Erkämpfen, um zu überwinden
Seit jeher ist die »nationale Frage« Anlass für Konflikte in der Linken – das ist nicht verwunderlich, führt sie doch zu einer widersprüchlichen Praxis
Von Pajam Masoumi
Wer nach einer einheitlichen Position zur nationalen Selbstbestimmung innerhalb der Arbeiter*innenbewegung sucht, wird enttäuscht werden. Zwar schrieben Marx und Engels schon im Kommunistischen Manifest »Die Arbeiter haben kein Vaterland«, trotzdem spielten Kommunist*innen vielerorts eine wichtige Rolle für und in Befreiungsbewegungen, die unter anderem einen Nationalstaat zum Ziel hatten. Um zu verstehen, weshalb sich weltweit Kommunist*innen für das Recht auf nationale Selbstbestimmung aussprechen und gleichzeitig die Nation überwinden wollen, bedarf es eines Blicks in die Grundlagen des Marxismus.
Im 19. Jahrhundert erkannte Marx das revolutionäre Potenzial des Bürgertums: Nur der Klasse der Bourgeoisie sei es möglich, die alte europäische Ordnung des Absolutismus und Feudalismus, der Kleinstaaterei und kirchlichen Hegemonie zu überwinden. Basierend auf den Ideen der französischen Revolution, die Nation sei eine Gemeinschaft aus freien Bürgern, entstand der bürgerlich-kapitalistische Nationalstaat.
Für Marx und Engels stand fest, dass die kapitalistische Entwicklung eine notwendige Etappe auf dem Weg zum Sozialismus sei. Dieser lasse sich zunächst in den kapitalistisch am weitesten entwickelten Ländern erkämpfen. Da der Sozialismus jedoch nicht innerhalb eines Staates umsetzbar sei, war das Ziel die Weltrevolution, erkämpft durch das internationale Proletariat.
Anhand von Marx’ Position zur irischen Arbeiter*innenschaft lässt sich veranschaulichen, wie er auf Kolonialismus und nationale Selbstbestimmung blickte: Marx analysierte eine künstlich geschaffene Konkurrenz zwischen dem englischen und dem kolonisierten irischen Proletariat, die Klassendifferenzen vernebele und dazu führe, dass sich das englische Proletariat der nationalen Bourgeoisie, ihrer eigenen Unterdrückerin, näher fühle als den irischen Klassengeschwistern. Mit der Unterstützung des irischen Proletariats könne dagegen eine Einheit der Arbeiter*innenklasse erzielt werden, die den Ir*innen die nationale Befreiung bringen und zugleich der englischen Bourgeoisie Schaden zufügen sollte.
Paternalismus und Selbstbestimmung
Zwar lehnten Marx und Engels den Kolonialismus ab, der Fortschrittsgedanke und die im 19. Jahrhundert verbreiteten kolonialrassistischen Vorurteile machten jedoch auch vor der Arbeiter*innenbewegung nicht Halt. Viele Sozialdemokrat*innen sahen bis ins 20. Jahrhundert hinein im Kolonialismus einen notwendigen Zwischenschritt, der den kolonisierten, »unterentwickelten« Völkern zu kapitalistischer Entwicklung verhelfe und sie ins Weltproletariat eingemeinde – erst dann könnten sie zum Kampf für die klassenlose Gesellschaft beitragen.
Allerdings gab es auch früh Kritik an dieser Position: Rosa Luxemburg argumentierte, dass erst die Kolonisierung die Möglichkeit für den Imperialismus geschaffen habe. Sie lehnte auch jede positive Bezugnahme auf die Nation vehement ab. Entgegen der Sozialistischen Partei Polens stimmte sie etwa gegen die Unabhängigkeit Polens von Russland, mit der Begründung, dies wäre ein historischer Rückschritt. Damit stand sie auch im Widerspruch zu den russischen Genoss*innen.
Lenin und Trotzki nahmen eine taktische Haltung zu nationalen Befreiungskämpfen ein. Wenn es der Weltrevolution dienlich sei, seien sie zu unterstützen.
Nach der Burgfriedenpolitik, also dem sozialdemokratischen Bündnis mit »ihrer« Bourgeoisie im Ersten Weltkrieg, wendete sich Lenin endgültig gegen die Vorstellung, eine kapitalistische Etappe sei notwendig: diese bremse revolutionäre Bewegungen nur aus. Auch Trotzki kritisierte bereits in der 1906 veröffentlichten Schrift »Ergebnisse und Perspektiven« die Etappentheorie und argumentierte, dass die Bourgeoisie der Kolonien in Revolutionen eher dazu neige, sich mit der imperialistischen Bourgeoisie gemein zu machen, während bereits eine verhältnismäßig große Arbeiter*innenklasse existiere. Die bürgerliche Klasse sei in Russland und anderen »unterentwickelten« Ländern historisch zu spät, um noch eine revolutionäre Rolle einzunehmen, wie sie Marx und Engels im 19. Jahrhundert gesehen hatten. Revolutionär sei nur noch die Arbeiter*innenklasse, in Verbindung mit der revolutionären Bauernschaft.
Lenin und Trotzki nahmen auf dieser Grundlage eine taktische Haltung zu nationalen Befreiungskämpfen ein: Ohne das Ziel der Überwindung der Nation aufzugeben, sahen sie dieses – anders als Luxemburg – nur dann als erreichbar, wenn durch die Gewährung nationaler Selbstbestimmung die nationale Frage quasi abgeräumt und so Klasseneinheit herstellbar würde. Lenin unterschied dabei in »unterdrückte» und »unterdrückende« Völker und forderte die Sozialist*innen auf, die unterdrückten Völker, wenn es der Weltrevolution dienlich sei, im Kampf um ihre nationale Selbstbestimmung zu unterstützen.
Mit der Russischen Revolution 1917 und Gründung der Sowjetunion im Dezember 1922 brachen neue Zeiten an. Nun eigenständiger staatlicher Akteur, wurde der erste Arbeiter*innenstaat der Geschichte mit neuen Problemen konfrontiert, etwa dem Umgang mit eigenen Kolonien, die vom Zarenreich übernommen worden waren, sowie der Haltung zur Bauernschaft und Bourgeoisie in den abhängigen Ländern. Ein starkes Signal sollte die noch im November 1917 erlassene »Deklaration der Rechte der Völker Rußlands« aussenden, die den Bewohner*innen des »Völkergefängnisses«, des früheren Russischen Reiches, Selbstbestimmungsrecht sowie das Ende nationaler und religiöser Diskriminierung versprach und den neuen Sowjetstaat als freiwilliges Bündnis beschrieb.
Doch damit war die Sache längst nicht erledigt: Auf dem zweiten Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1920 in Moskau stand die Nationalitäten- und Kolonialfrage im Mittelpunkt. Sie wurde auf Grundlage von Thesen Lenins, die von Manabendra Nath Roy um Ergänzungsthesen erweitert worden waren, diskutiert. Nach einer kontroversen Debatte, die sich vor allem um das Verhältnis zwischen den Kommunist*innen und den Führungen nationaler Befreiungsbewegungen drehte (ak 681 und 691), wurden die »Leitsätze zur Nationalitäten- und Kolonialfrage« ausgearbeitet, die bis 1928 das offizielle Programm der Komintern bilden sollten: »In der ersten Zeit wird die Revolution in den Kolonien keine kommunistische Revolution sein; (…) daraus folgt aber nicht, dass sich die Führung in den Kolonien in den Händen der bürgerlichen Demokraten befinden darf. Im Gegenteil, die proletarischen Parteien müssen eine intensive Propaganda der kommunistischen Ideen betreiben (…).«
Einen Monat später folgte ebenfalls 1920 auf dem »Kongress der Völker des Ostens« in Baku der endgültige Bruch mit dem Paternalismus gegenüber den Kolonien. Die Kolonisierten traten dort erstmals als eigenständige Subjekte auf. Der Großteil der 1.800 Versammelten, darunter 55 Frauen, gehörte Kommunistischen Parteien an, doch auch einige unabhängige Vertreter*innen waren vor Ort, etwa von der Sarekat Islam, einer indonesischen Partei mit islamisch-nationalem Programm, die sich aber dem auf dem zweiten Weltkongress erarbeitetem Programm anschloss. (1)
Nationale Frage und religiöse Freiheit
Die Vertreter*innen der autonomen sozialistischen Sowjetrepublik Turkestan in Zentralasien mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung kritisierten den »unter der Maske des Kommunismus« auftretenden Kolonialismus Russlands, gleichzeitig appellierte der vom Kongress verabschiedete »Aufruf an die Völker des Ostens« an die religiösen Gefühle der Kolonisierten: »Ihr seid unter der grünen Fahne des Propheten marschiert, aber all diese heiligen Kriege waren betrügerisch, sie dienten nur den Interessen eurer eigennützigen Herrscher, und ihr, Bauern und Arbeiter, seid in Sklaverei verblieben nach diesen Kriegen. (…) Jetzt rufen wir euch zum ersten wirklichen heiligen Krieg auf, unter der roten Fahne der Kommunistischen Internationale.«
Hier zeigt sich, dass sich schon früh die nationale mit der religiösen Frage vermischte: Zwar werden beide Phänomene, Religion und Nationalismus, als reaktionäre Verschleierungen der Klassenverhältnisse betrachtet, gleichzeitig wird unter Anhänger*innen dieser Ideologien agitiert. Zugrunde lag die Annahme, dass wenn mit dem großrussischen Chauvinismus gebrochen werde, es den religiösen Eliten schwerer fallen würde, die Klassenunterschiede zu verschleiern und Anhänger*innen um sich zu scharen.
Mit der Stalinisierung im Laufe der 1920er Jahre änderte sich die Haltung gegenüber religiösen Minderheiten in der Sowjetunion ebenso wie jene zur nationalen Selbstbestimmung und zum Nationalstaat überhaupt. Im Kampf gegen die »Linksopposition« um Trotzki hatte Stalin bereits auf antisemitische Verschwörungsideologien zurückgegriffen. Religiösen und ethnischen Gruppen, besonders Jüdinnen und Juden, wurde, egal, ob sie religiös oder nicht religiös waren, nun eine konterrevolutionäre Agenda unterstellt.
Der Nationalstaat, der zuvor in der kommunistischen Weltbewegung als etwas zu Überwindendes galt, wurde mit der stalinistischen Doktrin des »Sozialismus in einem Land« zum schützenswerten Heiligtum.
Der Nationalstaat, der vorher in der kommunistischen Weltbewegung als etwas zu Überwindendes galt, wurde mit der stalinistischen Doktrin des »Sozialismus in einem Land« zum schützenswerten Heiligtum. Das Verhältnis sowohl zu nationalen Minderheiten in der Sowjetunion als auch zu nationalen und revolutionären Befreiungsbewegungen anderswo war fortan den sowjetischen Interessen untergeordnet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte mit großem Tempo die Selbstbefreiung und Nationenbildung der ehemaligen Kolonien ein. Sie verlief regional unterschiedlich, viele, aber nicht alle Länder mussten sich gewaltsam befreien. Vor allem die Nationen, die sich auf dem afrikanischen Kontinent gründeten, standen vor einem Dilemma: Der Nationalstaat ist eine europäische Erfindung. Im Falle Afrikas wurden die Grenzen nicht entlang der Territorien von sich selbst als Völker definierenden Gruppen gezogen, sondern durch die auf der Berliner Afrika-Konferenz 1884 und 1885 beschlossenen kolonialen Grenzen bestimmt. Die bloße Notwendigkeit, am Weltmarkt teilzunehmen, führte viele der neu gegründeten Staaten ausgerechnet zu dem Modell zurück, das sie vorher bekämpft hatten: Auch sie gründeten nun (kapitalistische) Nationalstaaten. Dabei konnten sie zunächst oft auf materielle und politische Unterstützung der Sowjetunion zählen oder zumindest in der Konfrontation zwischen den Blöcken eigene politische Spielräume erobern.
Mit dem Ende des Realsozialismus, das eine Welle regressiven und gewalttätigen Nationalismus’ auslöste, verschwand eine wichtige Säule für die antikolonialen Bewegungen, die weiterhin für nationale Selbstbestimmung stritten. Das Vakuum wurde mancherorts religiös gefüllt, etwa durch die Muslimbruderschaft, die ursprünglich die Vereinigung aller Muslime anstrebte, doch unter den konkreten politischen Bedingungen, wie etwa in Palästina, ihre Haltung zum Nationalismus neu ausrichtete.
Die globale Linke der Gegenwart ist also nicht nur mit aggressivem Nationalismus konfrontiert, heute nimmt dieser oft die Form eines religiösen Nationalismus an. Dennoch ist die Anziehungskraft der Idee nationaler Befreiung weiter groß. Eine Positionsbestimmung, die über ein taktisches Verhältnis auf der Suche nach Verbündeten »gegen den Westen« hinausgeht, scheint weiterhin dringend geboten.
Anmerkung:
1) Die unabhängigen Organisationen waren teilweise dem Kommunismus zugewandt, teilweise bürgerlich. Der Kemalist und Völkermörder Enver Pascha beispielsweise war zugegen, hatte aber kein Rederecht.