Hongkong Blackout
Hongkonger Anarchist*innen über den Widerstand gegen das Auslieferungsgesetz
Von CrimethInc.
Ein Generalstreik, zwei Flughafen- und unzählige Straßenblockaden, Woche für Woche Hunderttausende, an manchen Tagen mehr als eine Million Menschen auf den Straßen, dazu ein erstaunliches Niveau der Selbstorganisierung und politischen Massenkreativität. Seit Juni halten die Proteste gegen das geplante – und mittlerweile von Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam auf Eis gelegte – Auslieferungsgesetz die Sieben-Millionen-Metropole Hongkong in Atem. Mit dem Gesetz will Peking seinen Zugriff auf die Sonderverwaltungszone erhöhen, so viel ist bekannt, inzwischen droht China mit einem Militäreinsatz, die Gewalt gegen Demonstrant*innen nimmt zu. Was steht hinter dem Protest? CrimethInc.com veröffentlichte Ende Juni ein langes Interview mit Hongkonger Anarchist*innen, die ihre Beobachtungen aus der Anfangsphase der Revolte schildern und den Protest einem westlichen linken Publikum zu erklären versuchen. Eine auszugsweise Übersetzung.
Ein Merkmal der Proteste in Hongkong ist, dass – bisher – das, was passiert ist, nicht wirklich als »Bewegung« beschrieben werden kann. Anders als bei den »Regenschirm-Protesten« von 2014 gibt es keine Leiterzählung, die bestimmte Handlungen autorisiert und andere verbietet. Bisher ist niemand legitimiert, im Namen der Bewegung zu sprechen. Jeder ringt darum, die neue Form der Subjektivität zu begreifen, die vor unseren Augen Gestalt annimmt.
Wie sieht diese embryonale Form der Subjektivität aus, welche Umstände bringen sie hervor? Unsere Beobachtungen sind vorläufig. Wichtig scheint uns, dass die anerkannten Protagonist*innen früherer Protestzyklen, darunter politische Parteien, Studentenbewegungen, rechte und populistische Gruppen, besiegt oder diskreditiert wurden. Das betrifft die liberale, »pro-demokratische« Studentenbewegung, die heute als Demosisto bekannt ist (1), ebenso wie rechte »Nativisten« (2).
Bei unserer Lektüre linksradikaler Social Media aus dem Westen haben wir festgestellt, dass Intelligenz und Neugier häufig dem Hang, einen Kampf sofort einzuordnen, zum Opfer fallen. Viele »Kommentare« tendieren zu einem von zwei Polen: leidenschaftliches Abfeiern der Macht proletarischer Intelligenz oder zynische Denunziation ihrer populistischen Vereinnahmung. Keiner von uns kann die Spannung gut ertragen, sein Urteil über etwas, das sich außerhalb unseres Horizonts abspielt, aufschieben zu müssen. Wir beeilen uns, jemanden zu finden, der die nebulösen Informationen in einer Weise ordnet, die wir verstehen und verdauen können – damit wir unsere Unterstützung oder Ablehnung erklären können.
Welche Rolle spielt die Linke?
Wenn wir »die Linke« als einen politischen Akteur verstehen, der Fragen von Arbeit und Klassenkampf in den Mittelpunkt stellt, ist nicht ganz sicher, ob so etwas in Hongkong überhaupt existiert. Natürlich gibt es ausgezeichnete Blogs, kleine Gruppen und dergleichen. Sicherlich spricht jeder von der Ungleichheit, der grassierenden Armut, der Tatsache, dass wir alle Arbeiter*innen sind, die ums Überleben kämpfen. Aber wie fast überall sonst ist die primäre Form der Subjektivität und Identifikation die Idee der Staatsbürgerschaft in einem nationalen Rahmen. Diese imaginäre Zugehörigkeit beruht auf dem Gegensatz zum und derAbgrenzung vom Festland. Man kann sich die Qualen kaum vorstellen, die es bedeutet, ständig die nervtötenden »Ich bin Hongkonger, kein Chinese«-Shirts in der U-Bahn sehen oder auf Demonstrationen Stunden um Stunden »Hongkonger: Öl nachfüllen!«-Gesänge (was im Wesentlichen aussagen soll: »Alles super, weiter so!«) ertragen zu müssen.
In Hongkong hat das Wort »links« zwei Konnotationen. Für die Generation unserer Eltern und Großeltern bedeutet »links« natürlich kommunistisch. Deshalb kann sich »links« auf einen Geschäftsmann beziehen, der Parteimitglied ist, oder auf einen etablierten, notorisch pro-chinesischen Politiker. Für jüngere Menschen ist das Wort »links« ein Stigma, das mit einer Generation von Aktivist*innen verbunden wird, die in die sozialen Kämpfe des ersten Jahrzehnts der 2000er Jahre involviert waren – gegen den Abriss des Queen’s Ferry Pier im Zentrum etwa oder gegen den Bau des Hochgeschwindigkeitszuges durch den Nordosten von Hongkong nach China – die allesamt mit demoralisierenden Niederlagen endeten.
Diese Bewegungen wurden oft von Sprecher*innen – meist Künstler*innen oder NGO-Vertreter*innen – angeführt, die taktische Allianzen mit Progressiven in der pan-demokratischen Bewegung schlossen. Die Niederlage dieser Bewegungen, die auf ihren Unwillen zu direkte Aktionen und ihre Zurückhaltung bei Verhandlungen mit den Behörden zurückzuführen ist, wird dieser Aktivistengeneration nun angelastet. All die Wut und der Frust der in dieser Zeit aufgewachsenen jungen Menschen haben sich mit der Zeit zu einer Orientierung nach rechts verfestigt. Selbst Schüler- und Studentenorganisationen, die traditionell mitte-links und fortschrittlich waren, sind nun offen nationalistisch. Ein entscheidender Grundsatz dieser Generation ist der Fokus auf direkte Aktionen und die konsequente Ablehnung von »Kleingruppendiskussionen«, »Konsensprinzip« und dergleichen.
Der Hongkong-Mythos
Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass der Gründungsmythos dieser Stadt darin besteht, dass Dissident*innen vor der kommunistischen Verfolgung geflohen sind, um eine Oase des Reichtums und der Freiheit zu erbauen, geschützt durch die Herrschaft des Rechtsstaats. Man könnte daher ganz banal sagen, dass viele in Hongkong sich ohnehin als in Rebellion begriffen verstehen – durch ihre Lebensweise, durch die Freiheiten, die sie genießen – und dass sie diese Identität, so hohl sie sein mag, als einen Besitz betrachten, der um jeden Preis verteidigt werden muss.
Unnötig zu erwähnen, dass ein Großteil des tatsächlichen »Reichtums« dieser Stadt – seine interessantesten (und oft ärmsten) Viertel, die informellen Clubs, Studios und Unterkünfte, das Ackerland in den Nordost-Territorien etc. – geplündert und Stück für Stück von staatlichen und privaten Bauunternehmer*innen zerstört wird, was diese entrüsteten Bürger*innen mit schallender Gleichgültigkeit quittierten.
Obwohl die Mehrheit derer, die sich am Kampf beteiligen, Lohnabhängige sind, betrachten viele die freie Marktwirtschaft als zentrales Merkmal der kulturellen Identität Hongkongs.
Obwohl die überwiegende Mehrheit der Menschen, die sich am Kampf beteiligen, Lohnabhängige sind – Proletarier*innen, deren Leben ihnen durch seelenlose Jobs gestohlen wird, die immer mehr von ihrem Lohn für Mieten ausgeben müssen, die durch Gentrifizierungsprojekte von Staatsbeamt*innen und privaten Immobilienunternehmen (was oft dasselbe ist) immer weiter in die Höhe schießen – muss man sich vor Augen halten, dass die »freie Marktwirtschaft« von vielen als zentrales Merkmal der kulturellen Identität Hongkongs angesehen wird. Im Gegensatz zum von der Kommunistischen Partei verwalteten »roten« Kapitalismus. Was derzeit in Hongkong existiert, ist für einige Menschen bei weitem nicht ideal; wenn man »die Reichen« sagt, ruft das jedoch Bilder von Tycoon-Kartellen und Monopolen auf, von Speichelleckern, die einen Pakt mit der Partei geschlossen haben, um sich vom Blut der Armen zu nähren.
So, wie viele Menschen hier leidenschaftlich für eine Regierung sind, die »wirklich unsere eigene« ist – einschließlich der Polizei -, wünschen sie sich auch einen Kapitalismus, der »wirklich für uns« arbeitet: einen Kapitalismus frei von Korruption, politischer Schikane und dergleichen.
Hongkong ist eine Stadt, die Unternehmertum und Privatwirtschaft vehement verteidigt und Überlebenskampf als den Modus versteht, wie man seinen Lebensunterhalt bestreitet. Dieses Verständnis des Lebens als Überleben ist in unserer Sprache allgegenwärtig. Wenn wir von »arbeiten« sprechen, verwenden wir einen Begriff, der wörtlich bedeutet, nach unserer nächsten Mahlzeit zu suchen. Das erklärt auch, warum sich Demonstrant*innen so viel Mühe geben, die arbeitende Bevölkerung nicht durch Maßnahmen zu verschrecken wie Blockade einer Straße, auf der Busse Pendler*innen nach Hause transportieren.
Barrikaden und Blockaden
Neu in der aktuellen Situation ist, dass viele Menschen akzeptieren, dass Solidarität mit dem Kampf, auch wenn sie nur geringfügig ist, zur Verhaftung führen kann. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass wir eine Generation erleben, die auf Inhaftierung vorbereitet ist. Gleichzeitig gibt es keine Diskussion darüber, was Staat und Recht eigentlich sind, wie sie funktionieren oder welche Legitimität Polizei und Gefängnisse als Institutionen haben. Die Menschen haben einfach das Gefühl, dass sie über das Gesetz hinausgehen müssen – um die Heiligkeit des Gesetzes vor korrupten Kommunisten zu schützen.
Barrikaden sind etwas ganz normales geworden und werden schnell und routiniert errichtet. Allerdings schleicht sich das Gefühl ein, dass Besetzungen anstrengend und letztlich ineffizient sind. Interessant ist, dass die Leute wirklich viel Zeit damit verbringen, darüber nachzudenken, was »funktioniert«, was den geringsten Aufwand erfordert und den maximalen Effekt erzielt, wenn es darum geht, Teile der Stadt lahmzulegen oder den Verkehr zu unterbrechen. Dass sie sich nicht mehr fragen, was die größte moralische Wirkung auf eine imaginäre »Öffentlichkeit« haben könnte, die die Ereignisse zu Hause vom Sofa aus verfolgt.
Barrikaden sind etwas ganz normales geworden und werden schnell und routiniert errichtet.
Es zirkulieren viele Vorschläge für »nicht-kooperative« Aktionen wie die Störung einer ganzen U-Bahn durch die koordinierte Verstopfung der Wagen (mit Personen und Gepäck) oder die Auflösung von Bankkonten und das Abheben großer Geldsummen, um Inflation zu erzeugen. Das mag nicht nach viel klingen, aber interessant ist die unermüdliche Verbreitung von Vorschlägen dafür, wie Menschen dort, wo sie leben oder arbeiten, eigeninitiativ handeln können, statt sich »den Kampf« nur als etwas vorzustellen, das von maskierten, körperlich fitten jungen Menschen auf der Straße ausgetragen wird.
Diese gewaltige Übung in kollektiver Intelligenz ist unglaublich beeindruckend – eine Aktion kann in einer Messengergruppe oder einem anonymen Thread vorgeschlagen werden, ein paar Leute organisieren sich, dann wird es ohne großes Hin und Her gemacht. Aktionsformen werden ausprobiert, modifiziert und verbreiten sich weiter.
Daneben gibt es natürlich auch Threads, die die Ablehnung des Auslieferungsgesetzes durch das Weiße Haus feiern. Es ist ein offenes Geheimnis, dass verschiedene prodemokratische NGOs, Parteien und Think Tanks Finanzmittel aus den USA erhalten. Es gab auch eine wirklich verrückte Petition auf Facebook, die das Weiße Haus zu einer militärischen Intervention auffordert. Mit ziemlicher Sicherheit würde man solche Dinge in jedem Kampf dieser Größenordnung in jeder nicht-westlichen Stadt finden. Es sind Randerscheinungen, nicht die treibenden Kräfte hinter den Ereignissen.
Alles, was wir geschrieben haben, zeigt, wie sich der Kampf derzeit der Kontrolle aller etablierten Gruppen, Parteien und Organisationen entzieht. Er hat enorme Ausmaße erreicht und eine große Bandbreite von Akteuren hineingezogen. Niemand weiß sicher, wie sich das Gesetz tatsächlich auswirken wird. Selbst die Einschätzungen professioneller Anwält*innen variieren stark. Wenn man die Message Boards durchliest, könnte man meinen, dass schon dissidente Onlineäußerungen oder Textnachrichten an Freund*innen auf dem Festland zur Auslieferung führen könnten. Das ist nicht der Fall, jedenfalls steht das nicht im Gesetz. Aber die Ereignisse der letzten Jahre – Buchhändler*innen, die wegen des Verkaufs von auf dem Festland verbotenen Publikationen verschwunden sind, oder Aktivist*innen, die beim Überschreiten der Grenze festgenommen wurden – bieten wenig Anlass, einer Partei zu vertrauen, die Anklagen zusammenzimmert und das Gesetz missachtet, wann immer es ihr in den Kram passt.
Seit so langer Zeit sind Phantasmen der Antrieb für soziale Kämpfe in dieser Stadt – das Phantasma einer nationalen Gemeinschaft: urban, freidenkerisch, zivilisiert; das Phantasma demokratischer Wahlen. Wann immer diese affirmativen Phantasmen gefährdet werden, werden sie verteidigt und in der Öffentlichkeit inszeniert, und die Verkaufszahlen für »I Am Hongkonger« gehen durch die Decke. Alles, was wir als Kollektiv tun können, ist, diese Phantasmen zu untergraben, die Leere ihres Versprechens vorzuführen.
Zu diesem Zeitpunkt fühlt es sich surreal an, dass jeder und jede um uns herum so sicher zu sein scheint, was zu tun ist – das Gesetz mit allen verfügbaren Mitteln bekämpfen -, während die Gründe dafür hoffnungslos unklar bleiben. Doch auf so viele Arten ist das, was gerade geschieht, eine Erfüllung dessen, wovon wir seit Jahren geträumt haben.
Viele beklagen den »Mangel an politischer Führung«, aber die Wahrheit ist, dass diejenigen, die es gewohnt sind, Protagonist*innen von Kämpfen zu sein, einschließlich uns selbst als Kollektiv, von den Ereignissen überholt wurden. »Die Öffentlichkeit« handelt überall um uns herum, tauscht Techniken aus, entwickelt Wege, um der Überwachung zu entgehen, um nicht verhaftet zu werden. Man kann jetzt an einem Nachmittag mehr über die Bekämpfung der Polizei lernen als sonst in einigen Jahren.
Der Text basiert auf einem Interview mit einem anarchistischen Kollektiv aus Hongkong, das Ende Juni unter dem Titel »Anarchists in the Resistance to the Extradition Bill« auf crimethinc.com erschien. Es ist stark gekürzt und redaktionell überarbeitet.
Übersetzung: Jan Ole Arps
Anmerkungen:
1) Demosisto tritt für die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung Hongkongs ein. Die Partei wurde 2016 als Nachfolgeorganisation der Studentenbewegung »Scholarism« gegründet, die eine wichtige Rolle in den Regenschirm-Protesten von 2014 gespielt hatte. Scholarism-Gründer Joshua Wong ist heute Generalsekretär von Demosisto. Bei den Wahlen zum Hongkonger Legislativrat 2016 gewann die Partei mehrere Sitze, verlor sie aber im Zuge einer Kontroverse bei der Vereidigung wieder. Wong und der Parteivorsitzende Nathan Law wurden im August 2017 zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt.
2) Auch die nationalistische »nativistische« Strömung reihte sich nach anfänglichem Zögern in die Proteste von 2014 ein und forderte einen konfrontativeren Kurs gegenüber China. Zu den Legislativratswahlen 2016 traten nativistische Gruppen in einem Wahlbündnis an und konnten mehrere Sitze gewinnen. Ihre Vertreter*innen verloren die Sitze jedoch ebenfalls, als sie den Amtseid verweigerten oder durch eigene Formulierungen konterkarierten.