Das F-Wort
Im 20. Jahrhundert wurden viele Faschismustheorien entworfen – verhindern konnten sie ihn nicht, aber sie können uns heute möglicherweise noch weiterhelfen
Von Morten Paul

Was ist, oder genauer, ist das Faschismus? Diese Frage ist in aller Munde. Wie auch immer die Antwort ausfällt, belegt wird sie gern mit dem Verweis auf Autoritäten linker Faschismusdeutung. Dass das, was sich als Kampfbund nach dem Ersten Weltkrieg regte, Faschismus war, mussten die frühen Faschismustheoretiker*innen zwar nicht diskutieren. Es nannte sich schließlich selbst so: Fasci di Combattimento. Doch wie der Faschismus zu verstehen sei, war schon damals Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen.
Ein noch immer beliebtes Motto linker Faschismusdiskussionen stiftete der Philosoph Max Horkheimer wenige Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.« Gerichtet war der Satz an Exil-Intellektuelle, die, vom Faschismus aus ihrer Heimat vertrieben, die Liebe zum Liberalismus entdeckten. Horkheimer bestand dagegen auf dem Zusammenhang von Liberalismus und Faschismus: Die krisenhafte Natur des Kapitalismus schaffe nicht allein die Bedingungen, unter denen der Faschismus gedeihen konnte. Er entstelle außerdem einen Aspekt des Kapitalismus zur Kenntlichkeit, den die Rede von Freiheit und Gleichheit verschleiert hatte: seinen Herrschaftscharakter.
Krisenantwort und Kapitalherrschaft
Dass der Faschismus eine Reaktion auf Krisentendenzen des Kapitalismus darstellt, wenigstens darin sind sich alle marxistischen Faschismustheorien einig. Doch schon die Einschätzungen, wie diese Krise zu fassen sei, gingen weit auseinander. Zunächst herrschte die Vorstellung vor, der Faschismus sei bürgerlicher Terror gegen die proletarische Bedrohung. Vorbild war Admiral Miklós Horthy, der die nach der Kriegsniederlage der Habsburgermonarchie aufgebaute ungarische Räterepublik brutal zerschlug. Bereits 1923 widersprach die KPD-Politikerin Clara Zetkin jedoch dieser Auffassung. In Italien, dem ersten Land, in dem der Faschismus an die Macht gelangt war, sei er gerade nicht eine Antwort auf eine siegreiche Revolution gewesen, sondern stelle vielmehr die Rache für ihr Ausbleiben dar. Die enttäuschten Massen hätten sich daraufhin dem scheinrevolutionären Versprechen der faschistischen Führer zugewandt: der Nation.
Andere sozialistische Theoretiker*innen versuchten, die irritierende Zusammensetzung der Massenbasis des Faschismus zu erklären, indem sie auf Karl Marx’ Analyse des Staatstreichs Louis-Napoléon Bonapartes zurückgriffen. Marx hatte gezeigt, wie Bonaparte 1851 – gestützt auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen – eine Diktatur errichten konnte. Dem Bonapartismus-Ansatz gelang es einerseits, den klassenübergreifenden Appeal des Faschismus und andererseits die Verselbstständigung des Staates gegenüber den gesellschaftlichen Klassenverhältnissen in den Blick zu nehmen.
Durchsetzen sollte sich innerhalb der Kommunistischen Internationale (Komintern) allerdings zunächst die ein Jahr nach Zetkins Warnung entwickelte Sozialfaschismusthese. Sie ging davon aus, dass die Sozialdemokratie als gemäßigter Flügel des Faschismus die wichtigste Stütze des Kapitalismus sei. Das führte in den Jahren, in denen sich Mussolinis Herrschaft konsolidierte und die NSDAP Wahlerfolge einfuhr, dazu, die Sozialdemokratie als Hauptgegnerin zu bekämpfen. Als Hitler die Reichskanzlerschaft übertragen wurde, formulierte die Komintern Überlegungen zum Faschismus an der Macht: Die nach ihrem Generalsekretär Georgi Dimitroff benannte These verwies durch die Bestimmung des Faschismus als »terroristische Diktatur« des reaktionärsten imperialistischen Finanzkapitals darauf, dass man ihn wie die bürgerliche Demokratie weiterhin als eine Form der Kapitalherrschaft und nicht als Bruch mit ihr verstand. Seine Gefährlichkeit erkannte man nun allerdings an. Zugleich legte das eine Vorstellung faschistischer Führer als willfährige Marionetten nahe, die sich in dem Demospruch »Hinter dem Faschismus steht das Kapital« bis heute erhalten hat.
Doppelstaat, Nicht-Staat oder totaler Staat?
Mit dem Faschismus an der Macht wurde der Staat zum bestimmenden Thema. So unterstrich der Jurist Ernst Fraenkel, dass ein durch Repression charakterisierter Maßnahmenstaat etabliert worden war, daneben aber formale Rechtsstrukturen wie Gesetze und Gerichte weiter Bestand hätten. Gerade diese Verdoppelung zeichnete für ihn den faschistischen Staat aus. Der Politologe Franz Neumann betonte dagegen anarchische Willkür und beschrieb einen Nicht-Staat, der von konkurrierenden Machtzentren bestimmt sei. Auch andere verglichen in der Folge faschistische Regime mit Verbrecherbanden, die den Staat als Beute unter sich aufteilen. Mit beiden Ansätzen lässt sich die hektische Aktivität der aktuellen US-amerikanischen Administration zwischen einer Fülle an Executive Orders und dem unter der euphemistischen Maßgabe »Bürokratieabbau« neu geschaffenen Department of Government Efficiancy ziemlich gut beschreiben.
Mit der Entgrenzung der Faschismusdiskussion der 1970er Jahre verbindet sich der Vorwurf ihrer graduellen Entleerung: Wenn alles und jede*r aus irgendeiner Perspektive »faschistisch« ist, was taugt der Begriff dann noch?
In einer kurz nach dem Ende des Weltkriegs veröffentlichten Studie hob die liberale Philosophin Hannah Arendt neben dem Merkmal des Terrors auf die Ideologie des Faschismus ab. Er wolle die Gesellschaft und die Einzelnen radikal umformen. Im Hinblick auf diese »totale Herrschaft« stellten sie und andere Strukturähnlichkeiten zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus fest. Damit war allerdings ein Deutungsmuster in der Welt, das als Totalitarismustheorie – auch unabhängig von Intention und Sachgehalt – im Kalten Krieg Karriere machen sollte. Es dient Feuilletons und Talkshow-Hosts bis heute zur Abwehr linker Position, während auf der extremen Rechten an die Stelle des Gestaltungsfurors längst die Verteidigung »bedrohter Normalität« getreten ist. Eine offen antidemokratische Stoßrichtung ist damit nur noch selten verbunden. Doch auch im historischen Faschismus vertrug sich die Verachtung parlamentarischer Verfahren und republikanischer Institutionen durchaus gut mit der plebejischen Rhetorik, in Führer, Partei oder Bewegung den wahren Volkswillen zu verkörpern.
Mit der Ideologie kehrt bei Arendt etwas zurück, dessen Bedeutung schon Zetkin 30 Jahre zuvor erkannt hatte: Auch wenn sich Linke darin einig waren, dass ein Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus bestand, schien der allein nicht seine breite Anziehungskraft erklären zu können. Die Irritation über diese Attraktivität verband um 1930 das Nachdenken der Philosophen Ernst Bloch und Georges Bataille sowie des Psychoanalytikers Wilhelm Reich: Obwohl dem Kommunismus verpflichtet, waren sie der Auffassung, dass dessen Fokus auf die Ökonomie den sogenannten Überbauphänomenen, insbesondere der Kultur, nicht genug Aufmerksamkeit schenkte. Vor Augen hatten sie den symbolischen Aufwand, den die Faschist*innen mit ihren Fantasieuniformen und Fahnen, Fackelzügen und Pseudomythen betrieben. So lächerlich sie den Mummenschanz fanden, erkannten sie doch, dass er an Bedürfnisse anknüpfte, die unter Umständen wie Massenarbeitslosigkeit und Deklassierung Bedeutung gewinnen konnten. In den Untersuchungen zur Entstehung autoritärer Persönlichkeitsstrukturen in der Kleinfamilie oder den Arbeitsverhältnissen deckte man den Einfluss von Mentalitäten und Milieus auf politische Prozesse auf.
Ausgehend von der Verbreitung neuer Medien wie Radio und Kino verknüpften darauf insbesondere der Kulturkritiker Siegfried Kracauer und der Soziologe Leo Löwenthal die Aufmerksamkeit für psychische Mechanismen mit der Untersuchung von Propagandatechniken. Ihre Beschreibungen von Agitation und Fanatismus treffen noch immer erstaunlich genau die Dynamiken der Mannosphäre, von digitalen Shitstorms oder den geifernden Reden Jair Bolsonaros oder Björn Höckes. An die Stelle einer Erklärung für gesellschaftliche Missstände tritt dabei die Identifikation eines Feindes: Diese projektive Funktion erfüllte die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung perfekt. Moishe Postone hat deshalb im Anschluss an die Kritische Theorie den modernen Antisemitismus als romantischen Antikapitalismus charakterisiert. Der Nationalsozialismus ist ohne Einbezug des in der industriellen Massenvernichtung gipfelnden Erlösungsantisemitismus nicht zu erklären.
Gender, Race, Gewalt
Mit dem linken Aufbruch um 1968 gingen weitere Weltverhältnisse in die Faschismusdiskussion ein. Der Literaturwissenschaftler Klaus Theweleit beschrieb in den 1970ern die Erfahrung des Ersten Weltkriegs sowie die Beteiligung an den paramilitärischen Freikorps der Weimarer Nachkriegszeit als Vorgeschichte faschistischer Männlichkeit. Die PCI-Politikerin Maria Antonietta Macciocchi nahm etwa zur selben Zeit die Frauen in den Blick. Sie identifiziert ihre Adressierung als Jungfrauen und Mütter der Nation als entscheidendes Scharnier für die Zustimmung zum Regime. Nachfolgende Kontroversen um die aktive Rolle und Täterinnenschaft von Frauen im Faschismus irritierten nicht nur das Frauenbild der Nachkriegsgesellschaften, sondern auch Feminismus und Geschlechterforschung produktiv.
Heute steht Geschlechtlichkeit erneut im Zentrum reaktionärer Formierungen: Der Bezug auf traditionelle Geschlechterrollen und Familienbilder, aber mehr noch die Imagination einer Bedrohung dieser Ordnung durch queere und trans Personen bildet ein Bindemittel von ganz rechts bis weit in die Gesellschaft hinein. Die Geschlechter-Panik erlaubt die Skalierung des Bedrohungsszenarios von Familie und Nahumfeld auf Nation, Volk oder Weltmaßstab.
Mit der Entgrenzung der Faschismusdiskussion der 1970er Jahre verbindet sich der Vorwurf ihrer Entleerung: Wenn alles und jede*r aus irgendeiner Perspektive »faschistisch« ist, was taugt der Begriff dann noch? Dieser Einwand wurde auch gegenüber seiner Verwendung in antikolonialen Befreiungskämpfen oder in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung vorgebracht. Übersehen wird dabei oft die frühe Teilnahme antikolonialer und Schwarzer Aktivist*innen an antifaschistischen Kämpfen. Sie stellten selbstverständlich Bezüge zu ihren eigenen Unterdrückungserfahrungen her. So gab der Dichter Langston Hughes bereits 1937 auf einem antifaschistischen Kongress in Paris zu bedenken, dass man den Schwarzen Nordamerikas den Faschismus nicht zu erklären brauche, kennen sie doch seine Pogrome in der Lynchjustiz, seine antisemitischen Rassengesetze in der Segregation des Jim-Crow-Südens und seine Ideologie nordischer Überlegenheit im Klu-Klux-Clan. Hughes leitete daraus die Forderung ab, die Kämpfe zu verbinden.
Noch immer provoziert dagegen die These des Schriftstellers und Politikers Aimé Césaire, beim Faschismus handele es sich um den Reimport von Machttechniken und Gewaltmitteln, die in den Kolonien erprobt worden seien. Erschreckt habe diese Gewalt die europäischen Intellektuellen jedoch erst, so schrieb er 1950 bitter, als sie bei ihnen selbst zum Einsatz kam. Auch wenn die Besonderheiten von Antisemitismus und Vernichtungsprogramm in diesem Text nicht zur Sprache kommen, stellte Césaire die Schrecken der faschistischen Gewalt nicht in Abrede. Die lange Linie, die er vom Faschismus zurück zum Kolonialismus zieht, diente ihm aber dazu, eine grundlegende Kritik des europäischen »Pseudo-Humanismus« zu entwickeln.
Faschismustheorie als Gesellschaftskritik
Ab den 1980ern betrieben die Geschichtswissenschaften zunehmend Vergleichsstudien und wichtige Detailforschungen. Ab den 1990ern widmete sich eine neue Welle der Forschung dann den ideengeschichtlichen Wurzeln, um den Faschismus als eigenständige politische Formation zu beschreiben. Roger Griffin prägte die einflussreiche Formel eines palingenetischen, also auf Wiedergeburt abzielenden Ultranationalismus. Man diskutierte Stadienmodelle, um die Entwicklung von einer politischen Bewegung über Regime an der Macht bis zu Krieg und Genozid zu beschreiben, und begann schließlich, die globale Verflechtungsgeschichte des Faschismus zu berücksichtigen.
In linken Faschismustheorien ging es allerdings nie allein darum, ob sie den historischen Faschismus richtig beschreiben, sondern auch, wie diese Beschreibung antifaschistisch wirken kann. Das war naheliegend angesichts der unmittelbaren Gefahr, die faschistische Gewalt für Linke bedeutete und immer noch bedeutet. Diese Theorien unterscheidet daher auch, wie sie jeweils den Zusammenhang von Erkenntnis und Praxis, Aufklärung und Veränderung modellieren. Darin sind sie allerdings selbst Teil der Auseinandersetzungen ihrer Zeit und bedürfen der Historisierung. Die Herausforderung für die gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit dem Faschismus besteht weiterhin darin, ihn weder als bloße Verlängerung der Verhältnisse zu sehen und dabei seine Besonderheiten zu verfehlen, noch ihn als völligen Bruch zu betrachten und dabei die Bedingungen auszublenden, unter denen er entstanden ist und wieder entstehen kann. Im besten Fall lernt die so herausgeforderte Gesellschaftstheorie auch etwas über noch-nicht-, nicht-mehr- oder bald-wieder-faschistische Gesellschaften – und über ihren eigenen Ort im Bemühen um Emanzipation.