Strategiepapier Nummer 137
In der Linkspartei herrscht mal wieder reger Schriftverkehr – wir haben für euch quergelesen, damit ihr es nicht tun müsst
Von Caspar Shaller
Die Linke steckt in der Krise. Das zwar nicht erst seit gestern, aber neuerdings sind die Wahlergebnisse und Umfragen so schlecht, dass der Weiterbestand als Parlamentspartei in Frage steht. In dieser desolaten Lage florieren die Strategiepapiere. Unzweifelhaft muss sich die Partei strategisch neu orientieren, dafür liegen einige Analysen und Vorschläge auf dem Tisch. Zurzeit zirkulieren diverse Studien und Theoriepapiere aus verschiedenen Abteilungen der Rosa Luxemburg Stiftung, Artikel in der Tageszeitung nd, dem Stiftungsmagazin Luxemburg, dem linken Magazin Jacobin, Blogeinträge bei links Bewegt, der Onlineplattform der Linken, Repliken darauf und Repliken auf Repliken über Bande gespielt in anderen Publikationen dieses linken Medienökosystems. Es ist auch als regelmäßiger Beobachter schwierig, einen Überblick zu behalten – und vielleicht ist gerade dieser Theorie-Aktionismus nicht nur Symptom der Krise, sondern demonstriert in seiner vielstimmigen Kakofonie auch, wie orientierungslos und gespalten die Partei noch immer ist.
2024 häufen sich diese Strategiepapiere zwar, doch wenn man erstmal an einem Faden zieht, entspannt sich ein Netzwerk aus Essays, Punkteprogrammen und Antworten darauf, das fast ohne Unterbrechung zurück bis zu der Zeit um die letzte Bundestagswahl 2021 und darüber hinaus verläuft. Was ist die Rolle der Linken? Was ist das überhaupt für eine Partei? Wie soll sie sich intern organisieren? Wie ist ihr Verhältnis zu sozialen Bewegungen? Was für ein Verständnis von Klasse vertritt die Partei? Soll sie regieren oder nicht und mit wem? Und was kann sie konkret tun, um Macht, Hegemonie, eine Regierungsoption oder zuletzt auch nur den Verbleib im Parlament zu sichern? Grundlegende Fragen wie diese scheinen seit Jahren ungeklärt.
Auffällig ist, was fehlt
Viele der strategischen Konzepte, die die Debatten der 2010er Jahre geprägt haben, etwa die Mosaiklinke oder die »verbindende Klassenpolitik« erscheinen in den aktuellen Diskussionen kaum mehr oder nur, um abmoderiert zu werden. Doch dazu haben sich in den letzten Jahren neue Themen gesellt. Allen voran die geopolitischen Verwerfungen vor allem durch den Ukraine-Krieg (während der Nahostkonflikt erstaunlicherweise kaum auftaucht), die Frage nach Waffenlieferungen und die Wiederaufrüstung der BRD. Das alles firmiert im Partei-Diskurs unter dem Titel »Frieden«. Auch der Klimawandel, die dadurch ausgelösten Katastrophen, der ökologische Umbau unter kapitalistischer Prämisse und das Verhältnis zur Klimabewegung sind zentrale Themen. Daneben beschäftigen sich viele Papiere mit dem Rechtsruck, der Entfremdung vieler Bürger*innen von Parteien und Institutionen, dem Kulturkampf von rechts und das dadurch gepushte Thema Migration. Doch trotz vieler differenzierter und erhellender Analysen dieser Probleme bleibt nach der Lektüre all dieser Texte unklar, was denn nun die Position der Partei etwa zum Thema Frieden sein soll oder wie sie diese kommuniziert.
Viele (aber nicht alle) Texte stammen aus denselben wenigen Federn. Mario Candeias, der ehemalige Leiter des Institus für Gesellschaftsanalyse der RLS, sein Vorgänger Michael Brie und der Leiter der Stiftung, Heinz Bierbaum, haben in den letzten Monaten und Jahren einige Besserungsvorschläge in den Raum geworfen. Dafür sind sie auch da, sie befassen sich hauptberuflich mit Gesellschaftsanalyse und Theorie. Daneben steigt Ulrike Eifler, die Bundessprecherin der Gewerkschafter*innen in der Partei, immer wieder mit Diskursbeiträgen in den Ring. Mit Verve wirft sich zudem Ines Schwerdtner in die Diskussionen, die gerade als Co-Parteivorsitzende kandidiert. Schwerdtner und Eifler bringen immer wieder das Verhältnis zu Gewerkschaften und die Zentralität der Klassenfrage aufs Tapet. Diese Strömung scheint zurzeit besonders mit Ideen munitioniert.
Auffällig ist, was fehlt: Bevor sich Sahra Wagenknecht mit dem BSW abspaltete, hofften die Autor*innen vieler Papiere darauf, dass damit eine grundlegende Spaltung einfach verschwinde und übergingen die Probleme, die ein linkskonservatives Projekt aufwirft, oft einfach. Nun, da sie weg ist, scheint sich die Partei jedoch auch nicht im Klaren zu sein, was das jetzt heißt und wie man darauf reagieren soll. Meist taucht die Frage BSW kaum auf.
Konkrete Taktiken? Eher Fehlanzeige
In der Fülle an Strategiepapieren kann man drei Ebenen der Problemanalysen und Handlungsvorschläge erkennen. Erstens ist da die Tektonik, die das Terrain bestimmt, auf dem man kämpft: Analysen der großen, langfristigen Veränderungsprozesse, von Geopolitik, wirtschaftlicher Transformation, gesellschaftlichem Wandel und so weiter. Zweitens die darauf aufbauenden Strategiediskussionen, wie man auf diese tektonischen Verschiebungen reagieren soll.
Strategie ist nach alter Militärtheorie der langfristige Plan, wie man einen Krieg gewinnt. Es gibt aber drittens auch Taktik, kurzfristige Wege, um erstmal aus einer Schlacht siegreich hervorzugehen. Hier gibt allerdings kaum eines der Papiere Antwort darauf, wie man die nächsten anstehenden Schlachten – Landtags- und Bundestagswahlen etwa – zu gewinnen gedenkt, damit man überhaupt noch ein Projekt hat, das man langfristig verfolgen kann. Die drei Ebenen sind auf vielfältige Art verzahnt. Es ist eine Zwickmühle: Wie will man kurzfristige Taktiken umsetzen, wenn man im Wahlkampf von den Unstimmigkeiten in den großen Fragen aus der Bahn geworfen wird? Wenn die Partei sich beispielsweise taktisch entscheidet, ihre Kräfte in einer Region zu konzentrieren, kann sie da kaum reüssieren, wenn ihre Kandidat*innen beim Thema Waffenlieferungen keine stringente Position formulieren. Die meisten Strategiepapiere stellen sich dieser Zwickmühle nur teilweise. Viele bleiben bei den großen Fragen im Allgemeinen, bei der Strategie vage und haben zu konkreten Taktiken meist gar nichts zu sagen.
Vielleicht ist gerade dieser Theorie-Aktionismus nicht nur Symptom der Krise, sondern demonstriert auch, wie gespalten die Partei noch immer ist.
Handfest sind die Vorschläge von Daphne Weber, Mitglied des Parteivorstands aus Niedersachsen. Im Mai schlachtete sie mit ihrem Papier »Für eine Weststrategie« eine heilige Kuh der Linken, den Fokus auf Ostdeutschland. Abseits von diesem kontroversen Titel finden sich in dem Text jedoch sehr konkrete, kurzfristige Handlungsvorschläge. Sie fordert eine klare Analyse, was die Partei »konkret, mit wem, mit welchen Mitteln, zu welchem Zeitpunkt, realistisch betrachtet durchsetzen kann«. Damit ist sie den meisten anderen Autor*innen zumindest in der klaren Fragestellung voraus. Webers Rezept lautet Konzentration der Mittel auf wenige Regionen im Westen: Ruhrgebiet, Südhessen, die Region Hannover. Wo die Linke bereits stark ist – in Bremen, Berlin, Leipzig –, sollen die Landes- und Kreisverbände ihre Arbeit weiterführen. Konzentration aber auch auf Milieus – Dienstleistungsbeschäftigte, prekäre Rentner*innen, Mieter*innen und Migrant*innen – und wenige Themen. Zur Auswahl stellt Weber den Mietendeckel, die Rentenreform, Klimawandel als Klassenfrage und bessere Arbeitsbedingungen im Dienstleistungssektor sowie Steuererleichterungen für niedrige und mittlere Einkommen. Das alles soll unter dem Zeichen einer Polarisierung unten gegen oben kommuniziert werden, ein Konzept, das an den Linkspopulismus von Chantal Mouffe und der spanischen Partei Podemos erinnert. Bei den vielfältigen anderen Spaltungsthemen soll eine »einheitliche Sprechfähigkeit hergestellt werden«. Aber wie?
Meinungskorridor und strategisches Zentrum
Damit hadern viele der Papiere. Die Frage, wie man die Partei intern organisiert, wie man zu Entscheidungen kommt und diese geschlossen nach außen vertritt, nimmt viel Raum ein. Mal geht es nur um einen »Meinungskorridor« (ohne zu sagen, wie man dafür die Wände hochzieht), doch häufiger fällt der Begriff »strategisches Zentrum«. Damit ist einerseits gemeint, dass die Partei in der Mitte der gesellschaftlichen Linken sein, dass sie disparate Strömungen zusammenbringen soll.
Einige, wie Ines Schwerdtner, verweisen andererseits aber auch auf die Erfolge der Partei der Arbeit in Belgien, PVDA, und der KPÖ in Österreich. Beide bestehen aus einem harten, gut organisierten Kern an Kadern, die zwar rege diskutieren, aber dann die Parteilinie nach außen halten. Als Balance zu diesem Kern taucht immer wieder die Idee auf, Vorfeldorganisationen nach dem (eigentlich gescheiterten) Modell von Momentum und Corbyn-Labour im Vereinigten Königreich zu gründen. Diese würden einen weicheren Einstieg ermöglichen, man müsste nicht Mitglied der Partei sein und wäre doch irgendwie an sie angebunden. Einmal heißt dieses Konzept »umgekehrtes Aufstehen«, ein andermal »KPÖ Plus«, nach dem Zusammenschluss der Grünen Jugend und der KPÖ.
Das sei dort jedoch aufgrund der Hinwendung der Grünen Jugend zur Klassenpolitik geschehen, mahnt Ines Schwertner an. Sie will einige andere Neuerungen von den schnell wachsenden linken Parteien in den Nachbarländern übernehmen: Gehälter von Mandatsträger*innen sollen gedeckelt werden, auch eine Arbeiter*innen-Quote für Parteigremien nach dem Modell der PVDA wird vorgeschlagen, auch wenn unklar bleibt, wie man Arbeiter*in definieren würde. Aber vor allem soll die Partei unter dem Schlagwort »Kümmererpartei« stärker im Leben der Menschen präsent sein, durch Sozialfonds ebenso wie Stadtteilbüros, Straßenfeste, Haustürwahlkampf und insgesamt bessere Ansprechbarkeit. Auch das ist eine eher mittel- und langfristige Strategie. Ob sie sich durchsetzen und schnell genug Früchte tragen kann?