Geächtet, dämonisiert, mittellos
Frauen und Queers leben überdurchschnittlich oft prekär – mit individuellen Entscheidungen hat das nichts zu tun
Von Hêlîn Dirik
Das Thema Frauenarmut ist in den letzten Jahrzehnten verstärkt in den Fokus von Armutsdebatten gerückt. Sogar die Vereinten Nationen, staatliche Institutionen und liberale NGOs sprechen vom »weiblichen Gesicht der Armut« und setzen die Bekämpfung von Lohnungleichheiten (Stichwort Gender Pay Gap) und Frauenarmut auf ihre Agenda. Die Feminisierung von Armut steht außer Frage. Dieser seit den 1970er Jahren verwendete Begriff beschreibt die Tatsache, dass Frauen weltweit einen großen Teil der Menschen ausmachen, die in Armut leben und zudem stärkere Armut erleben. Frauen werden oft unter- oder gar nicht bezahlt, sind häufiger prekär und atypisch beschäftigt und besonders von Altersarmut bedroht. Auf der Welt leben mehr als zehn Prozent der Frauen in absoluter Armut, also mit weniger als 2,15 Dollar pro Tag.
Als Gründe werden oft Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, mangelnder Zugang zu Bildung und Ressourcen oder die doppelte Belastung durch unbezahlte Care-Arbeit genannt. Im Internet finden sich zahlreiche Beiträge mit »Tipps« für Frauen, um gegen Altersarmut vorzusorgen und nicht in »Armutsfallen zu tappen« – meist vollkommen entkoppelt von der Frage, warum Frauen überhaupt stärker von Armut und Ausbeutung betroffen sind. Dabei ist die Feminisierung von Armut nicht einfach eine Folge mangelnder individueller Vorsorge oder schlechter finanzieller Entscheidungen. Und punktuelle, individualisierte Maßnahmen, auf die viele NGOs und Institutionen setzen, wie etwa kleinflächige Projekte in einzelnen Ländern, die Frauen empowern und befähigen sollen, sich im Arbeitsmarkt »durchzusetzen«, ändern wenig am zugrundeliegenden Problem.
Das Zusammenspiel globaler kapitalistischer und patriarchaler Verhältnisse drängt Frauen, aber auch queere Menschen, systematisch in Armut, Ausbeutung, Obdachlosigkeit und prekäre Lebenssituationen.
Patriarchale Neuformierung im Frühkapitalismus
Das Zusammenspiel globaler kapitalistischer und patriarchaler Verhältnisse drängt Frauen, aber auch queere Menschen, systematisch in Armut, Ausbeutung, Obdachlosigkeit und prekäre Lebenssituationen. Der Kapitalismus, der oft als Lösung gegen Armut und soziale Probleme gepriesen wird, bringt ebendiese selbst hervor. Nicht nur das: Das herrschende kapitalistische und patriarchale System lebt von der Ausbeutung und Ausgrenzung großer Teile der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang muss Frauenarmut verstanden und analysiert werden.
Das zeigt auch ein Blick in die Geschichte. Viele feministische Historiker*innen, die sich mit der frühen Neuzeit beschäftigen, zum Beispiel Maria Mies oder Silvia Federici, beschreiben einen Zusammenhang zwischen der Unterwerfung und Ausbeutung von Frauen und dem Beginn des Kapitalismus. In diesen Interpretationen fiel die Entstehung des Kapitalismus zusammen mit einer Reihe von Prozessen, in denen Frauen zunehmend in die eheliche Abhängigkeit gezwungen, »hausfrauisiert«, massenhaft verarmt und in die Mittellosigkeit getrieben wurden. Der Beginn des Kapitalismus produzierte nicht nur neues Elend; er markierte auch den Beginn einer Phase der Kriminalisierung von Armut.
Im Zuge der Einhegung von gemeinschaftlich genutztem Land in Europa und der damit einhergehenden gewaltsamen Enteignung der Bauernschaft und ihrer Produktionsmittel wurden Frauen besonders an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die vertriebenen, hablosen Massen strömten in die Städte, gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen oder als verelendete, herumtreibende »Vagabund*innen« ausgegrenzt zu werden. Unter ihnen waren viele Frauen, die dann zu extrem niedrigen Löhnen arbeiten mussten oder versuchten, als »freie« Tänzerinnen oder Prostituierte ihr Überleben zu sichern und dafür kriminalisiert und verfolgt wurden. In einer Zeit, in der die heterosexuelle Ehe und das Leben als Hausfrau zunehmend als der einzig erstrebenswerte Weg für Frauen galten, wurden davon abweichende Handlungen geächtet, dämonisiert und bestraft – dazu zählten Prostitution, ökonomische Unabhängigkeit sowie selbstbestimmte Lebensweisen und außereheliche Beziehungen.
Armut ist im Kapitalismus keine zufällige Abwesenheit von Geld und Ressourcen, sondern das Ergebnis systematischer Vereinzelung, Marginalisierung und Ausbeutung.
Für viele soziale und wirtschaftliche Probleme hielten Frauen, allen voran arme Frauen, zudem als Sündenbock her und wurden zum Beispiel beschuldigt, durch Hexerei Ernteausfälle und Hungersnöte herbeigeführt zu haben. Insgesamt ging die Anfangszeit des Kapitalismus mit einer zunehmenden Disziplinierung und Kontrolle der Gesellschaft einher, die auch im Sinne der Arbeitsethik, Sexualmoral und Selbstzucht war, die in der Reformationszeit des 16. Jahrhundert der Protestantismus propagierte. Die Auswirkungen all dieser Prozesse auf (vor allem arme) Frauen wurde durch die schon bestehenden patriarchalen Strukturen und die Misogynie gestärkt, die in der frühen Neuzeit einen neuen Höhepunkt erreicht hatten.
Neben der Enteignung und Verarmung großer Menschenmassen in der Anfangszeit des Kapitalismus fand also eine Zuspitzung der patriarchalen Ordnung und eine zunehmende Kontrolle von Frauen durch Staat und Kirche statt. Dass das Zusammenwirken von Kapitalismus und Patriarchat die Marginalisierung und Ausbeutung von Frauen hervorbringt und verstärkt, hat sich seitdem nicht geändert. Die prekären Zustände, in denen sich heute weltweit viele Frauen wiederfinden, stehen in historischen Kontinuitäten. Eine wirkliche Bekämpfung von Frauenarmut innerhalb der patriarchalen und kapitalistischen Strukturen ist daher kaum zu erwarten.
Queer und prekär
In der Debatte häufig ausgeklammert, aber eng mit diesen Strukturen verknüpft ist die Tatsache, dass nicht nur Frauen, sondern auch queere Menschen überdurchschnittlich von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Sie sind häufiger in schlecht bezahlten, unsicheren Arbeitsverhältnissen und geraten aufgrund von Ausgrenzung und Diskriminierung eher in Armut. Auch das Altersarmutsrisiko ist bei queeren Menschen in vielen Ländern, darunter auch Deutschland, besonders hoch. Und queere Jugendliche, die von ihren Familien nicht unterstützt werden, landen oft auf der Straße, wenn sie kein unterstützendes Netzwerk um sich haben.
Entgegen der Wahrnehmung, queere Kämpfe und Diskussionen spielten sich überwiegend in elitären und akademischen Räumen ab und hätten mit materiellen Verhältnissen wenig zu tun, sprechen diese Realitäten, aber auch die Geschichte, für etwas anderes. Ein großer Teil der queeren Community lebt prekär und wird marginalisiert. Queere Widerstände sind und waren oft Widerstände gegen staatliche Gewalt, Kapitalismus, Rassismus und Ausbeutung. Der Stonewall-Aufstand, der sich in diesem Monat zum 55. Mal jährt, ist ein historisches Beispiel dafür – queere Menschen, überwiegend obdach- und arbeitslos, arm, Schwarz und of Color, lehnten sich militant gegen Polizeigewalt und Unterdrückung auf.
Das Patriarchat hat nicht nur Frauen unterworfen, sondern auch ein binäres und heteronormatives Geschlechtersystem errichtet, in dem alles verdrängt wird, was sich dem entzieht und widersetzt. Gepaart mit einem kapitalistischen System führt diese Verdrängung dazu, dass queere Menschen in unsicheren Lebenslagen landen. Auch Gewalt – staatliche wie häusliche – ist eng mit Armut verbunden. Patriarchale Gewalt isoliert und schafft Abhängigkeiten, und der Versuch, der Gewalt zu entkommen, kann in Armut und Obdachlosigkeit enden, was ein weiteres Risiko für mehr Gewalt, auf der Straße oder durch den Staat, darstellt.
Die kapitalistische Wirtschaft lebt von Ausbeutung, davon, Menschen prekär und zu niedrigen Löhnen zu beschäftigen. Der Reichtum Weniger geht stets auf Kosten derer, die weiter verarmen und ausgebeutet werden. Armut ist im Kapitalismus keine zufällige Abwesenheit von Geld und Ressourcen, sondern das Ergebnis systematischer Vereinzelung, Marginalisierung und Ausbeutung. In den herrschenden patriarchalen Strukturen trifft das vor allem Frauen und queere Menschen, insbesondere im Globalen Süden, sowie Migrant*innen und Angehörige unterdrückter Minderheiten. Im Zentrum feministischer und queerer Kämpfe sollten der Widerstand und Selbstorganisierung gegen jede Form der Ausbeutung stehen – sie sind von Klassenkämpfen nicht zu trennen.