Intervenieren bis zum Abgrund
In den Hinterhöfen zerbricht die Weltordnung, wie das Beispiel Haiti zeigt
Von Katja Maurer
Die Häfen sind gesperrt. Es kommt seit Wochen kein Diesel mehr ins Land. Wann der Strom und damit auch die Internetverbindungen ausfallen, ist eine Frage der Zeit. Dann wird niemand mehr wissen, was im Land vor sich geht. Eine Verschärfung des Hungers, von dem das Welternährungprogramm (WFP) sieben Stufen kennt und der hier ohnehin endemisch ist, wird erwartet. In der Hauptstadt liegen Leichen. Es wird unerwartet geschossen. Kinder gehen nicht mehr in die Schule. Sie sind genauso geschlossen wie die Universitäten. Nichts funktioniert mehr. Nicht einmal die Polizei. Erwachsene verlassen das Haus nur zum Einkaufen. Es ist ungewiss, ob sie lebend zurückkehren werden. Menschen mit ausländischem Pass retten sich in letzter Minute. Sie werden von ihren Heimatländern mit Hubschraubern auf in internationalen Gewässern liegende Flugzeugträger geflogen und von dort zum nächsten Flughafen verschifft. Auf dem Landweg ist keine Versorgung mehr möglich. Das Nachbarland hat sich durch hohe Mauern abgeschottet. Es kommt auch von hier keine Hilfe. 300.000 Menschen sind aus ihren Wohngebieten vertrieben und leben im Nirgendwo.
Kommt Ihnen das bekannt vor? Denken Sie an Gaza? Nein, es handelt sich nicht um Gaza, sondern um Haiti. Wie Gaza ist das Land eine fernverwaltete No-Go-Zone, die nun, wenn auch aus anderen Gründen, kollabiert. Eines haben Gaza und Haiti gemeinsam: Beide Orte zeigen, dass die Weltordnung an ihren »Rändern« zusammenbricht. An Orten, von denen normalerweise nicht berichtet wird; an Orten, wo die zu überflüssig Gemachten leben.
Die Zuspitzung der Katastrophe in Haiti ist so eklatant, dass sie es sogar in die großen Medien der ganzen Welt schafft. Wenn es wild auftretenden Gangs gelingt, die sich »Taliban« oder wie der nun weltweit bekannte Anführer Jimmy Chérizier »Barbecue« rufen, einen Ministerpräsidenten zu stürzen, dann ist das ein sensationelles Novum. Die Bilder korrespondieren mit den grassierenden Ressentiments und befruchten diese. Bewaffnete Schwarze Männer, die sogar den Statthalter einer Supermacht stürzen können, wecken tiefe Ängste und Vorurteile.
Symptom Ganggewalt
Tatsächlich aber sind die Gangs die Symptomträger und nicht die Ursache der Verheerungen in Haiti. Ihre Bekämpfung wird immer wieder als Sicherheitsproblem aufgerufen, um militärische Interventionen zu begründen. Seit den 2000er Jahren intervenierten unter dem Dach der UNO, aber unter weitgehender Kontrolle und Finanzierung der USA, Truppen in dem Land. Die Gangs werden zur eigentlichen Ursache erklärt. Der Teufelskreis aus Interventionen und wachsender Ganggewalt ist jedoch ein Hinweis, dass dieser Interventionismus, der Teil der Fernverwaltung ist, die konstante Krise nicht zu überwinden vermag und nun offenkundig nicht einmal die Situation einhegen kann. Die Idee, auf diese Weise zum Status Quo zurückkehren zu können, in dem Haiti zwar leidet, aber nicht weiter stört, ist passé und hat in den Abgrund geführt.
Und da befindet sich jetzt Haiti. Allein in den ersten Monaten dieses Jahres sind über 1.200 Menschen ermordet worden. Noch nie so viele in der jüngeren Geschichte Haitis. Von 9.000 Polizist*innen, die das Land, ausgerüstet und ausgebildet von den USA und Kanada besaß, haben ca. Tausend das Land in Richtung USA verlassen. 900 sind laut dem haitianischen Menschenrechtsnetzwerk (RNDDH) noch aktiv im Dienst. Ihr Vertrauen in die Polizeiführung ist zutiefst erschüttert, weil diese, so wird befürchtet, mit bewaffneten Gruppen zusammenarbeitet. Diese weithin als Gangs bezeichneten paramilitärischen Gruppen sind eng mit der politischen Elite des Landes verknüpft.
Bereits unter der 50 Jahre anhaltenden Diktatur von Vater und Sohn Duvalier terrorisierten die Toton Macouts als paramilitärischer Arm der Armee das Land und verfolgten die Opposition aufs Grausamste. Darin unterscheidet sich Haiti übrigens nicht von anderen Diktaturen Lateinamerikas, die Folter und Mord in parastaatlichen Strukturen praktizierten. Mit einer beeindruckenden politischen Intuition äußert Chérizier revolutionäre Slogans auf seinen Pressekonferenzen. Trotzdem darf man sich über seine Verbindung zur herrschenden Kompradoren-Bourgeosie die seit der haitianischen Unabhängigkeit 1804 vom Ausverkauf des Landes lebt, keine Illusionen machen. Chérizier war selbst Polizeioffizier und hat eine Ausbildung in Ecuador genossen hat, bevor er mit G-9 eine Gruppe gründete, die im Auftrag des später ermordeten Präsidenten Jovenel Moïse 2018 ein Massaker mit 70 Toten beging.
Dieses Massaker an einfachen Bewohner*innen des Armenviertels La Saline, in der Hauptstadt Port-au-Prince, bildete den Auftakt eines Zyklus von Gewalt, der alle politischen Institutionen des Landes zerstörte. Damals beendete das Massaker eine der hoffnungsvollsten Aufstandsbewegungen der letzten Jahre in Haiti. Junge Leute in der Diaspora und an vielen Orten in Haiti hatten die Entwendung von Erdbebengeldern aufgedeckt und forderten die juristische Verfolgung. Ein Bericht des Senats, der mittlerweile verschwunden ist wie das gewählte Parlament, hatte die Korruptionsfälle, die weit in die Regierung reichten, dokumentiert. Es hätten Gerichtsprozesse stattfinden können, die ein Zeichen gegen die Straflosigkeit gesetzt hätten. Das von der Chérizier-Truppe durchgeführte Verbrechen in La Saline stand offenkundig in direkter Beziehung zum Präsidenten Jovenel Moïse selbst. Dieser genoss trotz der nachgewiesenen Gang-Verbindung auch danach weiterhin die Unterstützung der USA und der in der mittlerweile aufgelösten Core-Group versammelten internationalen Akteure. Sie bestimmen das Schicksal Haitis politisch und ökonomisch. Mitglieder waren u.a. neben den USA und der UNO, Kanada, Frankreich, Deutschland, die EU.
Henrys Sturz ähnelt der Niederlage der USA und ihrer Verbündeten gegen die Taliban.
Chérizier ist der Anführer des gegenwärtigen paramilitärischen Aufstandes. Ihm ist es gelungen, die bewaffneten Gruppen, zumindest vorerst, angesichts einer neuen geplanten internationalen Polizeimission unter Führung von Kenia zu vereinigen. Sie stürzten Anfang März Ariel Henry, den internationalen Statthalter der Core-Group. Bis zum Schluss hatten die ausländischen Unterstützer an Henry festgehalten. Sein Sturz ähnelt der Niederlage der USA und ihrer Verbündeten gegen die Taliban. Die bewaffneten Gruppen sind nun ein Machtfaktor, an dem man kaum vorbei kann. Aber sie haben monströse Verbrechen begangen. Daran ändert auch Chériziers politischer Instinkt nichts, den er kürzlich erst wieder bewies, als er ankündigte, die Hotels anzugreifen, in denen eine verbrauchte politische Elite erneut eine von außen oktroyierte »Lösung« für Haiti aushandeln wolle. Diese Position genießt, so weit man das beurteilen kann, weithin Unterstützung in der haitianischen Bevölkerung. Das bedeutet aber nicht, dass die bewaffneten Gruppen davon profitieren. Sie sind so verhasst, dass sich in manchen Stadtteilen Selbstverteidigungsgruppen bilden, die sehr rabiat mit echten oder vermeintlichen Gangstern umgehen. Ob die Gangs ein politisches Projekt für Haiti haben, das über seine Gangsterisierung hinaus geht, ist höchst zweifelhaft. Allenfalls eine Neuauflage der Duvalier-Diktatur scheint mit ihnen denkbar.
Faule Deals mit der Opposition
Als Präsident Moïse im Juli 2021 getötet wurde und die internationalen Akteure den nun gestürzten Ariel Henry zum Interims-Ministerpräsidenten ernannten, hatte die haitianische Opposition, bestehend aus zivilgesellschaftlichen Strukturen und verschiedenen politischen Parteien, sich im Montana-Abkommen zusammengetan. Sie legten einen Gegenvorschlag zur Fortsetzung dieser Protektoratslösung vor. Die Gruppen wollten eine haitianische Lösung, die aus einem zweijährigen Übergangsprozess bestehen sollte, der nicht nur Wahlen, sondern auch eine Stärkung der demokratischen Institutionen vorsah, die seit dem Erdbeben 2010 und den politischen Interventionen durch internationale NGOs und zwischenstaatliche Organisationen erheblich geschwächt wurden. Die damalige UN-Sonderbeauftragte für Haiti, die US-Amerikanerin Helen La Lime, tat diesen Vorschlag in einer Weise ab, dass haitianische Intellektuelle wie der Schriftsteller Lyonel Trouillot sie als »offene Rassistin« beschimpften. Auch die damalige EU-Haiti-Beauftragte war an ernsthaften Gesprächen mit den Vertreter*innen des Montana-Abkommens nicht interessiert.
Zweieinhalb Jahre später haben sich nun die karibische Staatengemeinschaft CARICOM, die USA, Kanada und die UNO diesen Vorschlag zu eigen gemacht. Jetzt gibt es einen Übergangsrat, der aus Haitianern (es sind nur Männer) besteht, die in keiner Verbindung zu Gangs stehen und auch keine Korruptionsvorwürfe am Hals haben. Das war eine der Bedingungen, um in den Übergangsrat zu gelangen. Die zweite besteht in der Zustimmung zur internationalen Polizeimission, deren Zustandekommen allerdings in den Sternen steht. Es fehlt das nötige Geld, und die Frage steht im Raum, was 1.000 kenianische Polizisten, denen im eigenen Land Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden und die kein Französisch geschweige denn die Landessprache Kreol sprechen, gegen 18.000 zum Teil sehr gut bewaffnete Paramilitärs ausrichten sollen.
Doch nun haftet dieser eigentlich haitianischen Lösung der Ruch eines Deals an, der von außen eingefädelt wurde und vor allen Dingen den Interessen der USA, Kanada und der CARICOM-Staaten dient. Ihnen geht es darum, die Situation in Haiti soweit zu stabilisieren, dass keine Geflüchteten kommen. Lieber gibt man eine Million Dollar am Tag für eine internationale Polizeimission aus, als Haiti wirklich auf die Beine zu helfen. Dan Foote, ein US-Diplomat, der als US-Sonderbotschafter für Haiti zurücktrat, nachdem die Biden-Administration beschloss, Tausende in den USA angelangte Haitianer*innen nach Haiti zu deportieren, kritisierte das Abkommen dafür scharf und forderte einen »nationalen Dialog«, um zu einer haitianischen Lösung zu kommen. Damit spricht er die auf der Hand liegende Frage an, wen die im Übergangsrat sitzenden Personen tatsächlich repräsentieren. Das Vertrauen der Haitianer*innen jedenfalls ist gering, gerade weil erneut internationale Interessen über die Haitis gestellt wurden. Die Gefahr, dass die noch letzten glaubwürdigen Politiker*innen in diesem so deutlich von außen gesteuerten Prozess untergehen könnten, ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen.
Was nämlich fehlt, ist eine kritische Aufarbeitung der USA und der UNO über ihren kontinuierlichen von weißem Überlegenheitsdenken geprägten Interventionismus in Haiti und damit eine Reflexion ihrer Verantwortung für die jetzige Katastrophe. Wenn aber die Fehler nicht diskutiert und anerkannt werden, gibt es keine Umkehr, nur ein Weiter-So. Das erste Opfer dieser Haltung ist die haitianische Bevölkerung, deren vollständige Isolation man nun zulässt, und damit eine humanitäre Katastrophe ungeheuren Ausmaßes. Hinzu tritt aber ein weiterer Glaubwürdigkeitsverlust des Westens, der offenkundig nicht mehr in der Lage ist, seine »Ränder« zu verwalten.