analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|Thema in ak 704: Vereinigte Staaten von Europa?

»Der grüne Deal ist sehr rohstoffintensiv«

Der Politikwissenschaftler Markus Wissen über die Unzulänglichkeiten der Brüsseler EU-Klimapolitik und öko-imperiale Spannungen

Interview: Guido Speckmann

Riesige graue Halle mit der Aufschrift "TESLA", davor reiten fünf Polizist*innen auf Pferden über eine Sandfläche, ein Wasserwerfer steht auch herum.
Für die Begrünung des Kapitalismus, etwa die Produktion von E-Autos wie bei Tesla, sind massenhaft Rohstoffe nötig. Ihre Förderung hinterlässt sogenannte »green sacrifice zones«, vor allem im Globalen Süden. Foto: Jan Ole Arps

Im Europawahlkampf spielt die Klima- und Umweltpolitik bislang keine große Rolle. Dabei lohnt es sich, diese Politikfelder genauer unter die Lupe zu nehmen. Was bringt die ökologische Modernisierung der EU, welche Schattenseiten hat sie, und wie sollten sich Linke dazu verhalten?

Die EU-Kommission unter von der Leyen scheint die Herausforderungen der Klimakrise anzunehmen. Der European Green Deal, abgekürzt EGD, soll Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent machen. Wird das gelingen?

Markus Wissen: Kaum. Der European Green Deal ist ein ökologisches Modernisierungs- und damit ein Wachstumsprogramm. Seine ökologische Wirkung steht und fällt damit, ob es möglich ist, das Wirtschaftswachstum absolut und schnell genug vom Ressourcenverbrauch und den CO2-Emissionen zu entkoppeln. Das heißt, die Wirtschaft wächst, und trotzdem geht die Umweltbelastung zurück, und zwar so schnell, dass das 1,5-Grad-Ziel eingehalten wird. Alle Analysen, selbst die der Europäischen Umweltagentur, zeigen, dass das nicht möglich ist.

Warum?

Das Grundproblem des grünen Deals liegt darin, dass er zwar Dekarbonisierung anstrebt, die grundlegenden Mechanismen kapitalistischen Wirtschaftens – Konkurrenz, Profitorientierung, Akkumulationsimperativ etc. – aber ausspart. Die Frage des Was, des Wie und des Wieviel der Produktion und des Konsums wird gar nicht erst gestellt. Dazu kommt, dass selbst die an sich schon unzureichende ökologische Modernisierung infolge des bei den Europawahlen zu erwartenden Rechtsrucks infrage gestellt werden könnte.

Es wurden ja schon umweltpolitische Vorhaben der EU zurückgenommen, unter anderem wegen der Proteste der Bäuer*innen …

Tatsächlich hat sich der gesellschaftliche Rückenwind für Klimapolitik, der durch das Pariser Klimaabkommen, vor allem aber durch das Erstarken der Klimabewegung entstanden war und von den progressiven Akteuren in den staatlichen Apparaten genutzt werden konnte, in jüngster Zeit merklich abgeschwächt. In Teilen hat er sich sogar gedreht. 

Woran liegt das?

Das liegt wesentlich an den Versäumnissen bei der Umsetzung ökologischer Maßnahmen. Diese wurden nicht mit einem wirksamen Programm gegen soziale Ungleichheit verbunden. Stattdessen entstand der Eindruck, dass diejenigen, die am wenigsten zur ökologischen Krise beigetragen haben, nun für ihre Bewältigung aufkommen sollen. Das gilt im Grundsatz auch für das Landwirtschaftssystem. Über Jahrzehnte wurde es auf eine fossil-industrielle Produktion billiger Lebensmittel hin orientiert. Den Takt gaben die großen Agrar- und Lebensmittelkonzerne vor. Und nun sollen die Höfe, die häufig an der Existenzgrenze wirtschaften, die Ökologisierung dieses Systems stemmen. So lassen sich keine Mehrheiten für eine ökologische Transformation organisieren.

Ich frage auch, weil ihr den EGD in Eurem neuen Buch »Kapitalismus am Limit« als partielle Abkehr von neoliberaler Austeritätspolitik interpretiert. Ist das Ausbremsen des Umweltschutzes wieder ein Schwenk in die andere Richtung?

Der European Green Deal war von Beginn an mit den institutionellen Hinterlassenschaften einer neoliberalen Austeritätspolitik konfrontiert. Er erfordert riesige Investitionen, auch von Seiten des Staates. Diese stoßen aber an wettbewerbs- und vor allem an fiskalpolitische Schranken – Stichwort Schuldenbremse. Insofern ist der EGD nicht nur von dem programmatischen Widerspruch geprägt, dass seine ökologische Wirksamkeit von seiner Wachstumsorientierung unterlaufen zu werden droht, sondern auch von einem institutionellen Widerspruch: Der grüne Deal erfordert einen interventionistischen Staat. Der aber wird von der Austeritätspolitik blockiert, wie sie sich in den Jahrzehnten des Neoliberalismus tief in die europäischen Institutionen eingeschrieben hat. Es ist unklar, wie sich die daraus resultierenden Konflikte entwickeln werden. Denn es sind ja nicht nur die ökologischen Erfordernisse, die staatliche Interventionen verlangen, sondern auch das Bemühen der EU um »strategische Autonomie« in der geopolitischen Konkurrenz mit den USA und vor allem mit China. Und schließlich hat die Austeritätspolitik vor allem im Anschluss an die Wirtschaftskrise 2008ff. die EU in eine massive Legitimationskrise geführt. Der Druck, daran etwas zu verändern, dürfte deshalb kaum nachlassen.

Markus Wissen

hat zusammen mit Ulrich Brand 2017 das Konzept der imperialen Lebensweise geprägt, das längst zum geflügelten Wort in linken Bewegungen geworden ist. Nun haben die beiden ein neues Buch veröffentlicht: »Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven« (oekom, 304 Seiten, 24 EUR). Wissen arbeitet als Professor für Gesellschaftswissenschaften an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Foto: privat

Du hast mit Ulrich Brand das Konzept der »imperialen Lebensweise« geprägt. Kannst du kurz erläutern, was darunter zu verstehen ist?

Mit der imperialen Lebensweise bezeichnen wir Produktions- und Konsummuster, die auf einer ungleichen Aneignung von Natur und Arbeitskraft in einem globalen Maßstab beruhen. Sie sind deshalb nicht verallgemeinerbar, sondern setzen ein »Außen« voraussetzen, auf das sie ihre sozial-ökologischen Kosten verlagern können. Ein Beispiel wäre die industrielle Produktion und der Massenkonsum von billigem Fleisch. Sie sind enorm ressourcen- und emissionsintensiv, die Arbeitsbedingungen in der Fleischproduktion sind katastrophal. Das fleischbasierte Ernährungssystem ist deshalb ein wichtiger Treiber der sozial-ökologischen Krise.

Sind daran die Konsument*innen schuld?

Nicht in erster Linie. Die imperiale Lebensweise wird wesentlich von profitorientierten Unternehmensstrategien und machtvollen Politiken vorangetrieben. Es handelt sich um ein Herrschaftsverhältnis, das aber dort, wo sich sein Nutzen konzentriert, nicht als solches erscheint, sondern in unzähligen Akten des Produzierens, Vermarktens und Konsumierens unsichtbar gemacht wird – etwa in den Waren einer globalen und industriellen Landwirtschaft. Als Resultat von historischen und aktuellen Kämpfen um soziale Teilhabe ist die imperiale Lebensweise in den Strukturen, Kräftekonstellationen, Institutionen und Infrastrukturen und damit auch in den Alltagsverhältnissen kapitalistischer Gesellschaften verankert. Deshalb kann man sich ihr auch nicht einfach entziehen.

Die Frage des Was, des Wie und des Wieviel der Produktion und des Konsums wird in der EU gar nicht erst gestellt.

In Eurem neuen Buch geht ihr unter anderem auch auf die ökologische Modernisierung des Kapitalismus ein. Ihr schreibt: »Die selektive Bearbeitung ihrer Widersprüche trägt vielmehr zur Aufrechterhaltung, gar Ausweitung und Vertiefung der imperialen Lebensweise bei.« Was meint ihr damit mit Blick auf die EU?

Inzwischen zeichnen sich die Widersprüche der imperialen Lebensweise und die Strategien deutlicher ab, mit denen diese politisch zu bearbeiten versucht werden. Eine dieser Strategien ist die grün-kapitalistische. Sie zielt auf eine ökologische Modernisierung der imperialen Lebensweise. Einschlägige Projekte sind etwa der Übergang von der fossilen zur Elektro-Automobilität oder die Dekarbonisierung der Industrie mittels grünen Wasserstoffs. Die EU spielt dabei eine zentrale Rolle: Wichtige programmatische, finanzielle sowie industrie- und forschungspolitische Weichenstellungen werden auf der europäischen Ebene vorgenommen – siehe etwa die Wasserstoffstrategie, die die Produktion von grünem Wasserstoff fördert, oder die »Batterieallianz«, die die Akteure der Batterie-Wertschöpfungskette zusammenbringt und sowohl die Rohstoffversorgung als auch eine eigenständige Batterieproduktion in Europa sichern soll.

Und dabei kommt es zu einem Phänomen, das ihr mit dem Wort »Rohstoffkolonialismus« beschreibt.

Genau, denn bei der Dekarbonisierung und dem Übergang zur Klimaneutralität steht die Reduzierung der CO2-Emissionen im Vordergrund. Das klingt gut, ist aber nur zu hohen sozial-ökologischen Kosten zu haben. Denn es erfordert Infrastrukturen und Material zur Erzeugung erneuerbarer Energien, zur Batterie- und Wasserstoffproduktion. Das heißt, die ökologische Modernisierung unter Wachstumsbedingungen, wie sie der EGD anstrebt, ist enorm rohstoffintensiv. Vor allem die Nachfrage nach metallischen Rohstoffen wird stark ansteigen. Allein der Lithium-Bedarf der EU könnte sich zwischen 2020 und 2030 um das 12-fache, bis 2050 um das 21-fache erhöhen. Die Extraktion der Rohstoffe hinterlässt nicht selten verbrannte Erde. Der spanische Politikwissenschaftler Christos Zografos spricht von »green sacrifice zones« – Regionen, deren Bewohner*innen und deren Natur gleichsam dem Heilsversprechen einer andernorts stattfindenden ökologischen Modernisierung geopfert werden. Viele dieser Regionen befinden sich im Globalen Süden. Die Sicherung der Rohstoffe für einen grünen Kapitalismus beruht also auf kolonialen Ungleichheitsverhältnissen, die sie durch die Rede von Dekarbonisierung und Klimaneutralität gleichzeitig verdunkelt.

Den geopolitischen Kontext hast du schon kurz erwähnt, in eurem Buch sprecht ihr von zunehmenden öko-imperialen Spannungen. Was ist darunter zu verstehen?

Als öko-imperiale Spannungen bezeichnen wir geopolitische und -ökonomische Rivalitäten, insofern sie sich im Kern um ökologische Fragen drehen, vor allem um den Zugang zu Rohstoffen und CO2-Senken. Unser Argument ist, dass öko-imperiale Spannungen in dem Maße zunehmen, wie sich die imperiale Lebensweise im Globalen Norden vertieft und auf den Globalen Süden ausdehnt. Dadurch wird das »Außen«, auf das die imperiale Lebensweise angewiesen ist, um ihre sozial-ökologischen Widersprüche bearbeiten zu können, zunehmend umkämpft. Die EU ist dabei ein wichtiger Player. Ihr Bedarf an Metallen für die ökologische Modernisierung, aber auch ihre nach wie vor viel zu hohen CO2-Emissionen machen sie zu einem internationalen Akteur, der auf Natur und Arbeitskräfte jenseits seines eigenen Territoriums angewiesen ist und dort zunehmend mit anderen etablierten und aufsteigenden kapitalistischen Mächten konkurriert.

Auch die Profiteure der imperialen Lebensweise, wozu ja auch die EU-Bürger*innen gehören, sind nun von der kapitalistischen Naturzerstörung betroffen. Inwiefern?

Nach wie vor sind es Länder und Regionen im Globalen Süden, die am stärksten von der Klimakrise betroffen sind. Man denke nur an die verheerende Flutkatastrophe 2022 in Pakistan. Aber auch im Globalen Norden ist die Klimakrise nicht länger nur ein künftiges Bedrohungsszenario, das für die heute Lebenden nicht direkt, sondern nur vermittelt über die Modellierungen der Klimawissenschaft erfahrbar wäre. Starkregen, Hitzesommer, Dürren und Überflutungen deuten an, dass die Krise zunehmend in den Alltag der Gesellschaften des Globalen Nordens einbricht, und das schon bei einer Erderwärmung von »nur« knapp über einem Grad gegenüber dem vorindustriellen Durchschnitt. Wolfgang Sachs sprach bereits in den 1990er Jahren von einer »Heimkehr der Bedrohungen«. Das gilt heute umso mehr. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich die Klimakrise auch im Globalen Norden sehr ungleich auswirkt, dass ihre Auswirkungen über Klassen- und Geschlechterverhältnisse sowie über Rassifizierungen vermittelt sind. Der migrantische Arbeiter auf dem Bau, der der Hitze ungeschützt ausgesetzt ist, leidet viel stärker als sein deutscher Chef in seinem klimatisierten Büro. Und auch die überwiegend weibliche und oft migrantische Sorgearbeit dürfte umso mehr unter Druck geraten, wie die gesundheitlichen Folgen der Klimakrise auf sie abgewälzt werden.

Besser als Teslas abzubrennen, wäre es, sie gar nicht erst zu produzieren.

Ihr analysiert auch den Aufstieg der Rechten im Kontext der imperialen Lebensweise. Kannst du das erläutern?

Das Projekt der Rechten ist es, die imperiale Lebensweise autoritär und exklusiv zu stabilisieren. Im Prinzip soll alles so bleiben können, wie es ist: der Verbrennungsmotor, der Fleischkonsum, die damit eng verbundene »Petromaskulinität«, um einen Begriff der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Cara Daggett zu nutzen. Um all dies zu bewahren, müssen andere davon ausgeschlossen werden. Entsprechend werden Geflüchtete und Migrant*innen ebenso bekämpft wie diejenigen, die sich für sie einsetzen, die für Klimaschutz oder für die Rechte von queeren Menschen kämpfen.

Würdest du auch die Bäuer*innenproteste hier einordnen?

Nicht ohne Weiteres. Die Bäuer*innen sind überwiegend konservativ, und sicher gibt es auch Rechte unter ihnen. Aber ihre Proteste sind nicht per se rechts, sondern politisch uneindeutig. Das bedeutet auch, dass sich die Linke nicht einfach von ihnen distanzieren und den Rechten das Feld überlassen sollte. Ebenso wie im Fall der Gelbwesten-Proteste in Frankreich sollte sie sich stattdessen einmischen und die ökologische Frage der Landwirtschaft mit guten Arbeitsbedingungen und angemessenen Preisen für qualitativ hochwertige Lebensmittel verbinden. Im Prinzip geht es darum, auch in der Landwirtschaft die ökologische mit der sozialen Frage zu verbinden. Die herrschende Politik versäumt genau dies, und öffnet damit ein Einfallstor für die Rechte mit ihrer anti-ökologischen, letztlich auch gegen die Interessen der Landwirte selbst gerichteten Politik.

Eine Sache muss ich noch ansprechen. Was denkst du über den folgenden Satz: »Jeder Tesla, der brennt, sabotiert die imperiale Lebensweise und zerstört faktisch das immer enger werdende Netz einer lückenlosen smarten Überwachung jeder menschlichen Lebensäußerung.«

Besser als Teslas abzubrennen, wäre es, sie gar nicht erst zu produzieren. Das gilt nicht nur für Teslas, sondern auch für andere Autos. Es gibt einfach zu viele davon. Wenn wir die imperiale Lebensweise überwinden wollen, müssen wir weg von dem autozentrierten Verkehrssystem.

Du weißt, woher der Satz stammt, oder?

Ja, aus dem Bekennerschreiben der Vulkangruppe zum Anschlag auf die Stromversorgung von Tesla.

In diesem spielt Euer Konzept der »imperialen Lebensweise« eine wichtige Rolle. Seid ihr die Stichwortgeber Vulkangruppe?

Wie und in welchen Kontexten unser Konzept verwendet wird, das können wir nicht beeinflussen. Ich halte den Anschlag für falsch. Allerdings gerät in der öffentlichen Empörung über die gewalttätige Aktion der Vulkangruppe das Gewaltverhältnis aus dem Blick, das die Automobilität selbst darstellt und an dem sich auch durch die Elektrifizierung von Autos nichts Grundsätzliches ändert: die desaströsen Arbeitsbedingungen und sozial-ökologischen Folgen der Rohstoffextraktion, die Ausbeutung der Tesla-Arbeiter*innen, die vergegenständlichte Rücksichtslosigkeit von (Elektro-)SUVs, die vielen Toten und Verletzten im Straßenverkehr… Dass all dies als normal hingenommen wird, ist der eigentliche Skandal. Es ist ein Wesensmerkmal der imperialen Lebensweise, auch in ihrer ökologisch modernisierten Variante. Und davon müssen wir wegkommen.

Guido Speckmann

ist Redakteur bei ak.

Unterstütz unsere Arbeit mit einem Abo

Yes, du hast bis zum Ende gelesen! Wenn dir das öfter passiert, dann ist vielleicht ein Abo was für dich? Wir finanzieren unsere Arbeit nahezu komplett durch Abos – so stellen wir sicher, dass wir unabhängig bleiben. Mit einem ak-Jahresabo (ab 58 Euro, Sozialpreis 38 Euro) liest du jeden Monat auf 36 Seiten das wichtigste aus linker Debatte und Praxis weltweit. Du kannst ak mit einem Förderabo untersützen. Probeabo gibt es natürlich auch.

Thema in ak 704: Vereinigte Staaten von Europa?

Mehrere Stacheldrahtkränze in den Europafarben, darüber steht der Satz "Europa muss sterben"
Thema in ak 704: Vereinigte Staaten von Europa?