Wir Novemberkinder
Vor einem knappen Jahr traten einige hundert radikale Linke an, um den Partei-Karren aus dem Dreck zu ziehen – wie ging es danach weiter?
Von Chris Grodotzki
Es ist einer dieser brütenden Augusttage, an denen die Klimakrise auch im sonst noch vom Schlimmsten verschonten Nordosten Deutschlands erahnbar wird. Fünf Aktivist*innen aus drei Generationen sitzen bei 32 Grad im Schatten auf den Stufen der Tagesklinik im Brandenburgischen Strausberg. Gegenüber, an der Fassade der Linkspartei-Geschäftsstelle, brutzeln die Plakate der Landtagskandidatin Kerstin Kaiser mit dem Slogan »Bewährt unbequem gegen Krieg« in der Mittagssonne. Der Großteil der Gruppe ist aus Berlin angereist, um den hiesigen Kreisverband im Wahlkampfendspurt zu unterstützen – am 22. September wird hier gewählt. Doch um richtig loszulegen, fehlt noch der Schlüssel zur Geschäftsstelle.
Also stellen wir uns erstmal vor. Da sind Theresa und ich, zwei der »Novemberkinder«, wie es in meinem Berliner Bezirksverband der Linken liebevoll heißt: Wir hatten uns im November 2023, zusammen mit einigen Freund*innen aus der außerparlamentarischen Linken, nach der Abspaltung des heutigen Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), zum Eintritt in die Partei entschieden. Dem Aufruf unter dem Titel WIR//JETZT//HIER und dem freundlichen, aber bestimmten Manifest zur Neuausrichtung der Partei hatten sich innerhalb kürzester Zeit hunderte weitere, mehr oder weniger linksradikale Aktivist*innen angeschlossen. Seither versuchen Theresa und ich, gemeinsam mit einigen Genoss*innen aus Strausberg, People Power aus Berlin für die kleinstädtisch-ländlichen Strukturen in Brandenburg zu mobilisieren. Theresa hat auch dieses Wochenende organisiert, an dem wir den Haustürwahlkampf in die Strausberger Wohnsiedlungen bringen wollen.
Viel Bewegung …
Dann ist da Hannah, die gerade ihr Abi und ein freiwilliges soziales Jahr im Theater hinter sich hat und als einzige aus der Gegend kommt. Sie ist noch kein Parteimitglied. Angesichts der zu erwartenden Wahlergebnisse in Brandenburg hat sie sich aber vorgenommen, Die Linke als Wahlkampfhelferin zu unterstützen. »Vielen Kolleg*innen am Theater war Die Linke irgendwie zu extrem«, sagt sie. »Aber für mich war klar: Wenn wir die Rechten aufhalten wollen, dann geht das nur von links.« Besonders in den friedenspolitischen Positionen der Partei habe sie sich wiedergefunden, wie bei keiner anderen.
Neben Hannah sitzt Anna und ist ein paar Jahre älter. Sie hat zuletzt am Hasso-Plattner-Institut gearbeitet, wo die Belegschaft eine Betriebsratswahl anstrebte. Die Geschäftsführung torpedierte die Wahl mithilfe mehrerer Anwaltskanzleien. Anna wurde vorgeworfen, die Rechnungen einer Kanzlei an die Medien geleakt und damit das Union Busting aufgedeckt zu haben. Gegen ihre fristlose Kündigung hat sie erfolgreich geklagt und schließlich eine Abfindung erhalten. Die Linke habe ihr und ihren Kolleg*innen als einzige Partei vorbehaltlos zur Seite gestanden.
Martin ist der älteste in der Runde und schon zweieinhalb Jahre Parteimitglied. Aktiv geworden ist er allerdings auch erst nach dem Austritt der »Wagenknechte«: »Den Rosenkrieg, dachte ich mir, sollen die mal selber auskämpfen.« Der 65-Jährige mit den lila-blau-pinken Haaren ist mittlerweile Sprecher der Basisorganisation Schöneberg, die nach der Eintrittswelle des letzten Jahres aus dem Dornröschenschlaf wieder erweckt wurde. »Seitdem haben wir eine KüFa eingerichtet, uns mit Deutsche Wohnen & Co. enteignen und der Initiative 100% Tempelhofer Feld vernetzt und organisieren Proteste gegen den Plan des Senats, in einem ehemaligen Straßenbahndepot, das man wirklich für vieles besser nutzen könnte, ein Polizeimuseum einzurichten«, berichtet er.
Den Rosenkrieg, dachte ich mir, sollen die mal selber auskämpfen.
Martin
Und wie wir Fünf uns da im Schatten vor der Geschäftsstelle herumdrücken, so sind an allen Ecken und Enden der Republik neue Mitglieder dabei, ihren Weg in die Partei zu finden. Zu sehen und zu hören ist von ihnen noch nicht viel. Der mediale Diskurs dreht sich weiter im Kreis um Wahlschlappen, vermeintliche programmatische Unschärfen und die Abwanderung zum BSW. Schaut man jedoch hinter die Kulissen, besonders auf die Basis, ergibt sich ein anderer Eindruck: So viel Bewegung war in der Linken lange nicht. Sei das in Leipzig, bei der erfolgreichen Wahlkampfaktionswoche für Nam Duy Nguyen, beim Aufbau flächendeckender Sozialsprechstunden in den großen Städten – selbst in so manchem ostdeutschen Dorf sind frisch gebackene Genoss*innen dabei, sich und andere zu organisieren. Dafür konnte der Masseneintritt, der nach dem letzten Bundesparteitag im November 2023 allein am ersten Tag über 400 radikale Linke in die Partei spülte (ak 699), natürlich nur ein Startschuss sein. Auch die darauffolgenden Positiv-Schlagzeilen und die vielen tausend weiteren Eintritte der Folgemonate – 5.461 allein im ersten Halbjahr 2024 – konnten den Kollaps der Wahlergebnisse bei der Europawahl und jüngst bei den Landtagswahlen im Osten kaum abfedern.
Manchem Projekt hat das schnell die Luft aus den Segeln genommen. Der ambitionierten »Materialschlacht« zum Beispiel: Vor der Europawahl, die unter anderem in Brandenburg auch Kommunalwahl war, hatte diese Aktion allein aus Berlin über 80 Aktivist*innen in die Peripherie bewegt. Sie wollten der AfD die Straßenlaternen streitig machen und den oft überalterten Kreisverbänden auf dem Land helfen, wenigstens durch Plakate in jedem Dorf präsent zu sein. Berliner Teams waren in allen Brandenburger Kreisen unterwegs, manche sogar noch in Sachsen. Doch schon das Abhängen der Plakate nach der Wahlschlappe gestaltete sich deutlich schwerfälliger. Die Folgemobilisierung zu den Landtagswahlen, das berichten auch die Genoss*innen aus Leipzig, kam dann kaum noch in Gang.
… und ein paar Reibungsverluste
Das mag zum Teil an der kurzfristigen, auf Wahlergebnisse zielenden Aktionsform gelegen haben; an der falschen, aktionistischen Vorstellung, auf diesem Weg direkte Erfolge zu erzielen. Parteiaufbau ist ein Marathon, kein Sprint. Gleichzeitig wurden beim Plakatieren auch andere Probleme deutlich, die diesen Dauerlauf erschweren: In vielen ostdeutschen Ortsgruppen hat sich die Mitgliederstruktur seit dem Ende der DDR nur aufgrund unvorteilhafter biologischer Zwänge verändert. Der Altersschnitt liegt vielerorts bei 75 plus. Die Bereitschaft dazu, Dinge neu und anders zu machen und auf aktivistische Impulse zu reagieren, ist entsprechend gering. Und so fehlte für die große Materialschlacht am Ende das Material; die Aktivist*innen aus Berlin, Dresden und Leipzig zogen mit kaum drei Plakaten pro Dorf ins Gefecht gegen die blaue Übermacht.
Auch inhaltlich gibt es Konfliktlinien zwischen »neuen« und »alten« Parteimitgliedern. Für viele langjährige Parteikader ist die Friedenspolitik sowohl Markenkern der Partei als auch ihrer eigenen Identität. Nach dem Weggang der Hardliner*innen um Wagenknecht befürchten sie die Erodierung wichtiger Anti-Nato-Positionen und der klaren Kontra-Haltung der Partei zu Waffenlieferungen. Das diverse Spektrum der Neumitglieder, die oft andere Schwerpunkte mitbringen, partiell aber auch tatsächlich vom Ukrainekrieg geprägte, bellizistische Positionen, unterfüttern diese Befürchtungen. »Meistens sind das Trennende aber weniger die Positionen, und mehr die Vorstellungen davon, wie Politik gemacht wird«, weiß Suse, die in Strausberg schließlich mit dem Schlüssel zum Büro ankommt. Sie ist 2013 in die Partei eingetreten, kennt ihre Struktur auf vielen Ebenen und hat dieselbe Erfahrung über die Jahre immer wieder gemacht.
»Bei manchen Ü-90-Genoss*innen aus der SED herrscht immer noch das Bild vor; der Bezirksvorstand müsse doch nur dem Parteivorstand mal sagen, dass dieser dem Verteidigungsministerium mal klar machen solle, dass Waffenlieferungen den Konflikt nicht lösen werden«, lacht sie. »Dann gibt es die PDS-Generation mit ihren Ostermärschen und Montagsdemos, die WASG-Gewerkschafter*innen – und jetzt eben euch.« Diese Pluralität der Erfahrungen berge natürlich das Potenzial für Reibungsverluste. Gleichzeitig liegt in ihr auch die Chance, den vielen historischen Brüchen der deutschen Linken zu begegnen und aus den Gemeinsamkeiten eine Tradition zu machen. Denn auch die Gemeinsamkeiten gibt es; viele der älteren Mitglieder sind deshalb noch in der Linken und nicht beim BSW, weil sie deren autoritäre Positionen zur Migration nicht mittragen.
Solche Überschneidungen zu finden und aus ihnen eine praktische, anknüpfungsfähige Politik zu zimmern, das dürfte aktuell die dringlichste Aufgabe der Partei sein. Viele »alte« und »neue« Mitglieder schauen dazu bereits einträchtig nach Österreich, wo die Kommunistische Partei gerade vormacht, wie das geht, mit dem Auferstehen aus Ruinen. Ob der Parteiapparat im nächsten Schritt bereit ist, neue Politikansätze von unten in die höheren Etagen durchsickern zu lassen, das muss er in den nächsten eineinhalb Jahren unter Beweis stellen. »Ich hab’ immer noch das Gefühl, ich wär’ hier neu,« grinst Suse, als wir endlich im Büro stehen. »In jeder anderen Organisation wäre ich schon Alterspräsidentin.«