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»Heute ist nichts mehr so wie damals«

Khaled Bawer hat als PKK-Kämpfer in den 1980er Jahren im Libanon-Krieg gekämpft, geriet in israelische Gefangenschaft und hat den Aufstieg der Hamas miterlebt – wie blickt er heute darauf? 

Interview: Tim Krüger

Landschaftsaufnahme an der Küste. Zu sehen ist eine Stadt mit mehreren Gebäuden, zwischendruch Palmen und andere Bäume. In der Mitte steigt Rauch vom Einschlag eines Projektils.
1982 fiel Israel in das benachbarte Libanon ein. Foto: תא"ל ניר מאור מוזיאון ההעפלה וחיל הים / Clandestine Immigration and Naval Museum / Wikimedia , CC BY-SA 3.0

Anfang der 1980er Jahre befanden sich Mitglieder der damals noch jungen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Libanon als 1982 der Libanon-Krieg begann, mit dem Israel unter anderem das Ziel verfolgte, die im Libanon ansässige Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) zu zerschlagen. Unter den PKK-Mitgliedern, die sich damals den Kämpfen gegen die israelische Intervention anschlossen, war Khaled Bawer. Später beobachtete er den Aufstieg von Hamas und Hisbollah. Wie er auf die aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten blickt, erzählt Bawer im Interview. 

Am 6. Juni 1982 begann die israelische Armee mit einer großangelegten Invasion im Südlibanon. Unter den palästinensisch-libanesischen Widerstandseinheiten, die sich dem Vormarsch entgegenstellten, waren auch Kämpfer der PKK, darunter du selbst. Wie kam es dazu?

Khaled Bawer: Im Jahr 1979 hatte sich die PKK in ganz Nordkurdistan ausgebreitet und war im Übergang zu einer bewaffneten Bewegung begriffen. Nachdem die ersten Guerillaeinheiten aufgebaut waren, erkannte der türkische Staat darin eine Gefahr und begann in ganz Kurdistan mit breit angelegten Operationen. Sowohl die Städte als auch die ländlichen Regionen wurden mit Militär überzogen. Unsere Bewegung erlitt schwere Verluste. Wir waren damals noch eine relativ neue Organisation und hatten keine breite Verankerung in der Bevölkerung. Ein bedeutender Teil unserer Kader starb in diesen Jahren entweder im Gefecht oder wurde gefangen genommen. Unsere Führung um Abdullah Öcalan erkannte damals die Gefahr, dass wir als Bewegung in die Vernichtung steuern würden, wenn sich nichts änderte. Wir mussten uns militärisch, organisatorisch und politisch vorbereiten. Dafür brauchte es ein geeignetes Rückzugsgebiet – Palästina schien damals am passendsten.

Warum Palästina?

Schon in den Jahren zuvor war die palästinensische Bewegung zu einem Anlaufpunkt für Revolutionär*innen aus der ganzen Welt geworden. Von Lateinamerika bis nach Asien und Afrika standen Bewegungen damals mit den Palästinenser*innen im Austausch und gingen hin, um sich auszubilden. Unsere Führung überquerte daher im Sommer 1979 bei Kobanê die Grenze nach Syrien und machte sich auf den Weg, um Kontakt zu den linken und revolutionären Organisationen der palästinensischen Bewegung aufzubauen. Damals gab es zum Beispiel die Demokratische Front (DFLP) und die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP). Nachdem der Kontakt aufgebaut war, kamen die ersten Genoss*innen aus Kurdistan in die Ausbildungslager im Libanon. 

Khaled Bawer

zählt zu den Veteranen der kurdischen Freiheitsbewegung. Zu Beginn der 1980er Jahre schloss er sich der PKK an und setzt bis heute, auch im hohen Alter, seinen Kampf für die Rechte von Kurd*innen fort. 

Wie können wir uns die Zusammenarbeit mit den palästinensischen Organisationen vorstellen?

Ich selbst bin erst 1981 im Libanon dazugestoßen. Als ich ankam, gab es schon ein etabliertes System von Lagern zur politisch-ideologischen aber auch technisch-militärischen Ausbildung. Es gab auch schon erste Gruppen, die ihre Ausbildung abgeschlossen hatten und nach Nordkurdistan zurückgekehrt waren, bevor unsere Gruppe in den Libanon aufbrach. Unter ihnen waren auch Gründungsmitglieder der Bewegung, wie Kemal Pir, der spätere erste Kommandant der Guerilla, Mahsum Korkmaz und Delil Doğan, der wenig später 1980 beim Versuch, erste Guerillaeinheiten aufzubauen, ums Leben kam. Nach unserer Ankunft wurden wir direkt in das Ausbildungssystem aufgenommen. Unsere Genoss*innen wurden grüppchenweise zu den unterschiedlichen palästinensischen Organisationen gesandt und in ihren Stützpunkten einquartiert. Unsere Gruppe war bei der Fatah. Bei uns war alles soweit gut verlaufen – bis zum 6. Juni 1982, als Israel im Südlibanon einmarschierte.

Welche Auswirkungen hatte das?

Die palästinensische Bewegung verfügte innerhalb Palästinas bzw. Israels über keine besonders starken Kräfte. Sie hatten zwar einzelne Zellen im Untergrund, aber nichts, das einer starken Guerillaarmee glich. Die Hauptkraft der Bewegung war im Libanon. Israel hatte es sich zum Ziel gemacht, diese vollständig zu liquidieren. Daran beteiligten sich auch mit Israel kollaborierende Kräfte, wie die faschistische christliche Phalange-Miliz. Wir befanden uns zu Beginn des Krieges mit unserer Gruppe nahe der israelischen Grenze. Als der Krieg losging, zogen wir auch ins Gefecht. Das war völlig selbstverständlich für uns und stand außer Frage. Unmittelbar nach Kriegsausbruch waren wir drei Tage lang von einer unserer Gruppen abgeschnitten. Wir erfuhren dann, dass neun Genossen im Kampf gefallen waren. Unsere Bewegung errichtete später für sie einen Friedhof im Mahsum-Korkmaz-Lager. Mit ungefähr drei Gruppen gerieten wir kurz darauf in Kriegsgefangenschaft.

Wie waren die Bedingungen in der israelischen Kriegsgefangenschaft?

Vermutlich nicht viel anders als in anderen Staaten auch. Wir können nicht sagen, dass sie besonders sanft mit uns umgegangen sind. Aber das wussten wir auch schon vorher. Uns allen war bekannt, was der türkische Staat mit Kadern der Bewegung machte, wenn er sie zu fassen bekam. Wir hatten ähnliches auch dort erwartet und uns dementsprechend vorbereitet. Der türkische Staat versuchte, durch systematische Folter den Willen der Kader zu brechen, sie zur Reue zu bekehren, politisch in die Knie zu zwingen und von der Bewegung zu entfernen. Die, bei denen sie keinen Erfolg hatten, wurden auch physisch vernichtet. Ich will damit nicht sagen, dass wir dieselbe Brutalität wie die Gefangenen im Kerker von Diyarbakir durchstehen mussten, aber sie behandelten uns hart. Doch wir überstanden es alle gut. Nach einiger Zeit gab es Gefangenenaustausche, und viele Ausländer wurden entlassen. Wir kamen dann alle nacheinander raus. Manche sind direkt nach Syrien, andere nach Griechenland und von dort mit dem Flieger weiter. 

Hättet ihr euch nicht auch anders entscheiden können als der Krieg begann? 

Es gibt einige Menschen, die unserem Kampf mit Unverständnis begegnen und fragen: »Warum habt ihr für die Palästinenser*innen so viel auf euch und sogar den Tod in Kauf genommen?« Ich kann dazu nur sagen: Wir mussten. Im Verständnis der revolutionären Moral ist es eine historische Schuld, ein Verbrechen, wenn man seine Genoss*innen einfach zurücklässt. Wir waren die Genoss*innen der Palästinenser*innen und die Palästinenser*innen waren unsere Genoss*innen. Einfach nur dazustehen oder sich zurückzuziehen wäre völlig undenkbar gewesen.

Wie ging es nach dem Krieg weiter?

Nach dem Krieg gab es große Veränderungen in der palästinensischen Bewegung. Es kam zu Spaltungen und Konflikten, die Hamas entstand neu. Zugleich wurden die revolutionären und sozialistischen Bewegungen nach und nach aus Palästina und dem Libanon verdrängt. Die Fatah hat man am Ende dazu gebracht, alle Abkommen mit Israel zu unterzeichnen. Ich möchte ihr nicht vorwerfen, vollständig kapituliert zu haben, aber es ist ein Fakt, dass die Fatah in gewisser Weise in das israelische System integriert wurde. Auch die Türkei und das Regime von Saddam Hussein bauten damals Kontakt mit ihr auf und versuchten, sie unter ihre Kontrolle zu bringen.
Nach dem Krieg von 1982 konnte die palästinensische Bewegung nicht länger ihre vorherige Rolle als Zufluchtsort für Revolutionär*innen aus der ganzen Welt spielen. Unsere Bewegung blieb im Libanon, aber wir hatten danach eher Kontakt mit Syrien. Unsere Akademie, die Mahsum-Korkmaz-Akademie, lag ziemlich genau auf der syrisch-libanesischen Grenze. Bis in die 1990er Jahre hinein waren wir dort aktiv. Der Libanon hielt still, als wir aber in den 1990er Jahren abzogen, löschte der libanesische Staat alle Überbleibsel von uns dort aus, einschließlich des Friedhofs, den wir für unsere gefallenen Genossen errichtet hatten.

Was denkst du über die heutige Situation?

Die palästinensische Bewegung heute ist nicht mehr dieselbe wie früher. Die Fatah in der Westbank ist von Israel umzingelt und abhängig. Währenddessen ist die Hamas stärker in den Vordergrund getreten. Ich erinnere mich: Als 1987 die Hamas gegründet wurde, sagten alle, das ist keine normale Bewegung, das sind keine Revolutionär*innen. Manche behaupteten, sie würden mit Israel zusammenarbeiten oder gar finanziert, um die anderen Bewegungen zu zerschlagen. Tatsächlich verhielt die Hamas sich gegenüber den anderen revolutionären Bewegungen wie eine »Konterguerilla«-Organisation. Die Genoss*innen warnten uns schon damals, uns von dieser Organisation fernzuhalten.

Mittlerweile sind über 30 Jahre vergangen, und die Hamas hat es geschafft, sich zu etablieren und zu organisieren. In den letzten 20 Jahren, seit dem Amtsantritt der AKP, unterhält die Hamas auch enge Beziehungen zur Türkei. So wie die Hamas in Palästina, hat die Türkei auch in Syrien oder Ägypten die Organisationen und Ableger der Muslimbruderschaft, die brutal gegen die revolutionären Bewegungen in den Ländern vorgegangen sind, unterstützt und gestärkt. Mit dem sogenannten Arabischen Frühling ist es diesen Gruppen, die mit der Türkei operieren, gelungen, sich stärker in den Vordergrund zu drängen. Am Ende ist daraus zum Beispiel in Syrien der Islamische Staat hervorgegangen.

Nach dem Angriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober hat sich die Lage der Palästinenser*innen extrem verschlechtert. Auch wenn der Krieg heute gestoppt werden würde, wie sollen die Menschen in Gaza noch leben, wo die grundlegendste lebensnotwendige Infrastruktur zerstört ist? Für die Hamas hat sich dabei erst einmal nicht so viel verändert. Natürlich hat sie Verluste, aber den schwersten Schlag musste das palästinensische Volk erleiden. Diesem wiederum fühlen wir uns als Revolutionär*innen weiterhin verpflichtet.

Es führt kein Weg an einer Perspektive des gleichberechtigten Zusammenlebens in der Region vorbei. Das gilt für die Bevölkerungen der arabischen Staaten, aber natürlich auch für das israelische Volk.

Was sagst du dazu, dass auch Einheiten der PFLP und DFLP an den Angriffen und Massakern der Hamas beteiligt gewesen sind? 

Die genannten Bewegungen wurden nach 1982 massiv geschwächt, sind aber nicht grundsätzlich von ihrer Denkweise und Ideologie abgewichen. Es gibt also schon einen Unterschied zwischen ihnen und der Hamas, die eine islamistische Organisation ist. Dass sie heute zusammenarbeiten, hängt damit zusammen, dass die palästinensischen Organisationen eine Art »nationales Bündnis« eingegangen sind. Anders kann ich mir die Zusammenarbeit nicht erklären. Wir müssen die Frage stellen, was das Ergebnis dessen ist. Hat jemand wirklich davon profitiert? Ja, Israel ist international isoliert. Aber die Palästinenser*innen haben in diesem Krieg Hunderttausende Verletzte und mehr als 40.000 Tote zu beklagen. Was man täglich in den Nachrichten sieht, ist schwer zu ertragen. Israel trägt die Hauptschuld für die Massaker, die seine Armee an den Palästinener*innen begeht und sollte dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Doch auch der Angriff, den die Hamas begangen hat, darf nicht außer Acht gelassen werden. Am Ende hat die palästinensische Bevölkerung am meisten verloren.

Nun ist die Lage aber äußerst festgefahren und die Fronten sind mehr als verhärtet. Wie könnte denn deiner Meinung nach eine aktuelle Lösung für die palästinensische Frage aussehen?

Zuallererst muss die nationalistische Mentalität bei Seite gelegt werden – es braucht ein neues Paradigma. Es führt kein Weg an einer Perspektive des gemeinsamen und gleichberechtigten Zusammenlebens aller Völker der Region vorbei. Das gilt für die Bevölkerung der umliegenden arabischen Staaten, aber natürlich auch für das israelische Volk. Seit über 70 Jahren wird für das Ziel eines Staates auf dem vollständigen Territorium Palästinas gekämpft, doch ich denke, dass dieses Konzept zu einer weiteren Vertiefung des Krieges führen wird. Was es dagegen heute dringender denn je braucht, ist ein Friedensschluss. Man sollte über Dinge nachdenken, die jetzt erreichbar und umsetzbar sind und das Leben der Menschen verbessern. Solange gesagt wird »wir werden ganz Israel vernichten« und Israel sagt »wir werden alle Palästinenser vernichten«, ist eine Lösung undenkbar. Mit Vernichtung gibt es keine Lösung und keinen Frieden. Diese Mentalität muss überwunden werden.

Tim Krüger

ist Aktivist und freier Journalist und berichtet über die Konflikte und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen im Mittleren Osten, Afrika und anderen Teilen der Welt.