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|Thema in ak 708: US-Wahlen und die Linke

Die Prosa der Aufstands­bekämpfung

Eine repressivere Innenpolitik und die militärische Unterstützung für Israel bestimmen abolitionistische Kämpfe in den USA

Von Jochen Schmon

Demonstrant*innen mit Schildern stehen vor einem Gebäude mit Glasfront. Auf den Schildern steht: "Stop Cop City", "Defund the police" und "City of Atlante, how many more? Black and Indigenous Lives Matter".
Cop City stoppen, der Polizei die Finanzierung entziehen: Protest vor dem Rathaus von Atlanta gegen den Bau eines Polizeitrainingsgeländes im Januar 2023. Foto: Kornelia Kugler

Mit dem Begriff der »Prose of Counterinsurgency« (Prosa der Aufstandsbekämpfung), geprägt vom postkolonialen Theoretiker Ranajit Guha, lässt sich wohl am besten beschreiben, wie im derzeitigen Wahlkampf in den USA mit den Themenkomplexen der abolitionistischen Bewegung umgegangen wird. Guha beschrieb, wie Aufstände gegen koloniale und rassistische Machtverhältnisse von der Dominanzgesellschaft und ihren Institutionen als purer Vandalismus herabgewürdigt werden – als »fanatische Krawalle« und »bloße Randale« gegen Eigentum, Rechtsstaat und die Hüter der öffentlichen Sicherheit.

Auch in diesem Wahlkampf ertönt diese Prosa – insbesondere in Bezug auf die antirassistischen Aufstände von 2020, die unter der Forderung der »Abschaffung der Polizei« den größten zivilgesellschaftlichen Aufruhr in der Geschichte des Landes mobilisiert hatten. 2024 gilt dieser Aufstand als »Eine tragische Zeit in der Geschichte unseres Landes«, in der einzig und allein ein rigoroser Einsatz der Nationalgarde der außerordentlich »gefährlichen Situation« für das Leben der Bevölkerung, der Polizei und der »umfassenden Zerstörung privaten Eigentums« Einhalt gebieten konnte.

Gesagt haben das weder Donald Trump, noch Joe Biden, der in den 1990er Jahren in der Regierung Bill Clintons maßgeblich am Ausbau des »Prison-Industrial-Complex« und der Polizei beteiligt war. Es waren auch nicht die Worte der Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris, die sich bereits in ihrer politischen und staatsrechtlichen Karriere in Kalifornien den Namen »Cop Kamala« verdient hat. Die Äußerungen stammen vom Tim Walz, dem auch bei linken Demokrat*innen gefeierten Vizepräsidentschaftskandidaten. Er bezog sich dabei jüngst auf seine Rolle als Gouverneur von Minnesota. Geht es um die Problemfelder abolitionistischer Politik, wie Polizeigewalt, Masseninhaftierung, Todesstrafe, Grenzkontrollen, Migrations- und Einbürgerungsrecht sowie Militär- und Rüstungspolitik, herrscht ein nahezu einstimmiger Konsens zwischen den Führungsriegen der Demokratischen und Republikanischen Partei.

Rechte ringen um ihr Alleinstellungsmerkmal

Dieser repressiven Einstimmigkeit zum Trotz versuchen sich jedoch die Parteispitzen, in der Verschärfung und Ausweitung strafender Institutionen und rassistischer Gesetzgebungen sowie der Unterdrückung von Widerstandsbewegungen zu überbieten.

Zeichnung einer freundlich dreinschauenden Freiheitsstatue, die ein Mikrofon in die Höhe recht, vor roten Streifen

Podcast zur US-Wahl What’s left?

Bis zum 11. November jede Woche Montag: der linke Podcast zur US-Wahl. In jeder Folge spricht Lukas Hermsmeier mit Expert*innen und Aktivist*innen aus den USA über die Fragen, die das Land und die Welt bewegen.

So wurde Walz in den letzten Wochen mehrfach von Trumps Lager und den ihm nahestehenden Medien vorgeworfen, er habe 2020 als Gouverneur nicht rechtzeitig die Nationalgarde gegen die massiven Aufstände gerufen und stattdessen Bürger*innen der »blanken Zerstörungswut linken Mobs« überlassen. Es war in Walz‘ Landeshauptstadt Minneapolis, wo George Floyd von Polizeikräften umgebracht wurde. In seiner öffentlichen Stellungnahme gegen die Vorwürfe Trumps erwähnte Walz diesen Mord jedoch mit keinem Wort, genauso wenig wies er auf die Notwendigkeit struktureller Polizeireformen hin. Was Walz stattdessen als »tragisches« Kapitel in der Geschichte der USA bezeichnete, war die Zerstörung von Polizeistationen, von öffentlichem und privatem Eigentum. Er bedauerte die Tatsache, die Nationalgarde nicht bereits früher einberufen zu haben.

Ähnlich verhielt sich auch Harris in den Debatten um die Migrationspolitik. Nicht nur rühmte sie »die großen Verdienste« der Regierung Bidens, die irreguläre Grenzübergänge wieder auf das Niveau von 2020 gesenkt hat. Per präsidentiellem Dekret beschloss Biden, keine Asylanträge anzunehmen, wenn bereits mehr als 1.500 Grenzübertritte an einem Tag erfolgt sind.

Darüber hinaus betonte Harris, ihre Regierung hätte die Zahlen noch weiter drücken können, wenn die Republikanische Fraktion nicht seit einem Jahr den Gesetzesvorschlag ihrer Partei im Kongress blockiert hätte: »Donald Trump ist dafür verantwortlich. Er nahm sein Telefon, rief seine Freunde im Kongress an und sagte zu ihnen ›Verhindert das Gesetz‹. Das amerikanische Volk verdient einen Präsidenten, der sich mehr um Grenzsicherheit sorgt als um seine persönliche politische Zukunft«, sagte sie jüngst bei einem Besuch an der mexikanischen Grenze Arizonas. Dieselbe Härte, mit der sie gegen irreguläre Migrant*innen in Kalifornien vorgegangen sei, werde auch das Leitmotiv ihrer eigenen Regierung sein. Es brauche schärfere Gesetzgebungen gegen »illegale Migration«, mehr Polizeibeamte, bessere Überwachung und Sicherheitsinfrastrukturen an den Grenzen.

Rechte Bewegungen ringen immer mehr um ihr Alleinstellungsmerkmal – weil demokratische Parteien ihre Forderungen übernehmen.

Noch während Trumps Amtszeit tadelte die Demokratische Partei noch dessen Maßnahmen an der mexikanischen Grenze als »grausam« und »menschenverachtend«, mittlerweile sind Biden und Harris jedoch voll zur Übernahme repressiver Migrationspolitik übergegangen. Die Einschränkung des Asylgesetzes stellt einen erheblichen Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention dar. Unter dem Vorwand von Covid nutzte Biden sogenannten »asylum ban« (Asylaufnahmeverbot), Trumps Deportationsdekret, um sich zum größten Abschieber in der Geschichte der USA zu krönen – mehr als drei Millionen Abschiebungen in nur drei Jahren.

Was vor diesem Hintergrund der diesjährigen Trump-Wahlkampagne einzig übrigblieb, so die Humangeografin Hilary Goodfriend, ist, ihre Frontstellung gegen Migration weiter zu eskalieren. So kündigte der republikanische Vizepräsidentschaftskandidat J.D. Vance an, die Zahl der Deportationen auf 20 Millionen zu erhöhen oder sogar eine militärische Invasion mexikanischen Territoriums, um »organisierte Kriminalität zu bekämpfen«.

Goodfriends Analyse könnte auch in Deutschland dazu anregen, nicht nur die Übernahme von AfD-Politiken durch die etablierten Parteien als selbstzerstörerische Strategie zu kritisieren, sondern um die Radikalisierung rechter Politik selbst als Reaktion auf den zunehmenden Rechtsruck der CDU/CSU, FDP, SPD und der Grünen zu verstehen. Rechtsradikale Bewegungen scheinen mehr und mehr um ihr Alleinstellungsmerkmal zu ringen – durch die feindliche Übernahme ihrer Forderungen vonseiten liberaldemokratischer Parteien.

Neue Aktionsfelder

Die symbolträchtigste Neuentwicklung in der Bekämpfung abolitionistischer Politik in den USA ist die Errichtung sogenannter Cop Cities. Die in sämtlichen Großstädten geplanten oder bereits im Aufbau befindlichen Ausbildungs- und Kasernierungszentren sollen zwischen 70 und 220 Millionen US-Dollar kosten. In diesen Zentren sollen Polizeikräfte explizit auf eine Aufstandsbekämpfung vorbereitet werden.

In Atlanta begann sich nach dem Bau der ersten Cop City schnell Widerstand zu formieren. Ähnlich wie bei der Umweltbewegung besetzten Aktivist*innen das zur Errichtung der Cop City freigegebene Waldgebiet. (ak 690) Nach mehreren gescheiterten Räumungsversuchen wurde die Gruppe als terroristische Organisation eingestuft. Dies erlaubte es auch der Polizei, extreme Brutalität gegen die Besetzung anzuwenden. Trauriger Tiefpunkt war die Erschießung von Manuel Paez Terán. Trotz erhobener Hände gaben mehrere Beamte knapp 60 Schüsse auf dessen Körper ab.

In New York wurde der Bau einer Cop City nur ein paar Wochen nach der gewaltsamen Räumung der Palästina-Solidaritätscamps an der City University, Columbia und New York University verkündet. Auch in diesen Protestcamps, die sich sowohl über das gesamte Land als auch auf internationaler Ebene ausbreiteten, werden dezidiert abolitionistische Kämpfe geführt. Zum einen nehmen sie Bezug auf die extreme Polizeigewalt und Massenverhaftungen von Studierenden für ihren friedlichen Protest gegen den Krieg Israels in Gaza. Zum anderen, weil sie sich gegen die massiven Investitionen und die daraus resultierenden Gewinne ihrer Universitäten in der Rüstungsökonomie Israels stellen. Die Aktivist*innen stellen sich gegen die Unterstützung eines Krieges, bei dem der Internationale Gerichtshof es für »plausibel« befunden hat, die Bevölkerung in Gaza vor einem Völkermord zu schützen, und der sich seit dem Angriff auf den Libanon immer mehr zu einem Regionalkrieg ausweitet.

Die Campusproteste reihen sich damit in die größte zivilgesellschaftliche Bewegung der USA seit den Aufständen um die Ermordung von George Floyd ein. Im Widerstand gegen die finanzielle und waffentechnologische Unterstützung der israelischen Armee durch die US-Regierung, die sich allein in diesem Jahr auf 18 Milliarden US-Dollar beläuft, wurde womöglich ein weiteres Kapitel in der Geschichte des Abolitionismus begonnen.

Die Aufstände gegen den Krieg in Gaza, gegen das Apartheidregime und die Besatzung palästinensischer Gebiete reihen sich in eine Tradition politischer Forderungen ein. Seit den 1960er Jahren fordern abolitionistische Gruppen wie die Black Panther Party for Self-Defense die Abschaffung des militärisch-industriellen-Komplex. Sie gründen auf dem simplen Grundsatz, dass militärisches Unrecht und Brutalität nur damit beendet werden können, indem Waffenlieferungen eingestellt werden.

Ganz der Prosa der Aufstandsbekämpfung entsprechenden Logik werden die Proteste gegen den Krieg in Gaza von den Führungsriegen sämtlicher US-Parteien jedoch als »Terrorismusunterstützung« diffamiert. Harris bekannte sich bereits kurz nach ihrer Nominierung dazu, die uneingeschränkte Unterstützung ihres Vorgängers für die israelische Regierung weiterzuführen. Fragt sich nur, wie lange diese Strategie noch aufrechtzuerhalten ist, wenn mehr als sechs von zehn Wähler*innen sich für ein Waffenembargo aussprechen – und sogar 77 Prozent der Wähler*innen der Demokratischen Partei.

Jochen Schmon

promoviert und lehrt politische Theorie an der New School for Social Research in New York.

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