontation nicht nur Verteilungs- und Klassenkämpfe der jeweiligen Regionen, sondern auch Stellvertreterkriege Ost gegen West, so waren sie nach 1990 Stellvertreterkriege »West gegen West« – es ging um Neuaufteilung von Einfluss und Marktmacht kapitalistischer Mächte untereinander. Mit anderen Worten: Früher wohnte den Kriegen eine mehr oder weniger prägende Systemauseinandersetzung inne, während es heute Kämpfe um Entwicklungschancen und -interessen innerhalb des unangefochtenen kapitalistischen Systems sind. Die USA handelten entsprechend nach dem Motto »Keiner darf gewinnen«, um die Herausbildung neuer kapitalistisch-imperialistischer Regionalmächte mit Weltmachtambitionen zu verhindern. Waffen wurden an alle Seiten geliefert, diverse, häufig wechselnde Gruppierungen politisch unterstützt. Diese Politik ist auch gegenüber der Ukraine in ihren inneren Konflikten nicht anders. Es ist heute offenkundig, dass es sich nicht nur um einen Krieg in der Ukraine, sondern auch um einen Krieg um die Ukraine handelt.
Das Autor*innenkollektiv erwähnt in seiner Antwort auf uns zu Recht die politischen Analysen, die – wie in jedem anderen Krieg – auch im Ukraine-Krieg unterschiedliche Kriegslinien und Interessenskonflikte erkennen. Unverständlicherweise suchen sie sich aber nur die ihnen passendste Perspektive aus – der Kampf der ukrainischen Bevölkerung gegen die Besatzung, den sie willkürlich zu einem Kampf um nationale Selbstbestimmung verdichten. Diese Interpretation führt sie zu Irrtümern und falschen Bündnispartner*innen. Die These, dass der Krieg zur Stärkung einer Bewegung für nationale Selbstbestimmung geführt hat, ist richtig. Gleichzeitig hat die Entwicklung des Kriegsgeschehens aber auch das Gegenteil bewirkt: Das Gewicht der direkten Einflussnahme der Nato ist gestiegen; die Tür zu einem realen, möglicherweise nuklearen Weltkrieg ist noch ein wenig weiter geöffnet worden.
Gleichermaßen wurden die Reihen des nationalen Widerstands gegen den Angriffskrieg zwar enger geschlossen, aber auch ein immer größerer Teil der Bevölkerung zur Flucht gezwungen, weshalb die Zwangsrekrutierungen in die ukrainische Armee fortgeführt werden. Der Gang des Kriegsgeschehens verändert das Verhältnis der unterschiedlichen Kriegslinien und Interessenskonflikte kontinuierlich, die Waffenlieferungen haben auf dieses Kräfteverhältnis Einfluss. Wir haben an den Balkankriegen und in Syrien gesehen, wie Waffenlieferungen bestimmter Akteur*innen an ursprünglich mal fortschrittliche Kräfte diese immer mehr in Richtung Söldnertruppen verändern. Das ist auch in der Ukraine zu befürchten. Aber das Autor*innenkollektiv stellt sich die Frage »Wer liefert was an wen« gar nicht erst.
Der Kern der Differenz
Die »Ukrainer*innen kämpfen für ihre legitimen Ziele und Rechte in der ukrainischen Gesellschaft. Sie kämpfen um ihre Existenz als Ukrainer*innen«, schreiben die Autor*innen zu Recht. Und auch dort, wo sie anführen, dass die Ukrainer*innen nach dem Völkerrecht legitimiert sind, sich bewaffnet zu wehren, wollen wir keineswegs widersprechen. Die Frage ist allerdings, ob eine militärische Reaktion für das Erreichen der langfristigen politischen Ziele klug und ob sie unter den konkreten politischen, militärischen und geopolitischen Kräfteverhältnissen nach humanistischen Kriterien gutzuheißen ist. Nicht jeder Verteidigungskampf ist von vornherein nur militärisch umsetzbar und nach humanitären Maßstäben zu vertreten.
Vorab wollen wir noch auf etwas anderes verweisen: Die Frage der nationalen Unabhängigkeit hat in der Ukraine seit den Zarenzeiten mehrere, auch bewaffnete Konflikte erzeugt. Die Antwort der Sozialist*innen nach der Revolution von 1917 lässt sich auf eine Formel bringen: Wir als Sozialist*innen sind Internationalist*innen, aber wir respektieren euren Kampf um nationale Selbstbestimmung und staatliche Unabhängigkeit. Doch ihr könnt sicher sein, nur eine sozialistische Sowjetrepublik wird euch diese Forderungen erfüllen.
Der Vorwurf von Putin an Lenin in seiner Rede vom Vorabend der Kriegseröffnung ist dementsprechend, dass erst die Bolschewiki die nationale Unabhängigkeit der Ukraine ermöglicht hätten und er – Putin – diesen Fehler nun korrigieren müsse.
Dabei gilt heute unverändert für die Ukraine: Die Wünsche nach nationaler, kultureller Selbstbestimmung und auch eine mögliche staatliche Souveränität werden nicht vom Imperialismus und globalisierten Kapitalismus erfüllt werden, sondern lässt sich letztlich nur durch eine neue sozialistische Weltordnung verwirklichen. Unter einem Nato-Regime wird das Schicksal der Ukraine dem einer Neo-Kolonie ähneln.
Nun zum Kern der Differenz: Die Position der Autor*innen hat zwei eng mit einander verknüpfte Konsequenzen, die sich mit denen der Nato-Position decken: Erstens sind die Autor*innen für die fortgesetzte Lieferung von schweren Waffen und zweitens sehen sie die wichtigste Aufgabe der Friedensbewegung (und aller »Sozialist*innen, Feminist*innen und Anarchist*innen«) nicht darin, auf die sofortige Einstellung aller Kampfhandlungen zu drängen. Beides führt zwangsläufig zu einer Verlängerung des Kriegs und zu weiteren Todesopfern, Verletzten, Zerstörungen der Infrastruktur, ökologischer Verwüstung und Zunahme der Gefahren einer Atomkatastrophe. Wir meinen: Angesichts der unbestreitbaren Tatsache, dass Putin seine Truppen nicht ergebnislos abziehen wird und dass aufgrund der realen militärischen Kräfteverhältnisse kein schnelles Ende zu erreichen ist, muss es das oberste Ziel von »Sozialist*innen, Feminist*innen und Anarchist*innen« sein, sich für einen sofortigen Stopp des Abschlachtens und der Verwüstungen einzusetzen. Denn – und damit kommen wir zur alles entscheidenden Frage: Ist eine unabhängige Ukraine wichtiger als das Leben von Tausenden von Menschen? Wir meinen nein.
Was im Mittelpunkt stehen müsste
Auch einige Gewerkschaftsgliederungen und Teile der Friedensbewegung sind für einen sofortigen Waffenstillstand. Wie wollen wir morgen für eine Abrüstung der Bundeswehr und die Auflösung der Nato argumentieren, wenn wir uns heute für Waffenlieferungen in militärische Konfliktgebiete stark machen? Beispielhaft wollen wir aus einer Entschließung des IG Metall-Bezirks Niedersachsen-Sachsen-Anhalt zitieren: »Daher lehnt die Bezirkskonferenz das am 03. Juni 2022 beschlossene ›Sondervermögen Bundeswehr‹ ab. (…) Die Beschlüsse (zur Aufrüstung) werden auch kein Mehr an Abschreckung bedeuten, denn schon heute übersteigen die Ausgaben der Nato-Mitgliedstaaten (natürlich noch ohne Schweden und Finnland) die Ausgaben Russlands für Militär um ein Vielfaches. Deutschland darf sich nicht mit falschen Entscheidungen auf den Weg einer militaristischen Konfrontation und einer möglichen Hochrüstungsspirale begeben.«
Wenn wir die Bedingungen eines solchen Waffenstillstands bestimmen könnten, so stände ein Rückzug aller russischer Truppen und ihrer Verbündeten aus anderen Ländern im Mittelpunkt, ein Schuldenerlass für die Ukraine, ein Hilfsfonds zum Wiederaufbau, umfassende Solidarität mit allen Geflüchteten und auch Strafprozesse gegen die Verantwortlichen für den Angriffskrieg. Aber wir bestimmen leider nicht das Kriegsgeschehen – die Notwendigkeit, die Waffen zum Schweigen zu bringen, entfällt dadurch nicht. Am besten wären, konkrete Solidaritätsaktionen (mindestens von Teilen) der Arbeiter*innenklassen in Deutschland, der Ukraine, Russlands, Polens, mit langfristigem Atem zu organisieren, um den Herrschenden mit Demonstrationen und Streiks die kriegstreiberische Politik unmöglich zu machen. Es wäre schön, wenn wir uns hierauf mit den Autor*innen verständigen könnten.
Abschließend sei noch einmal festgehalten: Fast im gesamten Text des Autor*innenkollektivs wird von »der Ukraine« gesprochen. Eine klassenanalytische Differenzierung der verschiedenen Interessensgruppen fehlt, wodurch eine soziale Interessenidentität suggeriert wird, die es definitiv nicht gibt. Erst im letzten Abschnitt wird konkret von den »kleinen linken, anarchistischen, feministischen Gruppen und unabhängigen Gewerkschaften« gesprochen. Das müsste im Mittelpunkt stehen.
Sie und vergleichbare Kräfte in Russland, Belarus und auch in der EU sind das potenzielle Schlüsselelement, um mit linker, sozialistischer Perspektive auf das Kriegsgeschehen Einfluss zu nehmen. Das sind sicher sehr schwache Kräfte, aber es gibt dazu keine Alternative. Wir suchen die Zusammenarbeit und Diskussion mit diesen Kräften, und wir üben auch solidarische Kritik, wenn es erforderlich sein sollte, wie wir es hier auch tun. Das ist praktizierender solidarischer Internationalismus und alles andere als »Paternalismus«. Wir respektieren, wenn diese Gruppen sich für den bewaffneten Widerstand entscheiden. Wir würden – wie in den 1970er Jahren mit der Kampagne Waffen für El Salvador – auch Geldsammlungen unterstützen, damit diese Gruppen sich Waffen besorgen können. Aber die Hoffnung, durch Lieferung von komplexen Waffengroßsystemen – einschließlich Ausbildung in den Nato-Camps oder Anleitung von Nato-Offizieren vor Ort – durch die imperialistischen Staaten würde der Einfluss dieser kleinen linken Kräfte gestärkt werden, ist mehr als trügerisch.