analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|Thema in ak 709: Deutschland und Namibia

100 Jahre Mord und Ausbeutung

Das Deutsche Kaiserreich verantwortete einen Genozid in Südwestafrika, die Bundesrepublik stützte das dortige Apartheidregime

Von Aert van Riel

Foto einer alten Relkame für einen Waffenhandel. Ein Jäger posiert mit einem geschossenen Tier auf seinem Fahrrad hinter ihn.
Partner in Crime: Deutschland musste zwar aus Namibia abziehen, unterstützte aber die Nachfolger aus Südafrika.

Das letzte Augustwochenende des Jahres 2023 war ein bedeutendes Datum für die Ovaherero in Namibia. Ovaherero unterschiedlichen Alters und Geschlechts machten sich, uniformiert gekleidet, auf den Weg zum Grab von Samuel Maharero in Okahandja im Zentrum des Landes. Vor genau 100 Jahren waren die sterblichen Überreste des namibischen Nationalhelden und einstigen Anführers der Ovaherero aus dem britischen Protektorat Betschuanaland, heute der unabhängige Staat Botswana, nach Namibia überführt worden. Dieser Jahrestag, auch Rote-Fahnen-Tag oder Ovaherero-Tag genannt, wird feierlich begangen. Teilnehmende betonten gegenüber lokalen Medien, wie wichtig es vor allem für die jüngeren Generationen sei, sich mit der Geschichte und der Bedeutung dieses Datums auseinanderzusetzen. »Insbesondere, um daraus für die Zukunft zu lernen«, erklärte ein älterer Mann in einer hellen Uniform vor einer Fernsehkamera.

Es ist die Geschichte kolonialer Ausbeutung, rassistischer Unterdrückung, antikolonialen Widerstands und die des ersten Genozid im 20. Jahrhundert. Sie beginnt mit dem Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz, der mit betrügerischen Methoden in den Besitz von Ländereien auf dem Gebiet des heutigen Staates Namibia gekommen war. 1884 erklärte das Deutsche Kaiserreich das »Lüderitzland« zum deutschen »Schutzgebiet«. Weitere Landstriche wurden der einheimischen Bevölkerung durch betrügerische und militärisch erzwungene »Schutzverträge« mit lokalen Oberhäuptern entzogen. Dieses Gebiet erhielt den Namen Deutsch-Südwestafrika.

»Mit allen Mitteln«

Der Raub an Boden durch die in der Kolonie angesiedelten deutschen Siedler*innen bedrohte die Ovaherero existenziell. Sie verloren wertvolle Weidegründe für ihr Vieh an die Deutschen und wurden von diesen Gebieten gewaltsam vertrieben. Zehntausende Tiere wurden ihnen ohne Kompensationszahlungen gestohlen. In der Folge waren viele Ovaherero, die zuvor von der Viehzucht gelebt hatten, dazu gezwungen, für ihren Lebensunterhalt unter unmenschlichen Bedingungen auf den Farmen der Deutschen zu schuften. Sie litten unter schweren Körperverletzungen infolge von Prügel mit Stöcken oder Peitschen. Auch Vergewaltigungen und Morde wurden von weißen Siedlern verübt.

Zu Beginn des Jahres 1904 gab Samuel Maharero, der einst mit der Kolonialmacht zusammengearbeitet hatte, als wichtigster Anführer der Ovaherero, das Zeichen, dass es nun an der Zeit sei, sich militärisch gegen die Besatzer zu wehren. Die Ovaherero folgten diesem Befehl. Sie konnten mehrere militärische Erfolge erzielen, und der Krieg breitete sich in der Kolonie aus.

Frühere deutsche Kolonialverbrecher konnten in der Weimarer Republik, in der Nazizeit und in der Bundesrepublik ihre Karrieren fortsetzen.

Mitte des Jahres 1904 wendete sich das Blatt. Das Kaiserreich hatte 15.000 zusätzliche Soldaten in die Kolonie entsandt. Darunter war Generalleutnant Lothar von Trotha. Der Preuße hatte Erfahrungen in grausamen Kolonialkriegen gesammelt, einen Vernichtungsfeldzug gegen die Hehe in der Kolonie Ostafrika auf dem Gebiet des heutigen Tansania geführt und sich am Kampf gegen den antikolonialen Boxeraufstand in China beteiligt. Auch dort wurden schwere Kriegsverbrechen begangen, Dörfer niedergebrannt und chinesische Zivilist*innen ermordet.

Der deutsche Kaiser Wilhelm II. hatte den Schlächter von Trotha bewusst für den Krieg in Südwestafrika ausgewählt. Vor dessen Abreise führten die beiden ein persönliches Gespräch. Wilhelm II. wies von Trotha an, den militärischen Gegner »mit allen Mitteln« niederzuschlagen. Von Trotha setzte diese Vorgaben vollständig um. Sein Militär siegte bei der wichtigen Schlacht am Waterberg im August 1904 gegen die Truppen unter Führung von Samuel Maharero und trieb die überlebenden Ovaherero mit Angehörigen und Vieh in die Omaheke-Wüste. Von Trotha gab die Anweisung, die Wüste abzuriegeln. Viele Menschen verdursteten. Nur wenigen, wie Samuel Maharero, gelang die Flucht durch die Wüste. Im britischen Betschuanaland musste die Familie Maharero unter ärmlichen Bedingungen leben. Samuel Maharero starb nach langer Krankheit 1923 im Exil. Sein Sohn Frederick beteiligte sich bis 1907 am Guerillakampf gegen die Deutschen.  

Anfang Oktober 1904 veröffentlichte von Trotha eine Proklamation an die Ovaherero. Darin hieß es: »Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen.« Somit hatte von Trotha öffentlich erklärt, dass er und seine Truppen einen Völkermord verübten. Dass er dieses Verbrechen in Südwestafrika bewusst einkalkuliert hat, belegt von Trothas Brief an den deutschen Generalstab. »Ich glaube, dass die Nation als solche vernichtet werden muss«, schrieb er darin. Ein anderes Mal kündigte von Trotha an, dass er den Krieg »mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit« führen wolle, um »die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut« zu vernichten. Aufgegriffene Ovaherero wurden willkürlich erschossen oder erhängt, andere von den Wasserstellen in der Wüste vertrieben.

Im Laufe der Zeit änderten die Deutschen ihre Strategie. Mit Unterstützung aus dem Deutschen Reich gingen von Trotha und die Kolonialverwaltung dazu über, die überlebenden Ovaherero zu inhaftieren und zur Zwangsarbeit heranzuziehen. Zu diesem Zweck wurden Konzentrationslager errichtet. Das berüchtigtste Lager befand sich auf der von den Deutschen so benannten »Haifischinsel«. Dort starben mehrere Tausend Menschen hauptsächlich an Kälte, Mangelernährung und den Folgen der schweren körperlichen Arbeit auf dem gegenüberliegenden Festland im Hafen und beim Eisenbahnbau. Historiker*innen schätzen, dass etwa 4.000 Menschen in dem Konzentrationslager auf diese Weise ermordet und viele menschliche Überreste geraubt und zu pseudowissenschaftlichen Zwecken mit rassistischem Hintergrund in das Deutsche Reich verschifft wurden. Wachhabende Soldaten vergewaltigten ungestraft Frauen.     

Die Inhaftierten waren nicht nur Ovaherero, sondern auch Nama. Viele Nama hatten zunächst gemeinsam mit den Deutschen gekämpft, wechselten dann aber unter dem Eindruck des Vernichtungskrieges gegen die Ovaherero im Jahr 1904 die Seite. Die Nama führten einen Guerillakrieg gegen die Kolonialmacht. Auch ihnen wurden Vieh und Land geraubt. Ein Jahr später drohte Lothar von Trotha, dass sie dasselbe Schicksal wie die Ovaherero erleiden sollten. Die letzten bedeutenden Widerstandsaktionen der Nama wurden 1908 niedergeschlagen. Mindestens 10.000 Nama und 60.000 Ovaherero waren Opfer des Völkermords durch das Deutsche Kaiserreich geworden, also etwa die Hälfte der Nama und 80 Prozent der Ovaherero.  

Verlängerter Kolonialismus

Eine Aufarbeitung dieser Verbrechen fand zunächst nicht statt. Das heutige Namibia wurde während des Ersten Weltkriegs im Jahr 1915 von Truppen der Südafrikanischen Union erobert und 1919 gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrags der Verwaltung Südafrikas übertragen. Es blieb bei der ungleichen Verteilung des Landbesitzes. Zu den deutschen Siedler*innen gesellten sich Weiße aus Südafrika. Zu ihren Gunsten wurde die Ent- und Übereignung von Land fortgeführt. Zeitgleich konnten frühere deutsche Kolonialverbrecher und Befürworter des deutschen Kolonialismus in der Weimarer Republik, in der Nazizeit und in der Bundesrepublik ihre Karrieren fortsetzen.   

In den 1950er Jahren verschärfte Südafrika seine Apartheidgesetze und legte gesetzlich eine Trennung der weißen Minderheit von der schwarzen Mehrheitsbevölkerung und eine Privilegierung der erstgenannten Gruppe fest. Die Bundesrepublik Deutschland war ein wichtiger Partner dieses Staates und unterstützte ihn wirtschaftlich, politisch und militärisch. Dabei hatten die Bundesregierungen auch die Interessen der deutschsprachigen Bevölkerung im Blick. Deutsche Schulen in Südafrika und im besetzten Südwesten, wo auch der Rassismus des Apartheidregimes gelehrt wurde, wurden mit Geld aus Bonn finanziert. Aus der Bundesrepublik gelieferte Waffen kamen zum Einsatz, als Demonstrationen gegen die Apartheid niedergeschossen wurden, wie etwa beim Schüler*innenaufstand 1976 in Soweto.

Der wichtigste Grund für die Kooperation mit Südafrika war, dass das dortige Regime im Unterschied zu den von sozialistischen Staaten unterstützten Befreiungsbewegungen – dem ANC (African National Congress) in Südafrika und der SWAPO (South-West Africa People’s Organisation) in Namibia – als verlässlicher Partner für die Wahrung deutscher Kapitalinteressen galt.

Bezeichnend hierfür war das Gebaren der Dresdner Bank. Sie war in den 1980er Jahren stärker im Geschäft mit Südafrika und Namibia engagiert als jedes andere bundesdeutsche Kreditinstitut. Die Bank mit Hauptsitz in Frankfurt am Main half dem südafrikanischen Staat, als er sich 1985 für zahlungsunfähig erklärte, mit weiteren Gläubigern unter anderem durch großzügige Aussetzungen der Rückzahlungen aus der Patsche. Die Dresdner Bank vergab zudem millionenschwere Außenhandelskredite und war über Aktienbesitz und personelle Verflechtungen mit deutschen Unternehmen verbunden, die Produkte in den Apartheidstaat lieferten oder direkt dort investierten. Ein investigativer Artikel der taz aus dieser Zeit nannte in diesem Zusammenhang die Firmennamen BASF, Krupp, Volkswagen und Thyssen.

Ebenso nachgewiesen sind die Machenschaften der Dresdner Bank im südafrikanischen Goldgeschäft und ihre Beteiligung von 51 Prozent über eine Tochter an der namibischen SwaBank. Diese verlieh Geld an die südafrikanische Regierung und finanzierte Rohstoffausfuhren. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre stammte ein Drittel des Urans der westdeutschen Atommeiler aus einer Mine in Namibia. Dieser Handel war völkerrechtswidrig. Das UNO-Dekret Nr. 1 verbot allen ausländischen Unternehmen, namibische Bodenschätze auszubeuten und zu exportieren, da das Land illegal von Südafrika besetzt war. Auch deutsche Konzerne setzten sich über Umwege darüber hinweg und behandelten Namibia noch immer wie eine Kolonie.   

Erst 1990 wurde Namibia dank der SWAPO-Befreiungsbewegung und wegen der Erosion des Regimes in Südafrika ein unabhängiger Staat. Nun war der Weg frei, um würdig der einstigen Kolonialverbrechen zu gedenken und dafür zu kämpfen, dass die Bundesrepublik als Rechtsnachfolger des Deutschen Kaiserreichs den Völkermord an den Ovaherero und Nama anerkennt und Entschädigungen an die Nachkommen zahlt.

Aert van Riel

ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus. 2023 erschien von ihm im PapyRossa Verlag »Der verschwiegene Völkermord: Deutsche Kolonialverbrechen in Ostafrika«, im Frühjahr 2025 erscheint dort in der Reihe Basiswissen ein Band zum Thema »Genozid«.

Thema in ak 709: Deutschland und Namibia

Thema in ak 709: Deutschland und Namibia