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|ak 661 | Soziale Kämpfe

Job suchen, Stress machen

Die Angry Workers haben sich im industriellen West-London als Arbeiter*innen organisiert. Wie lief das?

Interview: Johanna Schellhagen

Menschen gehen einen Straße entlang
Hier sieht man Leute auf dem Weg von der Arbeit in West-London. (Szene aus dem labournet.tv-Film »Wer sind die AngryWorkers?«)

Gelangweilt von den immer gleichen Debatten und Aktionen der linken Szene? So ging es vor sechs Jahren einigen Leuten in London. Also sind sie in einen Randbezirk gezogen, haben sich Jobs in Warenlagern gesucht und als Angry Workers versucht, mit ihren Kolleg*innen gegen die kapitalistische Ausbeutung vorzugehen. In ihrem Buch »Class Power on Zero-Hours« bilanzieren sie ihre Erfahrung. Im Interview erzählt einer von ihnen, der anonym bleiben will, was geklappt hat und wo es schwierig wurde.

2014 habt ihr die metropolitane Blase Londons verlassen und seid nach West-London gezogen. Warum?

Angry Worker: Aus politischen Gründen. Anfang 2014 sind wir nach Greenford, einen industriellen Randbezirk in der Nähe des Flughafens Heathrow, gezogen. Greenford ist Teil des »western corridors«, wo 60 Prozent der in London konsumierten Nahrungsmittel verarbeitet, verpackt oder umdisponiert werden. Es gibt Hunderte Warenlager, in denen vor allem migrantische Arbeiterinnen aus Osteuropa und vom indischen Subkontinent beschäftigt sind. Zu diesem Zeitpunkt hatten uns die Streiks der migrantischen Logistikarbeiterinnen in Italien inspiriert. Wir haben uns zu viert Jobs in verschiedenen Warenlagern gesucht, bevorzugt in größeren Betrieben.

Wir haben uns zu viert Jobs in verschiedenen Warenlagern gesucht, bevorzugt in größeren Betrieben.

Was ist euer politischer Horizont?

Es geht uns um die Selbstorganisierung der Arbeiterinnen und Arbeiter als Voraussetzung für den Kampf für eine befreite Gesellschaft. Die Arbeiter-Selbstuntersuchung steht im Mittelpunkt unserer Bemühungen. Als Arbeiterinnen müssen wir gemeinsam den Arbeitsprozess, die Spaltungslinien, die Position des Unternehmens in der Zulieferkette, die rechtliche Situation und den hierarchischen Gewerkschaftsapparat verstehen, um uns effektiv und selbstständig gegen die Bosse zu organisieren.

In eurem Buch beschreibt ihr euren Organisierungprozess als »kleine Zelle revolutionärer Organisation« in West-London. Was habt ihr gemacht?

Die ersten Erfahrungen haben uns mit der Realität vieler Kolleginnen auch außerhalb der Arbeit konfrontiert, wo sie als migrantische Arbeitskraft mit Vermietern, Behörden und anderen Autoritäten zu kämpfen haben. Wir haben deshalb entschieden, den Organisierungsprozess auf vier unterschiedlichen, sich aber gegenseitig beeinflussenden Ebenen anzupacken: ein Solidaritätsnetzwerk, organisierte Kerne im Betrieb, eine lokale Arbeiterinnenzeitung und ein politisches Kollektiv.

Das Buch

In ihrem Buch »Class Power on Zero-Hours« berichten die Angry Workers über ihre Erfahrung mit sechs Jahren Arbeit und Organisierung in den Warenlagern und Lebensmittelfabriken West-Londons. Das Buch kann über angryworkersworld@gmail.com bestellt werden, außerdem freuen sich die Angry Workers über Kritik, Fragen und Diskussionen.

Was heißt Solidaritätsnetzwerk?

Mit dem Solidaritätsnetzwerk haben wir wöchentliche Treffen bei McDonalds, in einem Supermarktcafe und einem indischen Tee-Imbiss organisiert und gegenseitige Unterstützung bei Problemen mit Lohnzahlungen oder Behörden angeboten. Uns ging es um folgende politische Aussage: Wir brauchen keine Experten, sondern direkte Aktionen von Arbeiterinnen für Arbeiterinnen. Über das Solidaritätsnetzwerk haben wir erfahren, wie die sogenannte migrantische Community mit Klassenlinien durchzogen ist und die migrantische Mittelschicht die Abhängigkeit der neu angekommenen Arbeiterinnen und Arbeiter von »ihrer Community« als Bosse, Vermieter oder politische Mittelsmänner ausbeutet.

In sechs Jahren haben wir dutzende Arbeiterinnen unterstützt, und ein kleiner Teil von ihnen ist aktiver Teil des Netzwerks geworden. Für uns war es wichtig, das Solinetzwerk so eng an die Welt der Arbeit anzubinden wie möglich, um über Einzelfälle hinausgehen zu können. So haben wir einigen LKW-Fahrern geholfen, die ursprünglich aus dem Punjab kamen und bei lokalen Kleinunternehmen arbeiteten. Über sie haben wir LKW-Fahrer beim weltweit zweitgrößten Catering-Unternehmen für Fluglinien, Alpha LSG, kennengelernt. Mit einer kritischen Masse von Unterstützern des Solinetzwerks von außen und einer kleinen aktiven Gruppe von Arbeitern in diesen neuralgischen Unternehmen hätte es funken können.

Inwiefern hätte es funken können?

Die LKW-Fahrer waren zusammen mit 100 anderen zu schlechteren Bedingungen eingestellt worden. Die Gewerkschaft Unite hat diese Neuverträge für alle Standorte in Großbritannien abgesegnet. Wir haben gegenüber der Basisgewerkschaft IWW, Industrial Workers of the World, und den Arbeitern betont, dass Alpha LSG das Essen für einen Großteil der Fluggesellschaften am größten Flughafen Europas liefert – und dass Aktionen daher große Auswirkungen haben würden! Leider ist der Flughafen Heathrow weit entfernt vom Stadtzentrum, und die meisten IWW-Genossinnen waren zu dieser Zeit mit Deliveroo-Kurieren beschäftigt. Es fehlte an Kapazitäten, um die LKW-Fahrer zu unterstützen. Die Arbeiter hatten sich eine schnelle rechtliche Lösung erhofft, was ebenfalls nicht möglich war.

Leute mit Schilden mit der Aufschrift "Pay wages now" stehen vor einem Fabriktor.
Gemeinsam ausstehende Löhne eintreiben: Klappt oft, und man lernt dabei haufenweise Leute kennen. (Filmstill aus der labournet.tv-Doku »Wer sind die AngryWorkers?«)

Wie waren eure Erfahrungen auf Arbeit?

In den sechs Jahren haben wir in ein paar dutzend Warenlagern und Fabriken gearbeitet und dort je nach Bedingungen mit unseren Kolleginnen und Kollegen unterschiedliche Aktionen organisiert. Wir haben als Leiharbeiter auf Null-Stundenverträgen (1) im Kühllager für die zweitgrößte britische Supermarktkette Sainsbury’s gearbeitet. Hier hängt es von deiner täglichen Arbeitsproduktivität ab, wie viele Schichten du in der nächsten Woche bekommst. Die Gewerkschaft organisiert nur die Festangestellten, die weniger arbeiten, aber 30 Prozent mehr verdienen.

Welche Rolle spielte die Gewerkschaft in euren Betrieben?

Wir sind als einzige Leiharbeiterinnen der Gewerkschaft beigetreten. Die zeigte aber kein Interesse an uns. Wir haben daher selbst Forderungen nach gleichem Lohn und garantierten Schichten aufgestellt und Treffen von Leiharbeiterinnen nach der Schicht organisiert. Kollektives Langsam-arbeiten schien die beste Möglichkeit, Druck auf das Unternehmen auszuüben. Im Gegensatz dazu schien es in einem Unternehmen für Fertigessen, das vier lokale Fabriken mit über 3.000 Arbeiterinnen betreibt, möglich, als Vertrauensleute eine gewerkschaftliche Lohnkampagne zu organisieren. Das zentrale Kapitel unseres Buchs beschreibt, wie die Arbeit in diesen Fabriken organisiert ist, wie die Arbeiterinnen und Arbeiter einem sexistischen Arbeitsregime unterworfen werden, das weniger von Automatisierung als von der repressiven Einwanderungspolitik des Staates abhängt. Wir beschreiben unsere Versuche, eine unabhängige Fabrikzeitung und Treffen zu etablieren und unsere Auseinandersetzungen mit dem Gewerkschaftsfilz, der eine basisgewerkschaftliche Lohnkampagne sabotierte.

Die dritte Ebene eures Organisierungsversuchs war die Zeitung WorkersWildWest.

Ja, wir haben neun Ausgaben mit jeweils 2.000 Exemplaren vor Betrieben, Arbeitsämtern und in Wohnsiedlungen verteilt. In der Zeitung geht es in erster Linie um die Erfahrungen mit dem Solinetzwerk und auf der Arbeit. Die Zeitung sollte widerspiegeln, unter welchen Bedingungen wir leben und arbeiten und was wir unternehmen, um diese Bedingungen zu verändern. Zudem haben wir relevante internationale Nachrichten, zum Beispiel über Kämpfe von Amazon-Arbeitern in Deutschland oder Polen, verbreitet. Uns ging es aber auch um klare politische Positionen gegen den Brexit-Zirkus und Nationalismus. Wir wollten auf die Diskussion unter vielen Kolleginnen eingehen, die vor allem seit dem Finanzcrash von 2008 versuchen, »das System« zu verstehen und dabei oft auf Verschwörungstheorien zurückgreifen. Wir haben daher eine »System-Serie« geschrieben, in der wir die historischen Ursprünge des Kapitalismus, seine Krisenhaftigkeit und die revolutionären Bestrebungen unserer Klasse in einer einfachen, aber nicht vereinfachenden Sprache darstellen. Uns ging es dabei um eine Wiederanbindung eines kommunistischen Programms an die täglichen Bedingungen und Erfahrungen der Klasse.

Wie war die Resonanz?

Wir haben die Zeitung nicht oft genug herausbringen können, von daher blieb der Austausch mit Arbeiterinnen aus verschiedenen Betrieben, vor allem mit den 80.000 Arbeitern am Flughafen Heathrow, sehr punktuell.

Einkaufsstraße mit kleinen Geschäften, Passanten mit Einkaufstüten.
An den Wänden Aufkleber der Warschau Ultras, in den Schaufenstern handgeschriebene Wohnungsannoncen in Polnisch, Hindi, Tamil. So beschreiben die Angry Workers die Gegend rund um Greenford Station. (Filmstill aus »Wer sind die AngryWorkers?«)

Die vierte Ebene war das politischen Kollektiv Angry Workers.

Ja, als Angry Workers haben wir uns bemüht, Verbindungen zu Arbeiterinnen in anderen Ländern und einen Informationsaustausch über laufende Kämpfe herzustellen. Wir sind mit Kolleginnen zu internationalen Amazon-Treffen gefahren oder haben Soliaktionen organisiert. Außerdem war uns wichtig, dass wir unsere Erfahrungen als Kollektiv selbstkritisch mit anderen kämpferischen Arbeiterinnen und Kommunistinnen teilen. Anders als die meisten Organisationen müssen wir keine permanenten Erfolge erfinden, um Leute zu rekrutieren. Wir haben auch in die linke Debatte eingegriffen, zum Beispiel haben wir basierend auf unseren Erfahrungen kritische Texte zur Frage der Intersektionalität oder zur Automatisierungsdebatte geschrieben.

In eurem Buch gibt es ein Kapitel, das das Konzept des demokratischen Sozialismus demontiert und die Linke in Großbritannien dafür kritisiert, dass sie sich vor den Karren der Labour Party hat spannen lassen.

In den letzten Jahren hat sich die politische Strategie der hiesigen Linken auf die Labour Party und den Wahlkampf reduziert. Hunderttausend neue, oft junge Parteimitglieder sind im internen Machtkampf der Partei aufgerieben worden. In Großbritannien werden Initiativen der Arbeiterklasse historisch durch bornierten Syndikalismus (»Arbeiterinnen wollen vor allem Brot auf dem Tisch oder Mietschutz, was interessiert mich die Welt?«) und harmlosen Parlamentarismus kanalisiert und entpolitisiert, worüber sich schon Marx, Rudolf Rocker und selbst Lenin beklagten. Während der letzten sechs Jahre sind viele Genossinnen im Apparat von Labour und Momentum verschwunden oder ziehen sich frustriert in lokale Initiativen zurück, »um etwas Sinnvolles im Kleinen zu verändern«. Unsere Vorschläge, durch geduldige Arbeit Kontakte zu Arbeiterinnen in Dutzenden Betrieben herzustellen und sich gemeinsam zu wehren und eine koordinierte Debatte darüber aufzubauen, hatten daher wenig Resonanz.

Es macht Spaß, mit Genossinnen, die im selben Betrieb arbeiten, Klatsch und Tratsch von der Schicht zu teilen und Pläne zu schmieden!

Ihr ruft am Ende des Buchs dazu auf, eurem Beispiel zu folgen und ähnliche Organisierungversuche zu wagen. Was ihr beschreibt, klingt nach unfassbar viel Arbeit. Hattet ihr trotzdem Spaß in den letzten sechs Jahren?

Hatten wir Spaß? Manchmal! Vor allem bei der Subversion auf der Arbeit, den Konfrontationen. Vielleicht kann man eher von Erfüllung sprechen. Es ist erfüllend, die sinnliche Erfahrung auf der Arbeit, die Diskussionen mit Kolleginnen, die eigenen Aktionen und die theoretischen Strategien als Kommunistinnen in ein vielleicht nicht immer kohärentes, aber zumindest ganzheitliches Verhältnis zu bringen. Ganzheitlich auch, weil wir anderen Arbeitern geholfen haben und genauso auf andere Arbeiter angewiesen waren. Außerdem macht es Laune, mit Genossinnen, die im selben Betrieb arbeiten, Klatsch und Tratsch von der Schicht zu teilen und Pläne zu schmieden.

Johanna Schellhagen

Johanna Schellhagen lebt in Berlin und arbeitet für labournet.tv.

Bei labournet.tv ist auch ein kurzer Film »Wer sind die Angry Workers?« zu sehen.

Anmerkung:
1) Null-Stundenverträge (zero-hours contracts) sind Arbeitsverträge auf Abruf. Es gibt zwar einen Arbeitsvertrag, in dem es aber eine Mindestarbeitszeit von null Stunden festgelegt, das heißt, es gibt keinen Anspruch auf Schichten. In Großbritannien arbeiten bis zu 1,5 Millionen Menschen mit solchen Null-Stundenverträgen.