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|Thema in ak 706: Campismus & Befreiungsnationalismus

Nordirland: Religiöser oder nationaler Konflikt?

Von Dietrich Schulze-Marmeling

Der Nordirische Konflikt hat Traditionswert in der Linken. Illustration: Donata Kindesperk

Der Konflikt in und um Nordirland unterschied sich von anderen befreiungsnationalistischen Kämpfen nicht nur dadurch, dass er in Europa stattfand. Eine Bürgerrechtsbewegung verlangte zunächst nicht mehr als die Gleichstellung der katholischen Minderheit mit der protestantischen Mehrheit. Sie forderte die Übertragung der im Rest des Vereinigten Königreichs existierenden »demokratischen Standards« auf die Provinz.

Nordirland war als »protestant state for protestant people« ins Leben gerufen worden. Bei der Teilung der Insel wurde die Grenze so gezogen, dass sie eine protestantische/probritische Mehrheit garantierte. Die Situation der katholischen Minderheit, ihr weitgehender Ausschluss von politischer und ökonomischer Teilhabe, erinnerte viele an die der Schwarzen in den USA.

Später verglichen Republikaner*innen und Nationalist*innen die Situation in Nordirland mit der im Apartheidstaat Südafrika. Tatsächlich gab es in den 1980er Jahren eine enge (militärische) Zusammenarbeit von ANC und IRA. Aber der Vergleich hinkte trotzdem, denn: In Südafrika herrschte eine Minderheit über eine Mehrheit, und nicht, wie in Nordirland, eine Mehrheit über eine Minderheit. Der Vergleich erfüllte auch einen propagandistischen Zweck. Häufig bekam der Besucher vom Kontinent zu hören: »Wenn nur die Protestant*innen weiß wären, die Katholik*innen aber schwarz, würdet ihr den Konflikt besser verstehen – eben nicht als einen Religionskrieg.«

»Antiimperialistisch«, d.h. gegen die britische Herrschaft gerichtet, wurde es erst, als sich der britische Staat auf die Seite der Protestanten/Unionisten schlug, die ihrerseits keinen Reformwillen erkennen ließen.

Eine interne Lösung des Konflikts bzw. eine Reform des nordirischen Staates erschien deshalb als unmöglich. Als naiv erwies sich die Hoffnung des marxistisch orientierten Teils der republikanischen Bewegung auf eine Einheit von katholischer und protestantischer Arbeiter*innenklasse. Der Generalstreik protestantischer Arbeiter*innen 1974 war einer der militantesten und erfolgreichsten im Nachkriegseuropa – aber es war ein reaktionärer, der sich gegen die Etablierung einer interkonfessionellen Regierung wandte.

Auch fand der marxistische Flügel, die Official IRA, keine Antwort auf die loyalistischen Mobs, die – mit Unterstützung der protestantischen Polizei – katholische Häuser niederbrannten und katholische Zivilisten ermordeten. Weshalb der nationalistische Flügel der IRA, die Provisional IRA, die Führung im republikanischen Lager übernahm – mit Unterstützung von linken Republikanern wie dem jungen Gerry Adams, die in einigen Fragen den Officials durchaus nahe standen.

Auch schienen die Provisionals über die richtige Analyse zu verfügen: Wenn die Grenze eine protestantische Mehrheit garantiert, welche keinerlei Anstalten macht, den Staat zu reformieren, dann muss diese Grenze beseitigt werden. Bürgerrechte gibt es für nordirische Katholik*innen nur in einem vereinigten Irland.

Seither haben sich die Dinge erheblich verändert: Bei den nordirischen Parlamentswahlen von 1969 errangen die Unionist*innen 39 Sitze. Nationalist Party, Northern Irish Labour und Republican Labour kamen addiert auf neun Sitze. Von 1921 bis 1972, also bis zu dem Zeitpunkt, an dem die britische Regierung das nordirische Parlament, damals das einzige Regionalparlament im Vereinigten Königreich, suspendierte, wurde die Provinz nur von einer einzigen Partei regiert. Und heute? Im aktuellen Parlament sitzen 35 Nationalist*innen (27 Sinn Féin, 10 Social Democratic and Labour Party) und 35 Unionist*innen. Des Weiteren 17 Abgeordnete der Alliance Party, die sich einem irischen Einheitsstaat nicht verschließen würden. »First Minister« des ehemaligen »protestant state for protestant people« ist die Republikanerin Michel O’Neill, Tochter eines ehemaligen IRA-Aktivisten.  

Verändert hat sich auch die republikanische Strategie. Bereits Ende der 1970er Jahre waren Adams und seine Mitstreiter*innen zu der Erkenntnis gelangt, dass sich die Briten nicht militärisch vertreiben lassen. Parallel hierzu erfolgte eine Säkularisierung des republikanischen Verständnisses von Politik und Sozialismus.

Einige Jahre später gelangten Adams und Co. noch zu einer weiteren Erkenntnis: Dass sich die Protestanten nicht in einen irischen Einheitsstaat zwingen lassen. Bis dahin war man der Auffassung: Entzieht London den Protestant*innen die Rückendeckung, werden diese sich mit einer Vereinigung abfinden. An dieser Stelle gibt es auch einen erheblichen Unterschied zwischen IRA/Sinn Féin und der Hamas – trotz der in republikanischen Kreisen verbreiteten Sympathien mit der islamistischen Organisation: Die Republikaner haben nie ein Existenzrecht der »Siedler-Community« auf der irischen Insel infrage gestellt. Im Gegenteil: Man versuchte diese davon zu überzeugen, dass sie auch Iren seien.

Dass es 1998 zu einem Friedensabkommen kam, war wesentlich der Internationalisierung des Konflikts geschuldet, die maßgeblich von den Republikaner*innen betrieben wurde. Wichtige Adressat*innen waren hier die Clinton-Administration und die irischstämmige Community in den USA. Der Preis, den linke Republikaner*innen dafür zahlen mussten, war die Reduzierung antikapitalistischer und antiimperialistischer Rhetorik.

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Muster mit Aufschrift "Der Feind meines Feindes"
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