Eine vaterlandslose Gesellin möchte ich sein
Eine Anleitung zur Kriegsdienstverweigerung
Von Carina Book
Krawattebinden ist das Einzige, was ich damals bei der Bundeswehr gelernt habe«, beichtete mir neulich ein Boomer näheren Verwandtschaftsgrads. Es sei ja nach 1945 eh völlig klar gewesen, dass die Bundeswehr in keiner Welt mehr über die Grenzen der BRD rücken würde. Und bis 1999 und der deutschen Beteiligung am Kosovo-Einsatz der Nato stimmte das sogar. Inzwischen ist die Lage eine andere. Vier Tage nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz das 100 Milliarden schwere und damit massivste Aufrüstungsprojekt der jüngeren deutschen Geschichte. Es sollte eine »Zeitenwende« einläuten.
Seither trommelt Verteidigungsminister Boris Pistorius (auch SPD) für die »Kriegstüchtigkeit« dieses Landes. Mit seinem Gesetzentwurf »zur Modernisierung wehrersatzrechtlicher Vorschriften und zur Einführung eines neuen Wehrdienstes« will er wieder ran ans Kanonenfutter. Kernelement des Entwurfs ist, die im Jahr 2011 ausgesetzte Wehrerfassung und Wehrüberwachung wieder einzuführen – mithilfe eines verpflichtenden Fragebogens. »Junge Männer und Frauen, die 18 Jahre alt werden, werden sich künftig wieder häufiger mit der Frage auseinandersetzen: Wie wird die äußere Sicherheit in Deutschland gewährleistet? Kann ich einen Beitrag dazu leisten?«, so Pistorius.
Zwar bin ich inzwischen schon vor einer Weile über die 18-Jahre-Zielmarke geschlittert, aber Boris, meine Antwort ist ganz eindeutig: Nein, ich kann keinen Beitrag dazu leisten! Nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Ich bin eine vaterlandslose Gesellin. Kein Gott, kein Staat, kein Vaterland werden mich jemals an die Waffe kriegen. Boris, lass es mich so sagen: Die Kriegstüchtigkeit eines Landes herstellen zu wollen, das zwei Weltkriege begonnen und das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte – die Shoah – angerichtet hat, ist ein Versuch, die Verantwortung, die aus dieser Geschichte erwächst, in ihr Gegenteil zu verkehren – von einer Verpflichtung zum Frieden hin zu einer Rechtfertigung für neue Aufrüstung und Militarisierung.
Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.
»Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden«, sagt das Grundgesetz. Und damit du, Boris, dir hinter die Ohren schreibst, dass ich von diesem Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetz Gebrauch zu machen gedenke, habe ich bei der Bundeswehr angerufen und mir vom Kameraden am Fernmelder erklären lassen, was man für einen Kriegsdienstverweigerungsantrag oder im Bundeswehrsprech »KDV-Antrag« tun muss.
Die Musterung
»Hamse denn schonmal gedient, Frau Book?«, will der Kamerad wissen. »Ich wurde nicht mal gemustert«, sage ich. Stille am Fernmelder. Es wäre nett gewesen, wenn er mir gesagt hätte, dass ich erstmal zur Musterung einbestellt werde, wenn ich einen KDV-Antrag stelle. Aber das erfahre ich nicht von ihm, sondern von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK). Sollte man also überhaupt vorsorglich einen KDV-Antrag stellen? Wahrscheinlich nicht. Denn: »Die rechtskräftige Ablehnung des KDV-Antrags einer ungedienten Person, die rechtskräftig tauglich gemustert wurde, hätte (…) im Spannungs- und Verteidigungsfall (…) eine Wehrpflicht zur Folge«, erklärt mir die EAK. Dann vielleicht doch lieber erstmal weiter unter dem Radar fliegen…
Müsste ich aber doch zu einer Musterung, wäre das von mir erwünschte Ergebnis selbstverständlich »Verwendungsgrad T5«, ausgemustert, nicht verwendbar, wirklich nicht zu gebrauchen. Viele meiner Freunde sind in den 2000ern wegen »Drogenmissbrauchs« ausgemustert worden, und da fällt mir zum ersten Mal auf, dass es vielleicht doch einen Haken bei der Cannabis-Legalisierung gibt. Ein Verwandter erklärt mir seinen »Bluthochdruck-Trick« aus den 1970ern: nicht schlafen, Kaffee und Cola reinschütten bis nichts mehr rein geht und so viele Roth-Händle ohne Filter rauchen wie möglich, und zack: ausgemustert. Wahrscheinlich würde der Musterungsarzt aber das aufschreiben, was mein Hausarzt seit 33 Jahren aufschreibt: rund und gesund. Meine Chance liegt also in meiner »Waist-to-Hight Ratio«, die den BMI abgelöst hat – da schmeckt mir der Lebkuchen direkt noch viel besser.
Der KDV-Antrag
Ja, es gibt ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Doch dieses Recht wird nicht automatisch anerkannt – man muss es sich durch einen formellen Antrag »verdienen«. Und surprise: Im Land der Formulare und Anträge gibt es keinen Standardfragebogen oder Antragsformular zum Download. Alles muss man selber machen. Während die Zuständigkeit für Musterungen und auch für die Kriegsdienstverweigerung zwischen 1957 und 2010 bei den Kreiswehrersatzämtern der Bundeswehr lag, wurden die Buden nach Aussetzung der Wehrpflicht – ja, die Wehrpflicht wurde nur ausgesetzt und nicht abgeschafft – dicht gemacht. Heute sind die Karrierecenter der Bundeswehr die Adressaten. Sie leiten die KDV-Anträge dem Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) zu, das letztlich über die Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung entscheidet. Das sagt mir auch der Kamerad am Fernmelder. Der KDV-Antrag besteht aus drei Teilen: dem Antragsschreiben mit Berufung auf Artikel 4 Absatz 3 Grundgesetz. Dann folgt ein vollständiger und lückenloser tabellarischer Lebenslauf. Der dritte Teil ist die persönliche Darlegung der Gewissensentscheidung. Das alles sollte man zusammen per Einschreiben an das zuständige Karrierecenter schicken.
Das Antragsschreiben
Sehr geehrte Damen und Herren,
hiermit beantrage ich die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gemäß Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.
Mit freundlichen Grüßen
Anlagen:
- Lebenslauf
- Begründung meiner Kriegsdienstverweigerung
Der Lebenslauf
Nun folgt der Lebenslauf. In einer Broschüre der DGB-Jugend aus dem Jahr 2008 finde ich Hinweise, wie der aussehen sollte: Der tabellarische Lebenslauf soll lückenlos sein und die wichtigsten Lebensdaten enthalten. Mein Lebenslauf soll es dem Bundesamt ermöglichen, sich ein Bild von meinem familiären und sozialen Umfeld zu machen. Enthalten sein soll: mein Name, mein Geburtstag und Geburtstort. Angaben zu meinen Eltern und Geschwistern, deren Beruf und Lebenssituation, Angaben zum Familienleben (Todesfälle, Scheidung der Eltern etc.). Welchen Bildungsweg bin ich gegangen? Wie ist meine Wohn- und Lebenssituation? Engagiere ich mich sozial oder politisch? Welche Perspektiven habe ich in Beruf und Ausbildung?
Begründung meiner Kriegsdienstverweigerung
Jetzt kommt das Herzstück des Antrags: die Begründung. Hier muss dargelegt werden, warum ich den Kriegsdienst mit meinem Gewissen nicht vereinbaren kann. Die Kriegsdienstverweigerung (KDV) ist mehr als nur die Ablehnung einer Uniform oder eines Gewehrs. Meine tiefgreifende Ablehnung, die auf ethischen und weltanschaulichen Überzeugungen basiert, muss jetzt deutlich werden. Gut zu wissen: Die Ausführlichkeit der Begründung hängt vom Bildungsgrad ab. Das heißt, je mehr schulische und darüberhinausgehende Bildung man »genossen« hat, desto ausführlicher sollte die Begründung sein. Welche Personen haben mich geprägt? Welche Erlebnisse waren entscheidend für meine Entscheidung? Er muss individuell verfasst und authentisch sein. Zum Abschreiben eignet sich das Folgende daher nicht. Außerdem ist er aufgrund des knappen Platzes auf dieser Seite vermutlich etwas kürzer als notwendig. Wenn ihr selbst einen KDV-Antrag stellen wollt, lasst euch unbedingt auch beraten. Und wichtig: Es geht ums Gewissen! Also los.
Ich beantrage die Anerkennung meiner Kriegsdienstverweigerung aus tiefster moralischer Überzeugung, da ich es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren kann, Menschen zu töten oder unterstützend daran mitzuwirken. Diese Überzeugung ist das Ergebnis persönlicher Erfahrungen, Begegnungen und einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Wert des menschlichen Lebens.
Eine prägende Erfahrung hatte ich in meiner frühen Jugend, als ich mit meiner Familie im Nachbardorf eine Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus besuchte. Dort erzählte uns eine Überlebende von ihrem Leid in einem Konzentrationslager. Sie war damals gerade 19 Jahre alt, so alt wie viele junge Menschen, die für Kriegsdienst und Militär rekrutiert werden. Sie sprach mit bebender Stimme über die Soldaten, die Befehle befolgten, ohne sie zu hinterfragen – über Menschen, die die ausführenden Kräfte eines unmenschlichen Systems wurden. Sie appellierte an unsere Verantwortung und unser Gewissen: Es gibt immer die Wahl, sich dem Befehl und Gehorsam zu verweigern. Jeder Mensch hat eine Wahl. Immer. Dieses Gespräch hat mich nie losgelassen. Der Gedanke, dass ich jemals in einer solchen Rolle sein könnte – sei es direkt mit der Waffe oder indirekt als Teil eines militärischen Apparats –, ist für mich unerträglich.
Im Schulunterricht las uns unser Lehrer Herr Liebermann den Brief eines Soldaten vor, der desertiert war und dafür hingerichtet wurde. Der Soldat schrieb: „Ich kann nicht mehr töten, weil ich spüre, dass jeder Schuss, den ich abgebe, einen Teil von mir zerstört.“ Diese Worte ließen mich verstehen, dass Gehorsam nicht immer moralisch ist – dass es manchmal mehr Mut erfordert, Nein zu sagen, als eine Waffe zu heben.
Meine Auffassung hat sich vertieft, als mein Cousin Markus, der als Soldat in Afghanistan gedient hatte, traumatisiert zurückkehrte. Wir kamen ins Gespräch, und ich fragte ihn, wie er mit dem Erlebten umgehe. Er antwortete, dass es kaum eine Nacht gebe, in der er nicht von Schuldgefühlen geplagt werde. Er habe in Afghanistan verstanden, dass Armeen nicht dem Schutz der Menschen dienen, sondern der Durchsetzung ökonomischer und geopolitischer Interessen. Waffen töten nicht, um Frieden zu schaffen – sie töten, um Ressourcen, Handelswege und Einflusszonen zu sichern.
Während meines Studium lernte ich Bisrat kennen. Er erzählte mir vom Krieg in Eritrea, von seiner Flucht und dem Leid, das er erfahren hatte. Er war gebrochen. Nur ein Jahr, nachdem er in Deutschland angekommen war, ertränkte er sich selbst im Stadtpark. Der Krieg hatte ihn innerlich zerstört.
All diese Erfahrungen haben mich geprägt. Ich kann keine Waffe in die Hand nehmen, weil ich sehe, was sie anrichtet – nicht nur bei den Menschen, die sie trifft, sondern auch bei denen, die sie führen.
Mein Gewissen verbietet es mir, Befehle auszuführen, die potenziell dazu führen, dass ich andere Menschen verletze oder töte. Mein Gewissen verbietet es mir, ein Werkzeug der Gewalt zu sein – sei es direkt an der Front oder indirekt in der Unterstützung von Kriegsführung.
Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch ein Recht auf Leben hat. Krieg aber entmenschlicht uns alle, indem er dieses Recht auslöscht. Ich verweigere den Kriegsdienst, weil ich daran mitwirken will, eine Welt ohne Kriege zu schaffen – eine Welt, in der die Menschenwürde tatsächlich unantastbar ist und nicht daran gemessen wird, welche Fahne der Mensch verteidigt.
Wenn ich sage, dass ich eine »vaterlandslose Gesellin« sein möchte, dann meine ich das wörtlich. Ich glaube nicht an Grenzen, die Menschen trennen, oder an Nationalstaaten, die von uns Loyalität einfordern könnten. Meine Solidarität gilt nicht einem »Volk« oder einer »Nation«, sondern allen Menschen weltweit, die unter Krieg, Armut und Unterdrückung leiden. Im Übrigen sind es oft genug deutsche Waffen, die diese Gewalt ermöglichen. Es gibt keinen denkbaren Umstand, der mich dazu veranlassen könnte, dass ich diese Menschen als meine Feinde begreifen und auf sie schießen könnte. Mein Gewissen, meine Überzeugungen und meine politische Haltung lassen keinen anderen Schluss zu. Ich bitte Sie daher, meinen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung anzuerkennen.
Anmerkung:
1) Unter dfg-vk.de oder eak-online.de/beratung könnt ihr euch informieren und beraten lassen.