Ukraine: Der Nationalismus und sein linker Flügel
Von Ewgeniy Kasakow
In der heutigen Ukraine existieren keine relevanten politischen Kräfte, die für sich die Bezeichnung »links« reklamieren. Die offizielle Version der Nationalgeschichte wird als Kampf für die als »westlich« und »europäisch« gelabelte Freiheit gegen das als »wild« und »barbarisch«, nicht selten offen als »asiatisch« oder »orientalisch« gelabelte Russland dargestellt. Im gleichen Atemzug bedient sich die ukrainische Propaganda auch des Vokabulars der postkolonialen Theorie. So spricht Tamila Tasheva, die ständige Vertreterin des Präsidenten der Ukraine in der Autonomen Republik Krim, die 2014 von Russland annektiert wurde, immer wieder von »Siedlerkolonialismus« in Bezug auf die russische Bevölkerung der Halbinsel. Die sowjetische Vergangenheit wird in dieser Erzählung als Fortsetzung der zaristischen Unterdrückungspolitik und als unmittelbare Vorgängerin von Putins Krieg gesehen. Dass der erste Versuch, einen ukrainischen Nationalstaat zu gründen, wesentlich von sozialistischen Kräften ausging, gerät dabei in Vergessenheit.
Die linke Schlagseite des frühen ukrainischen Nationalismus rührte unter anderem von den sozialen Bedingungen her, auf die er im 19. Jahrhundert traf. Die adligen Grundbesitzer sprachen Polnisch oder Russisch, Ukrainisch galt als »grobe« Sprache der Bäuer*innen. Die Forderungen der jungen Unabhängigkeitsbewegung waren eng mit der Lage der Landbevölkerung verbunden. Den ukrainischen Sozialist*innen fiel es relativ schwer, Verbindungen zur internationalen Bewegung aufzubauen. In der auf das Industrieproletariat orientierten Sozialdemokratie waren die von der Urbanisierung wesentlich weniger erfassten Ukrainer*innen deutlich gegenüber Russ*innen, Pol*innen, Jüdinnen und Juden sowie Deutsch-Österreicher*innen unterrepräsentiert. Von den russischen Sozialrevolutionär*innen unterschieden sich die ukrainischen vor allem dadurch, dass in der Ukraine die »Obschina«-Dorfgemeinschaft nicht verankert war. Die Agrarsozialist*innen Russlands setzten große Hoffnung in diese kollektive Lebensform.
Mit Beginn des Russischen Bürgerkriegs (1917–1921), in dessen Verlauf entschieden wurde, welche Teile Osteuropas zur späteren Sowjetunion gehören sollten, stand für die Linke an der Spitze der Ukrainischen Volksrepublik die Staatsgründung an erster Stelle und weniger die Umsetzung sozialistischer Ziele.
Im marxistischen Lager wurde das Klischee von der »bäuerlich-rückständigen« Ukraine kaum hinterfragt. Marx und Engels nahmen den »Ruthen*innen« ihre Feindschaft gegen die polnische und ungarische Revolution und die damit verbundene Loyalität zu den Habsburgern übel. Rosa Luxemburg sah im ukrainischen Nationalismus mehr eine Erfindung der Intellektuellen – was sich ohne Schwierigkeiten über jeden Nationalismus in seiner Gründungsphase sagen ließe. Lenin, Trotzki und nicht zuletzt Stalin haben demgegenüber die Existenz des »ukrainischen Volkes« als objektive Gegebenheit gesehen und diesem auch ein Recht auf »nationale Selbstbestimmung« im sozialistischen Rahmen eingeräumt. Von nun an war die Existenz der ukrainischen Identität staatlich anerkannt, die ukrainische Sprache bekam offiziellen Status, die irredentistischen Ansprüche der ukrainischen Nationalisten an Ostgalizien, Nordbukowina, Transkarpatien wurden von kommunistischen Parteien übernommen. 1922 wurde die Ukraine Teil der Sowjetunion. Zum Zweck der Industrialisierung begann der Sowjetstaat ab 1929, das Privateigentum an Grund und Boden aufzuheben. Die gegen den Willen der Bäuer*innn durchgeführte Schaffung von Produktionsgenossenschaften hatte allerdings Hungersnöte mit Millionen Toten zur Folge. Widerspruch gegen diese Politik wurde im großen Maßstab mit Deportationen und Verurteilungen zu Zwangsarbeit bestraft.
In den Folgejahren zogen immer mehr Ukrainer*innen in die Städte, immer mehr nicht ukrainische Fachkräfte zogen in die Republik. Die bäuerliche Lebenswelt, auf die sich die Nationalbewegung ursprünglich bezogen hatten, verschwand. Russischkenntnisse erhöhten wieder die Chancen auf den sozialen Aufstieg. Der ukrainischen Identität haftete während der gesamten Sowjetzeit ein bäuerliches Image an.
Teile der nationalistischen Opposition übernahmen das Bild des bäuerlichen Volkes; von anderen Nationalist*innen wurde es empört zurückgewiesen. Beide Fraktionen teilten jedoch die Unzufriedenheit mit dem Status der Ukraine in der UdSSR und den echten oder vermeintlichen Russifizierungstendenzen. Einige sahen sich durchaus als Linke. Im Exil existierten ebenfalls kleine linke Organisationen und Medien.
Die Unabhängigkeit 1991 wurde jedoch von Anfang an als ein antikommunistisches Projekt präsentiert. Linke Parteien innerhalb des neuen Staates hatten sich vor allem an die russischsprachige Bevölkerung gewendet und wurden ab 2014 zunehmend nur noch als »pro-russisch« betrachtet. Der Teil der Linken, der 2004 und 2013/14 in den Protesten auf dem Maidan eine Chance sah, versucht gleichzeitig, sich von der sowjetischen Vergangenheit zu distanzieren und sich eine westkritische Rhetorik des Antikolonialismus anzueignen. Da die Basis des früheren ukrainischen Agrarsozialismus in einem stark urbanisierten Land nicht mehr existiert, lässt sich an sein Erbe nur schwer anknüpfen.