Gegen den staatlich angeordneten Hürdenwettlauf
Wie verschiedene Formen der Benachteiligung bei Jobcenter und Co. Solidarität erschweren, und was wir dagegen in unserer Praxis als Erwerbsloseninitiative tun
Von BASTA!
Bei der Bundesagentur für Arbeit, den Kindergeldkassen, den Sozialämtern und Jobcentern gibt es zahlreiche Ausschlüsse. Gemeint ist damit weder ein institutionelles Versagen dieser Behörden noch geht es um »Einzelfälle«. Vielmehr ist das ihre reguläre Funktionsweise: The system is not broken, it was built this way!
Die Zahlen belegen es: 56 Prozent der Anspruchsberechtigten haben 2019 kein Hartz IV bezogen. Wie kann das sein – wie funktionieren diese Ausschlüsse? Es kann sein, weil Hürden aufgebaut werden: digitale Hürden, Unerreichbarkeit der Behörden, Antragsannahmeverweigerung, Antragsverschleppung, Beamtendeutsch, willkürliches Anfordern vieler Unterlagen und Belege. Jede*r wird von den Behörden erst einmal des Betrugs verdächtigt. Es besteht der Generalverdacht, dass unrechtmäßig Steuergelder bezogen würden. Also sagen wir allen, die zu uns in die Beratung kommen, dass nicht sie als Einzelne*r das Problem sind, sondern die Behörden »absichtlich versagen«.
Solidarität wird und soll in dem derart gebauten System dadurch verhindert werden, dass Personengruppen unterschiedlich benachteiligt werden. Zum einen nach Herkunft und Staatsangehörigkeit: Der Nationalismus »grenzt aus und trägt die Gewalt gegen jene, die nicht als Teil der Nation betrachtet werden, stets in sich. In seiner Form als nationale Identität schafft er eine falsche Einheit, überdeckt soziale Ungleichheiten und legitimiert auf diese Weise Herrschaft. Er vereint die Eigenen durch Bestimmung und Ablehnung der Anderen«, so hat es Thorsten Mense in seinem Buch »Kritik des Nationalismus« formuliert. Auch andere Spaltungsmechanismen entfalten ihre Wirkung: Weiblich gelesene Personen etwa werden gedemütigt; das ausbeuterische Mann-Frau-Verhältnis ist besonders heikel und spaltend, weil es die intimsten Beziehungen und Abhängigkeiten betrifft. BeHinderte Arbeitslose bleiben so lange allein, bis nicht alle einen gleich erreichbaren Zugang und Ansprüche haben.
Beispiele aus unserer Praxis
Im Folgenden haben wir einige Beispiele gesammelt, die veranschaulichen sollen, wie auf Vereinzelung und Spaltung abzielende Ungleichbehandlungen als (individuelle) Konfliktlagen erscheinen, die miteinander vermeintlich nichts zu tun haben.
Erstens: Kindergeldkassen stellen insbesondere bei Personen aus Rumänien und Bulgarien den Anspruch auf Kindergeld infrage. So wird diese Personengruppe genötigt, in den ersten fünf Jahren jährlich alle Arbeitsverträge und Kündigungen, Kontoauszüge, Meldebescheinigungen, Schulbescheinigungen usw. bei der Kindergeldkasse vorzulegen. Mit deutschem Pass oder der Staatsangehörigkeit eines jener Staaten, die Teil des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) sind, passiert dir das nicht.
Wir sagen allen, die zu uns in die Beratung kommen, dass nicht sie als Einzelne*r das Problem sind, sondern dass die Behörden absichtlich versagen.
Zweitens: Anträge auf Arbeitslosengeld können nur noch online gestellt werden. Dokumente sollen die Betroffenen selbst hochladen, sie sollen sich persönlich online identifizieren, Beratungsgespräche und Nachfragen mit ihnen sollen nur noch telefonisch abgewickelt werden. Viele Menschen mit Sprachbarrieren haben damit Probleme. Menschen mit Sinneseinschränkungen oder psychischen Beeinträchtigungen werden gezielt beHindert, und auch nicht alle »Gesunden«, die arbeitslos werden, haben die Möglichkeit oder die Kompetenz, online Formulare auszufüllen.
Drittens: Nach Paragraph 7 SGB II sind Menschen, »deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt«, vom Bürgergeld ausgeschlossen. Dieser Ausschluss bringt viele Unionsbürger*innen, Geflüchtete mit Aufenthaltsstatus in einem anderen EU-Land und ausländische Studierende im ersten Jahr nach Studienabschluss in arge Bedrängnis und existenzielle Not.
Viertens: Selbst ein schwer zu ertragendes Arbeitsverhältnis zu kündigen, wird von der Bundesagentur für Arbeit und den Jobcentern bestraft. Wie komme ich aus einem ausbeuterischen, der Gesundheit abträglichen Arbeitsverhältnis raus? Das ist eine Dauerfrage in der Beratung, und dass sie uns gestellt wird, ist einerseits ein Vertrauensbeweis. Andererseits müssen viele undokumentiert arbeiten, wegen der Miethöhe, wegen Schulden, auch bei den Jobcentern, und weil das Geld zum Leben einfach nicht reicht.
Fünftens: Eine Alleinerziehende mit zwei Kindern verdient mit ihrer Arbeit als Erzieherin in einer privaten Berliner Kita 1.300 Euro netto im Monat bei einer 30-Stunden-Woche. Sie ist auf Kindergeld und Unterhalt angewiesen. Der Lohn reicht nicht dafür aus, die Reproduktion zu gewährleisten. Befriedend greift der Staat mit Kindergeld und der gesetzlichen Regelung zum Unterhaltsvorschuss ein. Wir helfen ihr, aus dem Job rauszukommen. Aber auch die 1.800 Euro netto in einer städtischen Einrichtung reichen nicht, um das Leben zu bestreiten. Das höchste Armutsrisiko haben Alleinerziehende.
Sechstens: In der offiziellen Version soll Bürgergeld überbrückend sein, und deswegen sei die geringe Höhe schon mal auszuhalten, so die Politiker*innen. Aber es gibt viele, die sehr viel länger als die angeblichen sechs Monate oder 1,5 Jahre von diesem zu niedrigen Satz leben müssen: Langzeitarbeitslose; Menschen in Erziehungszeit (meistens Frauen); teilweise oder vollständig Erwerbsgeminderte und Rentner*innen, die aufgrund ihrer geringen Rente zusätzlich Grundsicherung beziehen müssen. Das zehrt die Substanz auf; da wird die Not über die Jahre immer größer. Hier wird mit dem Finger auf diejenigen gezeigt, die es nicht raus schaffen. Das Gerücht der Eigenverantwortung: Gewinner*innen schaffen es; der Rest hat verloren.
Siebtens: Immer wieder kommen Menschen in die Beratung, die nicht wissen, von was sie sich Essen kaufen oder die Miete zahlen sollen, weil sie gar kein Geld (mehr) bekommen. Immer öfter wirft das Jobcenter ihnen vor, angeblich nicht ausreichend mitgewirkt zu haben. So kann das Jobcenter durch die Hintertür 100 Prozent sanktionieren, obwohl Sanktionsmöglichkeiten durch das Bürgergeld eingeschränkt worden sind. (2)
Nahezu bedingungslose Unterstützung
Das sind Geschichten aus der Beratung, dem Freund*innenkreis und auch aus unserer eigenen Gruppe. Wir haben uns selbstverständlich das Ziel gesetzt, die beschriebenen Spaltungen und Ausschlüsse nicht mitzutragen. Wir suchen nach Lösungen der Existenzsicherung, nach einem Umgang mit Kriminalisierung und Verschuldung. Wir nehmen Menschen ernst, hören zu und versuchen zu empowern, zu organisieren, unsere Ressourcen und Kompetenzen miteinander zu teilen, und bemühen uns, in unterschiedlichen Sprachen und auf verschiedenen Wegen ansprechbar zu sein. Für viele Menschen ist allein die Tatsache, dass sie gehört, verstanden und ernst genommen, ja, einfach menschlich behandelt werden, schon viel wert. Dennoch ist es ein Problem, dass wir als BASTA! oft selbst über Kategorien von »Innen und Außen« stolpern. Wir wollen uns aber nicht damit begnügen, innerhalb einer Blase zu agieren. Das heißt: Allen Personen, die zu uns kommen, hören wir zu, und wir schützen uns gegenseitig.
Auch in der Gruppe sind wir nicht homogen und machen unterschiedliche Erfahrungen, aber wir sorgen uns umeinander, und wenn etwas gelingt, beispielsweise eine Ortsabwesenheit über einen längeren Zeitraum ohne Leistungsentzug zu organisieren, dann freuen wir uns miteinander, weil die Person wieder mehr Verfügungsgewalt über das eigene Leben hat. Wir versuchen aktiv, die Ungleichheit von Personen, die nicht der sogenannten Norm oder der »Mehrheitsgesellschaft« entsprechen, einzudämmen und bestenfalls abzubauen.
Unsere Unterstützung ist nahezu bedingungslos. Bei uns heißt es nicht »Keine Leistung ohne Bereitschaft zur Gegenleistung«, wie das mal der FDP-Politiker Guido Westerwelle gesagt hatte. Es gibt nur eine Bedingung: dass sich bei uns Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung, unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlicher Nationalitäten, unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe, Gesundheit, Sprache, Religion usw. gegenseitig akzeptieren und nicht gegenseitig diskriminieren oder gar übergriffig werden. Im Rahmen des Beratungsprozesses werden geäußerte Ressentiments unterbunden.
Wir reflektieren uns als Individuen und als Gruppe – immer wieder und manchmal auch zu langsam. Wir reflektieren und analysieren die gesellschaftlich hervorgebrachte Ungleichheit und ihre institutionalisierten Auswüchse. Gegen diese organisieren wir uns und unterstützen uns gegenseitig im Kampf dagegen.
Es gibt viele kleine Akte autonomen Handelns, die oft Akte der Notwehr sind. So arbeiten viele undokumentiert, weil die Höhe des Bürgergelds und Mindestlohns den absoluten Mangel bedeuten, aber auch, um sich zu widersetzen. Oder klauen im Supermarkt. Offiziell handelst du kriminell – aber einem Staat gegenüber, der dich ausgrenzt, bist du nicht loyal. Solcher Widerstand geht oft unbemerkt vonstatten. Sichtbarer sind »Arme-Leute«-Proteste, die in kollektiven Widerstand münden können. Sie äußern sich meist spontan, wie z.B. die sogenannten Silvesterkrawalle im Jahr 2022, bei denen Jugendliche, die das ganze Jahr über von staatlichen Stellen kontrolliert und schikaniert wurden, zurückschlugen. Oder es kommt zu Ausrastern im Jobcenter. Das sind alles Aktionen aus Notwehr, die aus einer miesen Lebenslage resultieren. Sie sind wichtig, auch wenn sie oft ohne Perspektive und nicht automatisch emanzipatorisch sind.
Anmerkungen:
1) Das Bündnis AufRecht bestehen, in dem auch wir organisiert sind, hat ein Flugblatt zu den Ausschlüssen des Jobcenters zu Erreichbarkeit verfasst. Auch nach Corona ist das Jobcenter unzugänglich wie eine Festung.
2) Die zu Beginn dieses Jahres eingeführte Möglichkeit, das Bürgergeld ganz zu streichen, wenn Jobangebote nicht angenommen werden und vorher schon eine Leistungsminderung verhängt wurde, ist uns dagegen noch nicht begegnet.