Ein polarisiertes Land geht wählen
Autoritärer Staatsumbau vs Weiter-so mit kleinen Korrekturen. Was sind Trumps und Harris’ Pläne für die USA?
Von Caspar Shaller
Amerikanische Präsidentschaftswahlen des 21. Jahrhunderts können sich zuweilen anfühlen wie ein ewiges Déjà-vu: Schon wieder stehen wenige Wochen vor der Wahl die zwei Kandidat*innen in Umfragen Kopf an Kopf. Schon wieder gilt der Swing State Pennsylvania als alles entscheidend, schon wieder tritt ein Vize eines vorhergehenden Präsidenten an, schon wieder Trump. Und schon wieder soll es die alles entscheidende Wahl sein. Der linksliberale Nachrichtensender MSNBC attestierte einen fundamentalen Richtungsentscheid: »Harris’ Programm geht darum, nach vorne zu schreiten. Das von Trump geht rückwärts.«
An Kamala Harris’ Wahlkampfveranstaltungen sang die Menge gerne: »We are not going back!« Doch wohin? Harris wäre zwar die erste Frau im Präsidentenamt, doch steht sie als Vizepräsidentin unter einem Präsidenten, der selbst einmal Vizepräsident war, für Kontinuität, den Status quo. Trump hingegen verspricht einmal mehr die fundamentale Umwälzung der amerikanischen Gesellschaft.
Republikanisches Umsturz-Programm
Welch revolutionärer Geist die Republikaner erfasst hat, offenbarte das Project 2025. Dieses war 2022 von der arbeitgebernahen Heritage Foundation gegründet worden, um die Machtübergabe an einen republikanischen Präsidenten vorzubereiten. Auf 900 Seiten breiten konservative Vordenker*innen ihre Vision für die ersten 180 Tage einer konservativen Machtübernahme aus. Es soll eine »zweite amerikanische Revolution« werden, äußerte Kevin Roberts, der Vorstand der Heritage Foundation, gegenüber einem rechten Podcast. Der 900-Seiten-Plan zielt auf die Konzentration der Regierungsgewalt in der Exekutive, indem Behörden und Ämter fundamental umstrukturiert und die meisten Beamt*innen gefeuert und durch Konservative ersetzt werden.
Manches ist altbekannt – niedrigere Unternehmenssteuern, ein Verbot von Abtreibung, die Ablehnung von Diversity und Klimaschutz -anderes dagegen sind offenbar neue Obsessionen, ein Verbot von Pornografie etwa. Ganze Ministerien sollen eingestampft werden, darunter das Handels- und das Bildungsministerium. Die Gewerkschaften sind besonders alarmiert. Project 2025 will die meisten Fortschritte im Arbeitsschutz der letzten 100 Jahre kassieren, Gewerkschaften für Staatsangestellte verbieten, den Zugang zu Arbeitslosengeld drastisch beschränken, Überstundengesetze sowie Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften und den Mindestlohn auf Bundesebene abschaffen. Selbst Gesetze zu Kinderarbeit sollen gelockert werden. Gleich am ersten Tag soll der neue Präsident die von Joe Biden eingesetzte Vorständin des National Labor Relations Board, Jennifer Abruzzo, entlassen. Abruzzo hatte etwas abseits des Rampenlichts entscheidend zur jüngsten Renaissance der amerikanischen Gewerkschaften beigetragen.
Trump versuchte, sich im Wahlkampf von dem Dokument zu distanzieren – er habe nicht vor, es zu lesen –, doch die meisten der Autoren des Umsturzprogramms hatten in seiner ersten Regierungszeit Posten inne. Trump erscheint auch etwa 300 Mal in dem Dokument. Project 2025 und Trumps Positionen unterscheiden sich kaum. Ein großer Unterschied findet sich bei einem der zentralen Wahlkampfthemen: der Abtreibung. Es ist die erste Präsidentschaftswahl seit der Dobbs-Entscheidung von 2022, die das Recht auf Schwangerschaftsabbruch auf Bundesebene kassierte. Trump brüstet sich gerne damit, die Grundsatzentscheidung zur Abtreibung aus den 1970er Jahren, Roe v. Wade, durch die Ernennung von drei der fünf zuständigen Verfassungsrichter*innen gekippt und damit ein langfristiges Ziel der amerikanischen Konservativen erfüllt zu haben.
Doch seitdem wankt der mehrfach geschiedene Playboy, dem vor seiner Wahl das Thema Abtreibung egal zu sein schien. Er äußerte wiederholt die Besorgnis, dass die heftigen Reaktionen auf Dobbs und starke Mobilisierung unter Frauen und jüngeren Wähler*innen seine Wahlchancen gefährden. Heute wolle Trump die Regelung von Abtreibungen den Bundesstaaten überlassen, statt wie bisher ein landesweites Verbot durchzusetzen. Im November stehen in zehn Bundesstaaten, darunter auch in großen Staaten wie Florida und New York, Volksentscheide zum Thema an.
Ein Thema, bei dem Project 2025 und Trump auf einer Linie sind, ist die Migration. Im September verbreitete Trump in der einzigen Präsidentschaftsdebatte höchstselbst das von rechten Influencern gestreute Gerücht, dass haitianische Einwanderer*innen in Ohio die Haustiere ihrer Nachbarn essen würden. Einwanderung und Grenzkontrollen sind für Trumps Wahlprogramm zentral. Er verspricht harte Maßnahmen zur Einschränkung der Migration und die größte Massenabschiebung seit 1954. Selbst die Nationalgarde soll dafür aufgeboten werden, ein Arm des amerikanischen Militärs, dem bisher strikt verboten ist, polizeiliche Funktionen im Inland zu übernehmen. Die Heritage Foundation will das Militär einsetzen, um die Grenze zu Mexiko zu »sichern«. Dazu soll der »Travel Ban« von 2017 wieder aktiviert werden und Anhänger*innen feindlicher Ideologien, etwa Marxist*innen oder Kritiker*innen Israels, das Land nicht mehr betreten dürfen.
Verhängnisvoller Stillstand
Beim Thema Migration sieht es jedoch auch auf der anderen Seite des politischen Grabens düster aus. Nachdem die Demokraten sich jahrelang als Verteidiger der Einwandererrepublik USA darstellten, haben sie nun umgeschwenkt und versuchen, wie linksliberale Parteien andernorts, ihre rechten Konkurrenten auf deren Feld zu schlagen. Kamala Harris sorgte 2021 unter Linken für einen Sturm der Entrüstung, als sie bei einem offiziellen Besuch in Mittelamerika potenzielle Geflüchtete und Einwanderer*innen davor warnte, ihre Reise in die USA anzutreten: »Do not come«, sprach sie ins Mikrofon.
Es ist nicht das einzige Thema, das die Erzählung, mit den Demokraten würde das Land in eine bessere Zukunft voranschreiten, schal wirken lässt. Harris’ aktueller Chef setzte mit seinen »Bidenomics« noch auf milden Keynesianismus: öffentliche Investitionen, strategische Handelshemmnisse und eine Stärkung der Gewerkschaften. Harris gilt als weit weniger progressiv. Zwar unterstützt sie eine Anhebung des Mindestlohns und eine für amerikanische Verhältnisse radikale Idee – Kindergeld – aber ihre Pläne etwa für eine Unternehmenssteuerreform fallen viel zahmer aus, als Biden es bisher vorhatte. Das ist wenig erstaunlich, hat sich Harris doch sehr ins Zeug gelegt, Spender*innen von der Wall Street zu finden. Selbst der ehemalige Vizepräsident Dick Cheney, ein Gruselgespenst aus der Bush-Ära, unterstützt Harris. »Not going back« bedeutet nicht mehr als weiter wie bisher – ein Status quo, unter dem viele Amerikaner*innen in Armut leben, Gewalt erfahren und der das Weltklima an die Wand fahren lässt.
Selbst der ehemalige Vizepräsident Dick Cheney, ein Gruselgespenst aus der Bush-Ära, unterstützt Harris.
Trump hingegen will die amerikanische Wirtschaft tiefgreifend umpflügen – und damit auch die Weltwirtschaft. Nach dem Motto »Auge um Auge, Zoll um Zoll« sollen ausländische Importe zurückgedrängt und der deindustrialisierte Rust Belt wieder in blühende Landschaften verwandelt werden. Damit liegt er nicht weit weg von »Union Joe«: Biden setzte zum Erstaunen von (vor allem europäischen) Beobachter*innen auch auf einen Schutz des amerikanischen Marktes vor ausländischer Konkurrenz. Seine Regierung hatte die ursprünglich von Trump eingeführten Zölle auf China in Höhe von rund 360 Milliarden Dollar aufrechterhalten und zusätzliche Zölle in zweistelliger Milliardenhöhe eingeführt. Harris ist schwieriger zu fassen. Obwohl sie sich vor ihrer Zeit als Vizepräsidentin von Protektionismus distanziert hatte, stimmte sie im Senat mehrfach gegen Freihandelsabkommen.
Außenpolitik könnte entscheiden
Was den Demokraten das Genick brechen könnte, ist die Außenpolitik. Normalerweise interessieren sich amerikanische Wähler*innen kaum dafür, was außerhalb ihrer Grenzen passiert. Doch die anhaltende Unterstützung Israels im Nahostkonflikt hat viele Linke gegen die Demokraten aufgebracht. Wenn genügend Wähler*innen, gerade in Swing States wie Michigan, wo viele arabischstämmige Wähler*innen leben, aus Frust über Bidens Nahostpolitik zu Hause bleiben oder leer einlegen, wie es viele aus Protest in den Vorwahlen taten, könnte Harris entscheidende Prozentpunkte verlieren. Es ist darum schwierig, aus ihren Äußerungen herauszulesen, wie sie Netanjahu gegenüber agieren würde. Sie hat zwar die humanitäre Krise in Gaza früher und schärfer verurteilt als Biden, doch viele Linke sehen darin nur den strategischen Versuch, ihre Stimme zu erhaschen. Mit Trump ist eine Unterstützung Israels sicher. In seiner Amtszeit verlegte er die amerikanische Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem und erkannte die Golanhöhen als Teil Israels an, beides Forderungen der israelischen Rechten.
Ansonsten bleibt Trump außenpolitisch unberechenbar. Zwar stänkert er gegen die NATO und eine Unterstützung der Ukraine, doch welche erratischen Entscheidungen Trump in seiner zweiten Amtszeit treffen würde, ist nicht vorherzusehen. Es ist also eine Wahl zwischen einem bekannten Übel und einem neuen Schrecken. Schon wieder so ein Déjà-vu.