§219a vor Gericht
149 Jahre kämpfen Frauen schon gegen die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen - jetzt zum letzten Mal?
Von Anne Meerpohl
Im Rückblick auf das Jahr 2019 ist in der Debatte rund um Schwangerschaftsabbrüche und reproduktive Rechte sehr viel und sehr wenig passiert. Es gab viele feministische Proteste, jede Menge neue Beiträge in aktivistischer und schriftlicher Form und eine große mediale Aufmerksamkeit rund um den Paragrafen 219a. Allerdings wurde auch das Wenige, das Regressive vielfältig dokumentiert. Nämlich die vielen aufgeschreckten Stimmen, die Begriffe wie »Babycaust« in den Mund nehmen, die ebenfalls auf die Straße gehen, laut sind und das Erstarken einer antifeministischen Bewegung markieren. Das Wenige ist auch der Ausgang der Gesetzesreform des §219a im Februar letzten Jahres. Sie soll erlauben über die Tatsache, dass Schwangerschaftsabbrüche in einer Praxis durchgeführt werden, zu informieren. Doch darüber zu informieren wie ein Abbruch vorgenommen werden kann, bleibt weiterhin illegal. Beispielhaft für die Folgen dieser Illegalisierung steht der Fall der Berliner Gynäkologin Bettina Gaber. Sie informierte auf ihrer Webseite: »Auch ein medikamentöser, narkosefreier Schwangerschaftsabbruch in geschützter Atmosphäre gehört zu unseren Leistungen.« Nach zahlreichen Anzeigen antifeministischer Männer, wurde sie Ende November 2019 zu einer Geldstrafe von 2000 Euro rechtskräftig verurteilt. Nun zieht Gaber gegen den reformierten Paragrafen 219a vor das Bundesverfassungsgericht.
Gesetze aus Kaiserreich und Nazizeit
Mit der Bismarckschen Reichsverfassung im Jahr 1871 wurde erstmals der §218 eingeführt, der Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich unter Strafe stellt. Begleitet wurde die Einführung dieses Paragrafen von starken Protesten und öffentlichen Debatten, in denen seine Nichteinführung beziehungsweise seine Abschaffung gefordert wurden. Im Nationalsozialismus wurde §218 auf das Verbot von Werbung und Informationen (§219a) erweitert. Seitdem hat sich die Gesetzeslage wenig verändert. Es gibt zwar inzwischen die praktische Straffreiheit für Abbrüche innerhalb der ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft. Jedoch besteht der Straftatbestand im Allgemeinen fort. Er findet sich im Strafgesetzbuch eingereiht in die »Straftaten gegen das Leben« hinter Mord und Totschlag. Feministische Bewegungen haben seit jeher versucht diese Paragrafen zu kippen und einen gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit Schwangerschaften und ihrem Abbruch herbeizuführen. Es braucht eine Normalisierung und ein Klima der Akzeptanz. In der Begründung der Gesetzesnorm wird allerdings genau das befürchtet. Nicht nur die staatliche Aberkennung der Selbstbestimmung über den eigenen Körper ist eine konstante Motivation für Feministinnen das Thema auf der Tagesordnung zu halten. Auch die Beobachtung, dass antifeministische Positionen sich manifestieren, die mit dem Erstarken von rechten Ideologien in der Gesellschaft einhergegangen sind, bewegt mehr und mehr zum Handeln. Die Dramatisierung und Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen ist fester Bestandteil einer völkisch-nationalistischen Erzählung, die sich, gepaart mit rassistischen und heteronormativen Weltbildern, die Erhaltung einer Nation imaginiert. Dass bereits erstrittene Rechte und Gesetzgebungen durch rechte und konservative Kräfte wieder zurückgenommen werden könnten, stellt eine reale Gefahr dar. Akteure wie die AfD fordern sogar offensiv eine Verschärfung des §218. Selbsternannte Lebensschützer können bundesweit seit einigen Jahren einen Zuwachs in ihrer Anhängerinnenschaft verbuchen.
Antifeministische Hetzjagden und ein Reförmchen
Diese Tendenz hat spürbare Folgen. Der §219a soll die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche gering halten, denn wer sich nicht niedrigschwellig um einen Termin und weitere Informationen über den konkreten Vorgang kümmern kann, verwirft vielleicht den Gedanken an einen Abbruch. Auch der Umstand, dass es bundesweit nur sehr wenige Praxen und Beratungsstellen gibt, die mitunter viele Kilometer entfernt liegen, machen es den Betroffenen nicht leichter sich über ihre Möglichkeiten zu informieren. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Anzahl der medizinischen Einrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten, beinahe halbiert. Es herrscht eine unsichere Stimmung zu dem Thema und ob und wie über Schwangerschaftsabbrüche informiert werden darf. Den Anstoß für diese Verunsicherungen gab die erste Verurteilung der Gynäkologin Kristina Hänel 2017 in Gießen. Die Abtreibungsgegner Yannic Hendricks und Klaus Günter Annen hatten zuvor Anzeigen gegen zahlreiche Ärztinnen erstattet und regelrechte Verfolgungslisten von Ärztinnen erstellt. Die darauffolgenden Proteste gingen seit längerem mal wieder über die linksradikale, feministische Szene hinaus und wurden die größten Proteste zu dem Thema im 21. Jahrhundert. Trotzdem hat sich daraus nur eine lächerliche Reform entwickelt, wie von der GroKo nicht anders zu erwarten war. Die schwammigen Formulierungen in der Gesetzesnovelle wurden öffentlich als Erfolge verkauft und waren mit der Hoffnung verbunden, dass die Kritik an §218 und §219a mindestens mittelfristig verlaufen würde. Glücklicherweise haben sich die Hoffnungen der GroKo nicht erfüllt.
Auf dem Weg nach Karlsruhe
Kristina Hänel wurde im Dezember erneut zu 25 Tagessätzen à 100 Euro verurteilt. Ihre getwitterte Vermutung, dass Annen und Co. ihre Verfolgungslisten einfach recyclen können, ist berechtigt und wahrscheinlich. Doch ihre Verurteilung ebnet nun für sie den Weg, den ihre Kollegin Bettina Gaber bereits gegangen ist: Sie wird nun ebenfalls vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Denn die Berufs- und Äußerungsfreiheit sei mit §219a genauso eingeschränkt wie vor der Gesetzesnovelle und dementsprechend verfassungswidrig. In einer sogenannten Sprungrevision werden die zwischengelagerten Instanzen, die vermutlich zu gleichen Schlüssen kommen würden, übersprungen und der Paragraf soll einer Prüfung vor dem obersten Gericht unterzogen werden.
Die historischen Erfahrungen mit dem Umgang des Bundesverfassungsgerichtes mit §218 und §219a lässt aber wenig Raum für Optimismus. In den 1970er Jahren stoppte es zwei Mal eine verabschiedete Reform des §218, die die Fristenregelung, also den straffreien Abbruch in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft, ermöglichen sollte.
Ganz anders war es in der DDR: Dort beschloss die DDR-Volkskammer bereits 1972 das Gesetz »über die Unterbrechung der Schwangerschaft«. Erstmals durften Frauen in den ersten zwölf Wochen nun selbst über einen Abbruch entscheiden. Erst zwanzig Jahre später kam es in der BRD zu Lockerungen des §218 mit Einschränkungen. Es bleibt also fraglich, ob das Bundesverfassungsgericht die Pseudoreform von §219a für verfassungswidrig erklären wird. Sogar ob es sich überhaupt mit den Klagen beschäftigen wird ist unklar, denn die erste Hürde ist, dass die Klage in Karlsruhe überhaupt angenommen wird.
Nur noch dieses eine Mal?
Wenn die Klage angenommen wird, wird es spannend: Die Einschränkung der Berufsfreiheit durch die Zensur von medizinischen Hinweisen auf gynäkologischen Webseiten könnte weitgehender thematisiert werden und der Paragraf folglich neu ausgelegt werden. Demnach würden die Informationen als solche anerkannt, wie bei allen anderen medizinischen Vorgängen auch und nicht als Werbung diffamiert werden. Das wäre zumindest ein Trostpreis. Falls der §219a für verfassungswidrig und für nichtig oder nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt werden sollte, wäre das ein großer Sieg eines jahrzehntelangen feministischen Kampfes und ein Aufatmen für zahlreiche Gynäkolog*innen.
Es würde für feministische Bewegungen aber auch bedeuten, die Kerbe gleich noch tiefer schlagen zu müssen. Zum einen wäre das Geschrei der Konservativen groß, das leider international Unterstützung erfährt. Zum anderen müssten medizinische Einrichtungen dazu verpflichtet werden Abbrüche durchzuführen. Das würde voraussetzen, dass Schwangerschaftsabbrüche auch wieder selbstverständlicher Bestandteil der medizinischen Ausbildung sein müssten. Und schließlich würde es darum gehen, sich noch eines weiteren Übels zu entledigen: §218. Es mag vielleicht den Anschein erwecken, als reite man von einem Paragrafen zum anderen, doch in dieser formaljuristisch anmutenden Auseinandersetzung, geht es im Kern um sexuelle und reproduktive Rechte für alle, um zugängliche Reproduktionstechnologien unabhängig von einem heteronormativen Familienbild und unabhängig von der Größe der Geldbörse.
Alle paar Jahre oder paar Jahrzehnte gibt es eine größere Aufmerksamkeit um die beiden Paragrafen und ihre Abschaffung, wird über feministische Kontexte hinaus diskutiert. Um genau zu sein, seit 149 Jahren. Die Debatte um den §219a könnte nun nochmal in der gleichen Intensität wie vor einem Jahr medial entflammen. Es stehen wieder verschiedene Szenarien im Raum, die eine Veränderung herbeiführen könnten und eventuell in eine positive Richtung. Sogar die SPD hat sich als Reaktion auf die Verfassungsbeschwerde zu Wort gemeldet und könnte die Forderung nach einer ersatzlosen Streichung nochmal auf die Tagesordnung setzen. Die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey wolle weiter für eine ersatzlose Streichung eintreten. Auch Abtreibungsgegner Klaus Günter Annen äußert sich auf Twitter besorgt darüber, dass die Zeit für den reformierten §219a nach einem Urteil des Bundesverfassungsgericht abgelaufen sein könnte. Möge 2020 seine Sorge in Erfüllung gehen und das neue Jahr mit erneut starken und hoffentlich letzten Protesten gegen das Informationsverbot über Schwangerschaftsabbrüche starten.