Mit Handzetteln gegen Hartz IV
Andreas Ehrholdt, der ohne Organisation im Rücken die Proteste gegen die Arbeitsmarktreform ins Rollen brachte, ist gestorben
Von Marcel Hartwig
Es sind selbst kopierte grüne und gelbe Handzettel, die im Juli 2004 in Magdeburg an Bauzäunen, Bushaltestellen kleben und vor Supermärkten ausgelegt werden. Sie rufen zum Protest gegen die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld 2, besser bekannt unter dem Namen Hartz IV, auf. Die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Schröder (SPD) plant den Abbau sozialer Rechte in einem Umfang, wie ihn das Land bislang nicht kennt. Doch Sommerloch und Gewerkschaften, die die soziale Flanke der neoliberalen Offensive der Schröder-Regierung decken, lassen kaum nennenswerten Protest erwarten.
Dabei steht für Erwerbslose viel auf dem Spiel. Durch die Hartz-IV-Reformen stehen bisherige Bezieher*innen von Arbeitslosenhilfe in der Gefahr, alles zu verlieren: ihre Rücklagen, ihre persönliche Autonomie, die Anerkennung ihrer Lebensleistung. Die Handzettel und improvisierten Plakate stammen von dem völlig unbekannten Andreas Ehrholdt, einem seit langem erwerbslosen Facharbeiter, der nach der Wende umschulen musste. Den kräftigen Mann mit Sonnenbrille hatte mitten im Sommerloch niemand auf dem Zettel. Er passt in kein Schema. Weder ist er politischer Aktivist, noch Verbandsfunktionär oder Politiker. Und doch ist er der Mann des Moments im Sommer 2004 in Magdeburg.
Die kleine Initiativgruppe um Ehrholdt trifft sich im Gastraum einer Burger-Kette in Magdeburg für organisatorische Absprachen. Facebook, Instagram oder Twitter existieren nicht. Zugang zu den Medien haben Ehrholdt und seine Mitstreiter*innen nicht. Sie setzen für die Mobilisierung zu den Montagsdemonstrationen auf das Prinzip der Mund-zu-Mund-Propaganda, wie man sich in der DDR weitersagte, wenn in einem Laden begehrte, aber knappe Ware zu haben war.
In den ersten Wochen im Juli kamen zwischen 50 und 80 Teilnehmende zu der Demonstration durch die Magdeburger Innenstadt. Dann werden es von Woche zu Woche mehr, bis es im August auf dem Höhepunkt der Proteste allein in Magdeburg über 30.000 Menschen sind. Andreas Ehrholdt ist kein Mann großer Worte. Die Forderungen passen auf einen A5-Zettel: Weg mit Hartz IV und Vermögensschutz für die von der Neuregelung der Leistungen betroffenen Erwerbslosen. Ehrholdt ist der Impulsgeber, nicht der Wortführer.
Er ist der Mann des Moments im Sommer 2004 in Magdeburg.
Das demokratisiert den Protest. So kommen bei den wöchentlichen Demonstrationen nicht in erster Linie Verbandsvertreter, Gewerkschaftsfunktionäre oder Politiker zu Wort, sondern Frauen und Männer, die bis zur Wende in den zahlreichen Industriebetrieben Magdeburgs gearbeitet haben; die alte DDR-Arbeiteraristokratie: die Facharbeiterschaft. Die Skepsis der Teilnehmenden gegenüber den Strukturen des westdeutschen Korporatismus ist auf den Demonstrationen mit Händen zu greifen. Gewerkschaften und Parteien sehen sich in die Zuschauerrolle gedrängt.
Zeitweise werden sie für unerwünscht erklärt. Die westdeutsche Linke zeigt sich fasziniert von der Wucht des Protests, und zugleich davon irritiert, dass er so gar nicht in ihre politischen Raster passt. Gespräche zwischen den Demonstrierenden und angereisten westdeutschen Bewegungsaktivist*innen scheitern. Man hat einander nichts zu sagen, kann sich nicht verständigen. Neonazis und die maoistische MLPD wenden ihre erprobte Taktik politischer Okkupation sozialer Bewegungen an, die jedoch weitgehend ins Leere geht. Die Leute wollen keine Ideologie-Cocktails der Weltdeutung, sondern konkrete Lösungen für konkrete Fragen: Kann ich meinen Schrebergarten behalten, wenn ich ALG2 beziehe? Diese und andere Fragen kann nur die rot-grüne Regierung in Berlin beantworten. In diesem Protestsommer geht es dort darum, wie scharf die Restriktionen für künftige ALG2-Empfänger*innen ausfallen werden. Wenn es nach Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, damals SPD und erst recht der CDU-Opposition geht, sollen die Daumenschrauben angezogen werden. Dem Protest in Ostdeutschland zeigt Clement die kalte Schulter. Er ist entschlossen, ihn auszusitzen. In gewisser Hinsicht mit Erfolg.
Andreas Ehrholdt ist für die Medien ein unbeschriebenes Blatt mit DDR-Biografie, die widersprüchlicher nicht sein könnte. Der arbeitslose ehemalige Transportarbeiter war in der SED gewesen, verfolgte zeitweilig eine Karriere in der NVA, schmiss hin, stellte einen Ausreiseantrag aus der DDR und flog aus der SED. Im Sommer 1989 floh er wie viele andere DDR-Bürger über Budapest in die Bundesrepublik, kehrte wenige Wochen später zurück. Im vereinigten Deutschland orientiert er sich politisch neu, ist zeitweilig Mitglied der CDU und kandidiert später für die bedeutungslose Mittelstandspartei bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt.
Durch seine Biografie der Transformationsjahre zieht sich die Erfahrung, die viele Ostdeutsche damals teilen: Unsicherheit, Erwerbslosigkeit, mehrfache Anläufe in der Selbstständigkeit wieder auf die Beine zu kommen. Ohne Erfolg. Mit dem, was die rot-grüne Regierung mit Hartz IV plant, sieht er seine Existenz bedroht.
Die von ihm ins Leben gerufenen Hartz-IV-Proteste werden im Sommer 2004 das große politische Thema. Ehrholdt wird von Parteien und Medien heftig umworben. Doch die von ihm initiierte Protestbewegung verliert schon Ende September an Dynamik und ebbt danach ab. Dass die Hartz-IV-Proteste zum Ausgangspunkt des Gründungsprozesses der Partei Die Linke wird, hat mit Andreas Ehrholdt nur noch wenig zu tun, auch wenn er später Mitglied dieser Partei wird. Die Regie haben inzwischen die Politprofis Gysi und Lafontaine übernommen.
Der von Ehrholdt entscheidend geprägte Protest gegen Hartz IV war der letzte kollektive Versuch der DDR-Facharbeiterschaft, sich der ökonomischen und soziokulturellen Entwertung ihres Lebens und Arbeitens politisch entgegenzustellen, in dem sie quer zu den bundesdeutschen Institutionen und seinen Ritualen des Protests gesellschaftliche Partizipation einforderten. Andreas Ehrholdt setzte auf Solidarität, auf Würde, auf Selbstermächtigung und war überzeugt, ein Kräftemessen mit der Bundesregierung vom Osten aus gewinnen zu können.
Am 25. Mai 2023 ist Andreas Ehrholdt von der Öffentlichkeit und der politischen Linken weithin vergessen in Gerwisch bei Magdeburg verstorben.