Kurdistan: Die Geschichte des demokratischen Konförderalismus
Von Hêlîn Dirik
Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gründete sich 1978 mit dem Ziel eines vereinten sozialistischen Nationalstaats Kurdistan. Sie entstand als Widerstandsbewegung gegen die Unterdrückung und Ausbeutung von Kurd*innen durch die Staaten Türkei, Syrien, Iran und Irak. Die Gründungsmitglieder sahen einerseits eine mangelnde Bereitschaft der (türkischen) Linken, sich tiefergehend mit der kurdischen Frage auseinandersetzen oder diese überhaupt anzuerkennen.
Gleichzeitig organisierte die PKK sich auch gegen die kurdischen Eliten und verstand sich, im Gegensatz zu nationalistischen kurdischen Bewegungen, als revolutionäre kurdische Partei, die eine Überwindung des Kapitalismus und Imperialismus anstrebt.
Im Laufe der Jahrzehnte gelangte die Partei zunehmend zu der Auffassung, dass ein Nationalstaat in diesem Kampf keine Lösung ist, sondern eine Institution, die noch mehr Unterdrückung, Ausgrenzung und Zerstörung hervorbringt. Insbesondere vor dem Hintergrund des Zerfalls der Sowjetunion sowie enormer staatlicher Gewalt und Militarisierung in Kurdistan in den 1980er und 1990er Jahren wurde die Frage nach der Bedeutung von Staat und Macht in der PKK neu diskutiert.
Der seit 1999 auf der Gefängnisinsel İmralı inhaftierte Mitgründer und Vorsitzender der PKK, Abdullah Öcalan, begründete in seinen Gefängnisschriften das Modell des demokratischen Konföderalismus – ein Gesellschaftskonzept, das die nicht-staatliche Selbstverwaltung der Gesellschaft zum Ziel hat. Nach einer Reorganisierungsphase, bei der insbesondere die Frauenbewegung eine Rolle spielte, erklärte die Partei 2005 den demokratische Konföderalismus als offizielles Ziel. Seine Grundpfeiler sind Feminismus, Ökologie, solidarische Ökonomie und Basisorganisierung. Befreiung wurde also nicht länger in der Übernahme von Macht und in der Errichtung eines eigenen Staates gesehen. Stattdessen trat die Frage in den Vordergrund, wie die Gesellschaft sich selbst verwalten und vom Kapitalismus und Staat übernommene Strukturen und Mentalitäten aufgeben kann.
Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigt spätestens die Revolution von Rojava/Nordsyrien, die 2012 begann. Im Kontext des Bürgerkriegs vertrieben kurdische Kräfte und die dortige Gesellschaft, die sich bereits in eigenen Rätestrukturen organisiert hatte, die Kräfte des Assad-Regimes und schufen eine Selbstverwaltung nach dem Modell des demokratischen Konföderalismus.
In allen Bereichen des Zusammenlebens, wie Bildung, Gesundheit, Wirtschaft, Infrastruktur oder Selbstverteidigung gibt es dort heute autonome Strukturen und Kommissionen, die, beginnend von der kleinsten Kommune bis hin zur höchsten Ebene der Administration, die Forderungen und Wünsche der Gesellschaft diskutieren und umsetzen sollen. Die Volksversammlungen stehen allen Bewohner*innen offen. Die Selbstverwaltung ist dabei nicht als kurdisches Projekt gedacht, sondern als Modell, das alle in der Region umfasst und einschließt, also auch Araber*innen, Suryoye, Armenier*innen, Êzîd*innen, Alevit*innen und mehr.
Im Zentrum des demokratischen Konföderalismus steht die Bemühung, Politik von unten und im Sinne der Gesellschaft zu gestalten statt entlang staatlicher und kapitalistischer Interessen. Die Grundlage dafür ist eine radikale Überwindung von patriarchalen und kapitalistischen Mentalitäten. Die Bildungsarbeiten beinhalten daher Auseinandersetzungen mit feministischen, ökologischen und antikapitalistischen Theorien und Kämpfen.
Zusätzlich gibt es auf allen Ebenen autonome Frauenstrukturen – sie brechen die tief verwurzelten patriarchalen Verhältnisse auf und dienen als Grundlage für feministische Emanzipation.
Die kurdische Frage wird in der PKK nicht bloß als Frage nationaler Selbstbestimmung behandelt, sondern vermehrt im Zusammenhang globaler Machtverhältnisse gesehen, die es zu überwinden gilt. Ziel ist das Aufbrechen der nationalstaatlichen, militaristischen und kapitalistischen Logik und der Aufbau politischer Basisorganisierung, ohne dabei auf einen Zeitpunkt »nach der Revolution« zu warten.