Freie Fahrt für deutsche Interessen
Während die Nachkommen der Opfer des Genozids an den Ovaherero und Nama eine Aufarbeitung fordern, spricht die Bundesregierung lieber über Wasserstoff
Von Paul Dziedzic
Swakopmund, Namibias drittgrößte Stadt, von manchen auch »Little Germany« genannt, befindet sich im Westen des Landes, wo die Sanddünen der Namib-Wüste auf den Atlantik treffen. Am Eingang des Friedhofs von Swakopmund ist davon nichts zu sehen. Palmen spenden den Grabsteinen Schatten. Durch den europäischen Teil der Ruhestätte führen noch gepflasterte Wege. Inschriften auf den Gräbern verraten, wer da liegt – und seit wann. Eigentlich ein ganz normaler Friedhof.
Biegt man jedoch links ab und läuft bis zum Ende des gepflasterten Weges, beginnt ein kahles, sandiges Feld. Auf einer schwarzen Tafel, umgeben von Steinen, die Besucher*innen als Zeichen des Respekts abgelegt haben, steht: »Denkmal für den Völkermord an den Nama und Ovaherero 1904-1908. In liebevoller Erinnerung an die Tausenden Ovaherero und Nama Männer, Frauen und Kinder, die an diesem heiligen Ort starben.« Dahinter ragen, über hunderte Meter, kleine Hügel hervor, wie Narben auf einer Haut. Es sind die anonymen Opfer des ersten deutschen Genozids vor 120 Jahren. »Diese Gräber sind sehr oberflächlich, also müssen wir sie immer wieder zuschütten, um sie vor den Elementen zu schützen«, sagt Laidlaw Peringanda. Er ist kein Grabpfleger, sondern Leiter der Namibian Genocide Association, eines Vereins, der sich der Erinnerungsarbeit verschrieben hat. Erinnern, das heißt auch, die Gräber der Toten zu pflegen. »Es ist eine sehr traumatisierende Arbeit«, sagt der Aktivist. Den Sand mit Schaufeln wieder auf die Gräber zu schütten, ist kein Ritual, sondern schlichtweg notwendig, denn die Stadt weigert sich, diese Aufgabe zu übernehmen. Für einige Freiwillige und Nachfahren der Opfer sei das emotional derart belastend, dass sie mit der Arbeit wieder aufhören müssten, so Peringanda. Der Einsatz für einen würdigen Umgang mit der Stätte hat aber auch schon einiges erreicht in Swakopmund, wo die Standards so niedrig sind. Bis 2006 eine Mauer um das Gelände gezogen wurde, rasten Geländewägen und Quads über diesen Teil der Ruhestätte. »Einige der Häuser sind auf der Grabstätte gebaut.«
Peringandas Aktivismus erregt vor allem den Zorn der älteren Deutschen in Swakopmund.
Peringandas Aktivismus erregt vor allem den Zorn der älteren deutschen Bewohner*innen der Hafenstadt. So erhielt er mehrere Todesdrohungen, unter anderem nachdem er bewirkt hatte, dass ein Bild von Bismarck an der Außenfassade einer Apotheke entfernt wird. In einem Brief hieß es, die Gestapo werde ihn holen. Dass die Polizei die Drohungen gegen den Aktivisten ernst nimmt, habe er der internationalen Presseberichterstattung zu verdanken.
Im europäischen Bereich des Friedhofs gibt es einen Teil, der den Schutztruppen gewidmet ist. Das war der euphemistische Name für die deutschen Kolonialtruppen, die den Genozid verübten. An prominenter Stelle steht ein Kriegsdenkmal aus massivem Stein. Unter einem großen eisernen Kreuz steht die Inschrift: »Sie gaben ihr Leben für dich«. Die Täter, sie haben Namen.
Deutsche Traditionspflege
In Swakopmund fühlt sich eine kleine, wohlhabende Schicht von deutschen Nachfahren wohl. Wer will, kann seinen reaktionären Traditionen frönen. Peringanda berichtet, wie die Deutschen ihre Angestellten manchmal nicht bezahlten und mit Kündigung drohten, wenn diese ihren Lohn einforderten. Oder davon, wie Angestellte auf den staubigen Straßen hinten im Pick-up säßen, während die Hunde im Auto Platz nehmen dürften. Auch aus dem entfernten Deutschland kommen sie mitunter: Im Sommer 2024 zum Beispiel, als der AfD-Politiker Sven Tritschler am Rande einer Delegationsreise von Parlamentarier*innen aus NRW sich vom Ovaherero- und Nama-Denkmal wegschlich und provokativ einen Kranz beim deutschen Kriegsdenkmal niederlegte.
Doch es ist auch eine Trendwende zu beobachten. Es gibt eine erhöhte mediale Aufmerksamkeit für die Verbrechen der deutschen Kolonialmacht: das Ergebnis des unermüdlichen Einsatzes von Nachfahren der vom Genozid betroffenen Gemeinden. Der Nama, der Ovaherero, zunehmend auch der Damara und San – Volkgruppen, die während des Genozids ebenfalls Opfer zu beklagen hatten.
Peringanda leitet auch das Swakopmund Genocide Museum am anderen Ende der Stadt. Um dorthin zu gelangen, geht es nördlich durch die wohlhabende Innenstadt mit ihren Nachbildungen eines Ostseebads und Palmengesäumten Boulevards, auf den Nordring, eine Straße, die die ärmeren Viertel am Rande der Wüste von den Anwesen der Wohlhabenderen mit Seeblick trennt. Es geht vorbei an Mondesa, einem Township. Die Townships entstanden zur Zeit der Apartheid, die die bis 1990 bestehende südafrikanische Besatzung auch in Namibia einführte und die eine strikte Rassentrennung vorschrieb. Die Bewegungsfreiheit der Schwarzen Arbeiter*innen wurde streng reguliert, wie und wo sie lebten ebenso.
Die räumliche und materielle Trennung der Stadt schreibt sich in solchen Orten fort. Swakopmund ist seit der Unabhängigkeit 1990 stark gewachsen, viele arme Bewohner*innen sind auf der Suche nach einem besseren Leben hierhin gezogen. Es entstanden sogenannte informelle Siedlungen, in denen die Bewohner*innen improvisierte Schuppen oft aus Holz und Pappe bauten.
In Matatura finden sich Township-Häuser aus Ziegelsteinen und informelle Siedlungen. Das Museum selbst ist sehr klein, ein Anbau neben Peringandas Haus, so groß nur wie ein kleiner Büroraum. An den Wänden hängen rot umrahmte Bilder. Einige zeigen die Gräuel der Kolonialherrschaft: Zwangsarbeit, Hunger, Tod. Auf einem Bild ist der Schädel eines von den Deutschen enthaupteten Menschen zu sehen. Solche Gebeine schifften die Kolonialisten zu Tausenden nach Deutschland und in andere Länder, wo sie bis heute lagern. Die Namibian Genocide Association versucht, sie zu lokalisieren und zurückzuführen.
Zum ersten Mal vom Genozid hörte Peringanda von seiner Urgroßmutter, einer Überlebenden des Konzentrationslagers in Swakopmund. Sie erzählte, welche Torturen sie über sich ergehen lassen musste, über die brutale Gewalt, die die Deutschen ausübten und die Zwangsarbeit, die unter anderem den Transport von Gütern und den Bau der Bahnverbindung nach Windhoek beinhaltete. Peringanda war schon, wie seine Eltern, in seiner Jugend politisch aktiv. Heute helfen ihm im Verein auch jüngere, progressiver denkende Nachfahren der Deutschen. Das Museum, so klein es auch sein mag, zieht Besucher*innen aus der ganzen Welt an, die sich mehr anschauen wollen, als den Kolonialkitsch der Innenstadt.
Gedenkstätte und Campingplatz
Nicht nur in Swakopmund bauten die Deutschen ihre Konzentrationslager. Zwischen dem dortigen Friedhof und dem nächsten Gedenkort liegen 800 Kilometer Straße, die über eine beliebte Touristenroute durch den Naukluft National Park, vorbei an alten kolonialen Festungen und vor allem an kilometerlangem, umzäuntem Land führt: Privatbesitz, der überwiegend weißen Farmer*innen gehört und auf dem Rinder gehalten werden oder Tourist*innen Wildtiere jagen können. Eine kleine, weiße Minderheit von fünf Prozent besitzt über 70 Prozent des namibischen Farmlandes.
Über die roten Landschaften von Maltahöhe gelangt man nach Karas, das historische Land der Nama. An der Atlantikküste liegt ǃNamiǂNûs, was in den Nama Sprachen »die Umarmung« heißt, ein felsiger Arm, der ins Meer ragt und eine Bucht bildet. Der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz ankerte hier 1883 und wollte dem Anführer der ǃAman Nama, Joseph Fredericks, ein Stück Land abkaufen. Doch er täuschte die Nama über die Größe des Landes nahm sich damit weitaus mehr als vereinbart.
Heute trägt die kleine, verschlafene und isolierte Stadt an der Bucht seinen Namen: Lüderitz. Die Landschaft ist felsig und karg, die Stadt selbst eine Insel in der sie umgebenen Namib-Wüste. An den Wänden der alten Häuser im Kolonialstil steht noch, wozu sie früher gedient haben: »Lesehalle« oder »Turnhalle«.
Vor Lüderitz liegt Shark Island, ein für die Nama und Ovaherero wichtiger Gedenkort. 1904 bauten die Deutschen hier ein weiteres Konzentrationslager. Die Insel konnte nur durch eine Holzbrücke erreicht werden, unter der das kalte Wasser des Atlantiks floss. Hierhin verschleppten vor 120 Jahren die Schutztruppen Tausende Nama und Ovaherero Kinder, Frauen und Männer. Shark Island ist heute keine Insel mehr, sondern eine Halbinsel. Ein kleiner Hafen hat die Brücke ersetzt, dahinter führt eine Straße ins Innere der Halbinsel, vorbei an Hotels und Gästehäusern.
Die Wellen schlagen die Felsen, während Cornelius Fredericks von einer Anhöhe auf die Küstenstadt schaut. An diesem Oktoberabend trägt er eine dicke Jacke, in der Abenddämmerung weht ein kalter Wind über Shark Island. Fredericks ist ein Nama Leader und direkter Nachfahre des !Aman-Anführers, der einen langjährigen Guerilla-Krieg gegen die Deutschen führte. Er mied dabei die direkte Konfrontation, organisierte Überraschungsangriffe, und zog sich und seine Mitkämpfenden dann schnell wieder zurück. »Militärisch haben sie ihn nie besiegt«, sagt Fredericks. Mit ernstem Blick spricht Cornelius Fredericks vom 16. Februar 1906. Es gibt ein Bild, das bei der Ankunft seines Urgroßvaters auf Shark Island geschossen wurde. Auf dem Foto steht dieser in Handschellen vor einem Zelt, sieht erschöpft aus. Auch seine Frau, Magdalena, wurde damals gefangen genommen.
Fredericks läuft auf eine weitere Anhöhe zu, auf der heute ein kolonial-kitschiger Leuchtturm steht. Hier stand einmal ein Raum, in dem Frauen gezwungen wurden, die Schädel der enthaupteten Männer für die Verschiffung zu präparieren. Auch Magdalena Fredericks musste hier den Kopf ihres eigenen Mannes bearbeiten. Der Urenkel spricht über die Schrecken, die die Frauen durchlebt haben, die nicht nur die Schädel ihrer Männer auszuschaben gezwungen waren, sondern auch sexuelle Gewalt erfahren haben. Magdalena Fredericks beendete diese Torturen, in dem sie in das kalte Meer hinauslief und nie wieder gesehen wurde.
»Ich schätze mich glücklich, heute am Leben zu sein und diese Geschichte teilen zu können«, sagt ihr Urenkel, sichtlich aufgerieben. Wie Fredericks‘ Vorfahren erging es zwischen 1904 und 1908 Tausenden. Wer nicht von den Deutschen exekutiert, den Haien zum Fraß vorgeworfen oder durch die Folgen der Zwangsarbeit getötet wurde, fiel Experimenten zum Opfer, verhungerte, verdurstete, oder erfror in den kalten Winden, die über die Insel wehen.
Im Jahr 2007, 100 Jahre nach der Ermordung von Cornelius Fredericks, ließ die !Aman-Gemeinschaft auf Shark Island ein Monument zu seinen Ehren errichten. Doch erst 2019 erkannte die namibische Regierung Shark Island als Gedenkort an. Wie viele Nama kämpft Cornelius Fredericks schon seit langem für eine echte Anerkennung, für Mitsprache – und für materielle Veränderungen. »Dass unsere Regierung heute mit der deutschen zusammenarbeitet und uns heraushält, ist schmerzhaft«, sagt er.
Trotz der offiziellen Anerkennung als nationaler Gedenkort, steht dort, wo einst ein Konzentrationslager war, heute ein Campingplatz. Sand wurde aufgeschüttet, Toiletten, Duschen, Waschräume und Parkplätze gebaut. Auch an diesem Abend sind wieder Tourist*innen da: Familien, ältere Paare. Auf der Halbinsel und in den Abschnitten davor werden menschliche Überreste vermutet, klären sollen das archäologische Untersuchungen. Die Tourist*innen schlendern über die Klippen, als wüssten sie nichts von dem, was unter ihren Füßen liegen könnte.
Doch der Campingplatz ist nicht das einzige Problem: Nama-Vertreter*innen befürchten auch den Ausbau des Hafens von Lüderitz. Angesichts neuer Öl- und Gas-Funde und eines Wasserstoff-Megaprojekts erwartet die Stadt einen neuen Boom. Dazu soll der Hafen erweitert werden – auf Kosten der Gedenkstätte.
Grünes Vorzeigeprojekt auf Nama-Land
Die Forderung, dass Shark Island kein Campingplatz mehr sein soll, sondern ein respektierter Ort des Gedenkens, teilt auch der Bürgermeister von Lüderitz, Phil Balhao. Er ist ein gutgelaunter Mann in seinen Vierzigern, trägt blaue Jeans und eine Trainingsjacke. Balhao besitzt ein Restaurant im Ort und kam erst spät in die Politik. Von der Geschichte Shark Islands habe er erst spät erfahren, sagt er. Doch ihm sei die Aufmerksamkeit für die Belange der indigenen Gemeinschaften wichtig. Gleichzeitig spricht er sich aber für den Ausbau des Hafens aus. Denn er hofft auf eine positive Veränderung für die Stadt – einen zweiten Boom.
Den ersten wirtschaftlichen Aufstieg erlebte Lüderitz 1908, nachdem in der Nähe Diamanten gefunden wurden. Daraufhin sperrte die Kolonialverwaltung weite Teile rund um Lüderitz ab. Nur kurz nach dem Genozid kam es zu einem Diamantenrausch, dem ein neues Ausbeutungsregime folgte. Die Kolonialverwaltung zwang diesmal Arbeiter*innen aus dem Norden des heutigen Namibias, dort im Bergbau zu schuften.
Das Sperrgebiet gibt es bis heute, es ist etwas kleiner als Belgien. Weite Teile werden von einem Konglomerat des Diamanten-Multis De Beers und des namibischen Staates kontrolliert. 2008 wurde das Gebiet in Tsau-ǁKhaeb (Sperrgebiet) Nationalpark umbenannt, auch für Tourismus soll es nun mehr Möglichkeiten geben. Der Park gehört zu einem von 36 Biodiversitäts-Hotspots, vor allem für Sukkulenten. Dennoch ist der Bergbau hier nach wie vor aktiv, nun soll ein neues Projekt alle anderen in den Schatten stellen.
Es ist ein Projekt, für das sich vor allem die deutsche Bundesregierung begeistert. 2022, nach Beginn des Ukraine-Krieges, machten sich deutsche Politiker*innen auf die Suche nach neuen Partnern für billige Energie. Namibia hat genau das, in Grün. Die vielen Stunden Sonne und Wind liefern »saubere« Energie, die dafür genutzt werden kann, Wasser mit Elektrolyseuren in Sauerstoff und Wasserstoff zu spalten. Der Wasserstoff soll dann in Ammoniak umgewandelt und nach Deutschland verschifft werden, wo er als Energieträger eingesetzt werden kann.
Vor diesem Hintergrund entstand eine neue Firma, Hyphen, unter der Ägide des deutschen Energieunternehmens Enertrag und in Partnerschaft mit der Britischen Nicholas Holding. Hyphen soll ein zehn Milliarden Euro schweres Programm umsetzen. Geplant ist, im Sperrgebiet Windturbinen und Sonnenpaneele zu bauen, die Strom produzieren, mit dem wiederum die Elektrolyseure versorgt werden sollen. Das Wasser für den Prozess soll aus dem Meer genommen werden und durch eine Wasserentsalzungsanlage laufen.
Dieses High-Tech-Projekt hat viel Aufmerksamkeit aus der Politik bekommen, die darin ein Vorzeigeprojekt sieht. In den nächsten zwei Jahren laufen Machbarkeits- und Impact Studien. Längst hat sich jedoch herausgestellt, dass nicht alles daran so rosig ist: Umweltverbände etwa haben bereits Alarm geschlagen, da Anlagen mitten im Nationalpark gebaut werden sollen und somit den Biodiversitäts-Hotspot bedrohen.
Im Rathaus von Lüderitz fiebert das Team von Bürgermeister Balhao dem Projekt dennoch entgegen. Die Stadt muss sich vorbereiten und Infrastruktur bereitstellen, denn in der Aufbau-Phase sollen 15.000 Jobs entstehen und später in der Produktion 3.000 dauerhafte Stellen.
Nama haben weder Mitsprache über das, was auf ihrem Land passiert, noch sind sie an Gewinnen beteiligt.
Bei den Nama-Verbänden stößt das Vorhaben nicht auf Begeisterung. Denn einerseits beklagen die Vertreter*innen, dass die Produktion den Hafenausbau nach sich ziehen wird und damit den Erinnerungsort gefährdet. Und auch in der Nähe der Produktionsstätten von Hyphen werden Massengräber vermutet. Dann ist da noch die Frage nach der Beteiligung: Nama haben bis heute weder Mitsprache über das, was auf ihrem Land passiert, noch sind sie anteilig an den Gewinnen des Projekts beteiligt.
Die Zentrale von Hyphen befindet sich in Laufweite von Shark Island, im alten Kohlekraftwerk, 1910 von den Deutschen gebaut und damals sowohl das erste als auch später größte seiner Art in Afrika. Heute ist das Gebäude kernsaniert und frisch gestrichen. Innen sieht es aus wie in jedem Start-up-Hub: minimalistisch, leer und gigantisch. Die Mitarbeitenden sind freundlich – aber auch skeptisch. Vielleicht deshalb, weil die Medienberichterstattung über das Projekt nicht so freundlich ausfällt, wie sie es sich von einem grün gelabelten Vorhaben erhofft hatten. Wohl auch deshalb soll ein gemeinsamer Besuch des Sperrgebiets vor allem dazu dienen, die Kritik der Naturschützer*innen anzusprechen.
Mit dabei ist an diesem Oktobertag auch Cornelius Fredericks. Um ins Sperrgebiet zu kommen, braucht es eine Genehmigung vom namibischen Ministerium für Bergbau. Eine solche hat Hyphen für Fredericks besorgt. Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass der Urenkel von Cornelius und Magdalena Fredericks dieses Stück Nama-Land betritt. Während der gemeinsamen Besichtigung fragt er den Hyphen-CEO Marco Raffinetti, warum die Nama eigentlich keinen Zugang zu diesem – ihrem – Land hätten. Der auf der ganzen Tour sonst recht gesprächige Firmenchef schaut daraufhin nur versteinert und antwortet nur schmallippig. Für die Anliegen der Nama bleibt auch hier nicht viel mehr als ein Schulterzucken übrig.
Reiches Land, ungerechtes Land
Vom Tsau ǁKhaeb National Park sind es 700 weitere Kilometer bis nach Windhoek, Namibias Hauptstadt. Alle wichtigen Entscheidungen seit der Unabhängigkeit des jungen Staates werden hier getroffen. An der Macht ist seitdem die ehemalige Unabhängigkeitsbewegung SWAPO. Der größte Kampf galt bis 1990 der südafrikanischen Besatzung und der Abschaffung des Apartheidsystems. An diesem Strang haben damals viele gemeinsam gezogen und wurden mit dem Abzug der Besatzer belohnt.
Einer, der damals mit dabei war, ist Uhuru Dempers. Er zog für sein Studium in die Hauptstadt und engagierte sich dort für die Unabhängigkeit des Landes. Nach der Unabhängigkeit differenzierte sich die politische Landschaft aus. Einige blieben in der SWAPO, andere gingen in die Wirtschaft. Und wieder andere, wie Dempers, wurden Teil der aktiven Zivilgesellschaft.
Für viele Ovaherero und Nama begann mit dem Ende des Unabhängigkeitskampfes der nächste Kampf.
Für viele Ovaherero und Nama begann mit dem Ende des Unabhängigkeitskampfes der nächste Kampf, nämlich jener für die Anerkennung der Verbrechen durch die deutsche Kolonialmacht und Wiedergutmachung: ein langer und steiniger Weg. Denn für eine Mehrheit der namibischen Bevölkerung, die im Norden des Landes lebt, spielte der Genozid keine so große Rolle wie der Kampf gegen die Apartheid. Nach Jahrzehnten erst schafften es Vertreter*innen der Nama und Ovaherero, das Thema auf die Agenda zu setzen. Die regierende SWAPO bewegte sich erst, als die Opposition einen Antrag ins Parlament einbrachte, den sie nicht mehr ignorieren konnten. Der Weg war damit frei, von den Deutschen Verhandlungen zu fordern.
Für die deutsche Seite dauerte es indes noch viel länger, bis sich etwas bewegte. 2004 organisierten Ovaherero und Nama eine große Zeremonie in Gedenken an den Genozid, dem auch die damalige deutsche Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul beiwohnte und um Vergebung bat. Die Bundesregierung ruderte jedoch schnell zurück – und erklärte Wieczorek-Zeuls Äußerungen zur Privatmeinung.
Erst 2015 gab es so etwas wie ein Einlenken und erste Zeichen für Verhandlungen. 2021 legten die deutsche und die namibische Regierung eine »Gemeinsame Erklärung« vor, die das Unrecht anerkennen und Maßnahmen zur »Heilung« skizzieren sollte. Doch die Bundesregierung meidet es um jeden Preis, die juristische Schuld zu akzeptieren und spricht von einem »Genozid aus heutiger Sicht«. Statt Reparationen bietet sie »Entwicklungshilfe« in Höhe von 1,1 Milliarden Euro über 30 Jahre an. Das ist kaum mehr als die gesamte bisherige Entwicklungshilfe seit Namibias Unabhängigkeit – eine Trickserei, um den Status Quo als Fortschritt zu verkaufen und eine Ohrfeige für die betroffenen Gemeinschaften. Doch auch der anderen Seite, der SWAPO-Regierung, deren Wähler*innenschaft im Norden des Landes relativ wenig mit dem Thema anfangen kann, werfen die Organisationen der Nachfahren der Genozid-Opfer vor, sie nicht in die Verhandlungen einbezogen zu haben. Nach Proklamation der »Gemeinsamen Erklärung« gingen vor allem in der Hauptstadt Windhoek viele Namibier*innen auf die Straße, die traditionellen Vertretungen reichten Klage vor dem Obersten Gerichtshof ein, Protestierende stürmten das Parlament. Wann eine überarbeitete Version des so genannten Versöhnungsabkommens kommen wird, ist angesichts der politischen Situation in beiden Ländern unklar. Es stehen sowohl in Namibia als auch in Deutschland Wahlen an.
Keine Terra Nullius
In Windhoek landen jährlich 80.000 Tourist*innen aus Deutschland, angelockt vom Naturerlebnis: weite Flächen, Wildtiere und Surfen auf Sanddünen. Der Tourismus ist für das Land ein wichtiger ökonomischer Faktor.
Die Vorstellung einer Terra Nullius, »es ist niemand hier« oder »es ist niemand hier, der das Land produktiv nutzt«, seit jeher ist das eine kolonialistische Legitimierung für Landnahme. Es heißt, die Erde soll konzentriert und kommerziell nutzbar gemacht werden: für Landwirtschaft, Bergbau, Naturschutz, Tourismus – oder eben die deutsche Energiewende. Dafür wird oder bleibt ungerecht verteiltes Land der Öffentlichkeit entzogen.
Dempers erklärt, dass die Verfassung Namibias zwar Enteignungen ermögliche, jedoch nur gegen Kompensation. Als in den 1970er Jahren der internationale Druck auf Südafrika zuzunehmen begann, wechselte die sogenannte internationale Gemeinschaft die Seiten und erkannte die SWAPO als legitime Vertretung der Namibier*innen an. Nicht ganz uneigennützig allerdings, denn 1982 lobbyierten die USA, Deutschland, das UK und Frankreich gegenüber der künftigen unabhängigen Regierung für den Schutz von Privatbesitz. Nichtsdestotrotz versuchte die SWAPO das Thema anzugehen. »Schon ein Jahr nach der Unabhängigkeit riefen Zivilgesellschaft und Regierung zur ersten Landkonferenz auf«, erzählt Dempers. Auf dieser wurden 24 Resolutionen beschlossen, die die Landumverteilung voranbringen sollten.
Ein eigens für die Landumverteilung geschaffenes Ministerium ermöglicht auch sogenannte »Resettlements«: Farmer*innen, die ihr Land verkaufen, müssen es erst dem Staat anbieten, das dieser dann an die Landlosen umverteilen kann. Durch diesen Prozess sei aber bisher nur wenig umverteilt worden, denn die Kassen des Staates sind knapp, sagt Dempers. Grundstückspreise, vor allem in landwirtschaftlich ergiebigen Flächen, sind hoch.
Wie auch Laidlaw Peringanda, der Aktivist aus Swakopmund, sieht Dempers in der Landfrage eine gewisse Dringlichkeit, die Regierung müsse sich dieser Frage entschlossener annehmen, auch um künftige Konflikte zu befrieden. In Verbindung mit der Enteignung und dem Genozid ist zudem die Frage der »Ancestral lands«, des Landes der Vorfahren, ins Zentrum der Debatte gerückt. Dabei geht es vor allem um Land im Süden Namibias, wo die Nama, Ovaherero, Damara und San lebten.
Namibia ist nicht arm. Doch Land und Einkommen sind extrem ungerecht verteilt – ungerechter sind sie das nur noch in Südafrika, weltweit betrachtet. Alle noch so großen wirtschaftlichen Pläne, alle noch so grünen Projekte können sich vornehmen, was sie wollen – solange die historisch Benachteiligten und Ausgebeuteten ausgeschlossen bleiben, werden sie eine Fortsetzung des Kolonialismus sein.
Zurück in der Küstenstadt Swakopmund, Little Germany: Laidlaw Peringanda, der Aktivist und Leiter der Namibian Genocide Association, steht im Stadtzentrum vor dem alten Kaiserlichen Bezirksgericht, das aussieht wie eine kleine Festung. Daneben steht ein weiteres Denkmal, dass er und viele Mitglieder der Ovaherero Community loswerden wollen. Es zeigt zwei Krieger auf einem Felsen. Einer liegt verletzt am Boden, der andere steht noch, die Waffe in der Hand. Demonstrant*innen haben rote Farbe auf das Monument geworfen, so dass es aussieht, als klebe Blut an den Händen der Soldaten. Peringanda zeigt auf einen der Krieger: »Er zeigt mit seinem Gewehr in Richtung Massengrab.«
Diese Reportage wurde ermöglicht durch eine Reise der Menschenrechtsorganisation medico international, der der Autor an dieser Stelle seinen Dank aussprechen möchte. Ein besonderer Dank geht an die Organisator*innen Julia Manek, Anita Starosta und Gunnar Bantz.